Ja, richtig gelesen: Wir wollen canceln! Der Demokratie und Meinungsfreiheit zuliebe. Richtung22, ein Snowflake-Kollektiv, welches Canceln zur Kunstform erhoben hat, antwortet auf Henning Marmullas Kritik an der sogenannten Cancel Culture.
Es droht eine „totalitäre Meinungsdiktatur“. „Political Correctness“ führt zum „Orwellschen Neusprech“. Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr, attackiert von „Anonymen“, die die Grenze zur Illegalität nicht kennen. Durch die „Hypersensibilität und die Befindlichkeiten“ von „neuen sozialen Gruppen“ kehrt das „totalitäre“ System zurück. Das war schon zweimal totalitär. Nein, das sind keine Wortfetzen aus einer Querdenker-Demo, sondern das Vokabular eines forum-Artikels von Henning Marmulla, erschienen in der letzten Ausgabe unter dem Titel „Zwischen Freiheit und Verbot“. Eugeniker Sarrazin wird ebenso in Schutz genommen wie Rassistin Lisa Eckhart und Vergewaltiger Roman Polanski. (Empörung an!) Wie kann der Autor des Artikels – ein mittelalter, weißer, gebildeter Mann – es wagen, den tagtäglichen und tödlichen Rassismus, gegen den die Mitglieder der BLM-Bewegung auf die Straße gehen, als „Befindlichkeiten“ herunterzuspielen?
Voilà. Rhetorisch gesehen ein wunderbarer Anfang für eine Cancel-Kampagne gegen forum. Schnell noch ein paar Fakten rauskramen: Auch 2020 schreiben etwa doppelt so viele Männer wie Frauen für forum. Und Frauen kommen meistens erst in der zweiten Hälfte des Magazins zu Wort. Ertappt!
Der Anfang dieses Texts macht, was Henning Marmulla der Cancel Culture vorwirft. Anstatt sich mit Argumenten auseinanderzusetzen – anstatt überhaupt zu versuchen, eine Position zu verstehen, verkriechen wir uns vor der sachlichen, ergebnisoffenen Debatte, die Marmulla fordert. Anstatt sich mit der intellektuellen Speerspitze des Landes ein argumentatives Tjost zu liefern, bricht Richtung22 die Lanze fürs Canceln. Wir sind immerhin vom Fach und überzeugte Wiederholungstäter*innen.
Kritisieren wir noch oder canceln wir schon?
Richtung22 ist eine begeisterte Kulturkampf-Organisation. Die von Marmulla beschriebenen Schreckensszenarien sind Richtung22-Tagewerk.
Wir haben den Protest gegen Sarrazin in Echternach komplottiert. Wir sind diejenigen, die mit dem Banner „Alte weiße Männer braucht kein Mensch“ am 8. März 2020 auf der Straße alte weiße Männer verletzten. Das einzige Kolonialdenkmal, das wir in Luxemburg ausfindig machen konnten, haben wir mit Bio-Rote-Bete-Saft nachhaltig gecancelt.
Unser erfolgreichstes Canceln richtete sich gegen die RTL.lu-Rubrik „Pin-Up“ des Regierungs- und Unterwäschefotografen Yves Kortum. Frech wie wir sind, ignorierten wir die Pro-Argumente für Sexismus und Objektifizierung, die RTL während Caroline Maarts Sendung Kloertext zur sachlichen Diskussion stellte. Wir waren zwar nicht eingeladen, wären aber vielleicht auch gar nicht gekommen. Unser perfider Plan war es nämlich, der RTL-Direktion den Eindruck zu geben, der Imageschaden durch unsere Mobilisierung könnte schlussendlich teurer sein als der Nutzen dieser Wichsvorlage. Denn Kosten-Nutzen-Analyse ist die Sprache des Kapitalismus, sie ist die Prämisse von Canceln. Hat übrigens geklappt.
Wir trauen uns sogar das, was früher nur totalitäre Institutionen konnten: Wir canceln Kunst und Künstler. Wir verweigern der luxemburgischen Kulturdelegation die Beteiligung an der Expo 2020 in Dubai. Guy Panama Arendt erteilen wir ein Berufsverbot als Staatssekretär für Kultur. In der Schule ersetzen wir Inhalt durch Ideologie – Männer durch Frauen. 50 % der Künstler auf dem Programm der Kunstgeschichtsklassen werden aufgrund ihres Geschlechts gecancelt. Damit sorgen wir dafür, dass Hermann Nitsch in Vergessenheit gerät und sich die Menschen von Morgen nur noch an eine gewisse Frida Kahlo erinnern. Effektivstes Propaganda-Instrument waren selbstgefaltete Broschüren, um Schüler*innen eine Argumentationshilfe zu geben… Moment. „Argumentationshilfe“? Hat sich da in unsere totalitären Cancel-Pläne etwa harmlose Debattenkultur eingeschlichen? Canceln wir noch oder debattieren wir schon?
Tabu- und Gesetzesbruch
Debatten sind schön und gut. Das ist ihr Problem. Kritik ist besser. Was Cancel Culture will, sind Konsequenzen. Henning Marmulla hingegen wünscht sich etwa für den Umgang mit Sklavenhalter-Denkmälern: „Dem Abriss von Monumenten muss ein geregeltes Verfahren vorangehen, in dem alle Positionen gehört werden“. Grundlage müsse das Gesetz sein.
Rosa Parks brach geltendes Recht, als sie mit einer unverschämten Blockade im Bus einem Weißen den Sitzplatz wegcancelte. Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera wagten sich auf der Christopher Street in Bars und stürmten somit entgegen dem Gesetz gegen „Männer in Frauenkleidung“ die Bühne, noch bevor alle Positionen gehört wurden. Die BLM-Proteste richten sich u. a. gegen Statuen. Kriminellerweise nicht gegen Statuen von zertifizierten Diktatoren® (beispielsweise Saddam Hussein), sondern von bedeutenden Sklavenhaltern.
In der Schule haben wir gelernt: Wer in Geschichte nicht aufpasst, wiederholt sie. Aufmerksam notieren wir also: Gesetzesbrüche sind effizienter als Debatten. Es muss also erst etwas passieren – dann können wir reden. Es stellte sich aber heraus: Gesetze brechen will gelernt sein. Wir versuchten es mit Verleumdung, Diffamierung, Beleidigung und Sachbeschädigung.
Um dem Star des Panama-Paper-Skandals seinen Job als Bankenaufsichts-Chef zu canceln, errichteten wir ein Monument, das Claude Marx zum Verwechseln ähnlich sah. Anfangs lief alles nach Plan. Marx erstattete Anzeige wegen Verleumdung. Das Monument wurde noch am selben Tag von der Polizei abgerissen – und zwar ohne Debatte.
Um den Korpsgeist der luxemburgischen Behörden zu canceln, errichteten wir ein Monument, das an den erschossenen Autofahrer in Bonneweg erinnerte. Die Polizei erstattete Anzeige wegen Diffamierung des Polizei-Korps. Uns wurde eine ergebnisoffene Debatte im Verhörzimmer angeboten, unser Monument war da allerdings schon abgerissen.
Um einem Klimawandelleugner seinen Job als Geografielehrer zu canceln, produzierten wir ein Musikvideo, das einen Poster-Boy der Neuen Rechten als xenophob bezeichnete. Fred Keup erstattete Anzeige und verließ seinen Job.
Unsere aussichtsreichste Attacke auf das Gesetz: Um den Nationalfeiertag zu canceln, schrieben wir ein Gedicht mit Kreide vor die Philharmonie. Der Staat verklagte uns. Ohne Debatte spritzte die Feuerwehr unsere Kunst vom Pflaster.
Doch Gericht, Staatsanwaltschaft und Police Grand-Ducale verweigerten uns jedoch schlussendlich die ultimative Anerkennung. Freispruch in jedem der Fälle. Ein perfider Akt um unseren Aktionen den Schwung zu nehmen. Man wollte uns unsichtbar machen, mundtot. Man wollte uns canceln.
Diese verfluchte Cancel Culture !!!!1!1!111!!!!!
Unsere Statuen wurden abgerissen im Namen der totalitären Meinungsdiktatur, die diese unsägliche Cancel Culture mit sich bringt. Verlangten nicht hypersensible und in ihren Befindlichkeiten verletzte „Politiker*innen“ bereits angesichts unseres Theaterstücks Lëtzebuerg, du hannerhältegt Stéck Schäiss, dass unsere Plakate verschwinden und unsere „Finanzierung“ gestrichen werde? Wurden nicht hunderte unserer Sticker in der Stadt gecancelt, weshalb wir tausende nachdrucken mussten? Mobilisieren sich nicht bereits die links-grün-versifften neuen sozialen Gruppen gegen Richtung22, um uns zum Schweigen zu bringen? Innerhalb des Frauentags-Bündnisses JIF wurde bereits über eine öffentliche Distanzierung von Richtung22 diskutiert, weil wir alte weiße Männer verletzt hatten. Wir dachten, alte weiße Männer haben nichts zu verlieren als ihre Privilegien.
Sogar das Gesicht des luxemburgischen BLM-Ablegers Lëtz Rise Up versuchte Richtung22 anzuprangern, mundtot zu machen, zu verbieten und zum Einknicken zu bringen. Hätten wir einen Job, es hätte ihn gekostet. Sandrine Gashonga, die sich schon erdreistet hatte, im linken Hetzblatt forum den ikonischen Serienvergewaltiger Roman Polanski zu canceln, prangerte Richtung22 öffentlich an. Wir hatten uns sachlich an einem Kolonialdenkmal in Käerjeng zu schaffen gemacht und strebten eine Debatte mit offenem Ausgang über das Gemetzel an Millionen Kongolesen an.
Hätten wir damals schon das Wort „Cancel Culture“ gekannt (wäre Marmulla ein bisschen schneller mit seinem Artikel gewesen), hätten wir uns nicht inhaltlich mit der Kritik von Gashonga befassen müssen. Wir hätten Cancel Culture gerufen. Uns auf unser Recht auf Meinungsfreiheit berufen. Die Unterstützung vieler alter weißer Männer wäre uns sicher gewesen. Es hätte sich schnell eine Expertenrunde zusammengefunden, die sich dem Thema der Meinungsfreiheit anlässlich einer Podiumsdiskussion gewidmet hätte. Das Thema des Unsichtbarmachens von Betroffenen wäre unter den Tisch gefallen. Da hätten wir uns eine Menge Arbeit und Erkenntnisse gespart. Hätte, hätte, Fahrradkette – wir waren jung und naiv und beschäftigten uns mit der Kritik unserer Cancelerin.
Richtung22 drängt sich als (fast) ausschließlich weiße Gruppe in den Vordergrund und nimmt dadurch Organisationen von Betroffenen Sichtbarkeit. Der Diskurs über Kolonialverbrechen bekommt das Framing einer abstrakt-intellektuellen Historiker*innen-Diskussion. So wurde verhindert, dass das Thema in der Mitte der Gesellschaft an Bedeutung gewinnt. Der gesellschaftliche Umgang mit diesem Erbe ist ein Zeichen für die tiefe Verwurzelung von strukturellem Rassismus. Ein Neu-Besetzen des Diskurses, durch die Nachfahren und Betroffenen, wird jedoch dringend benötigt – und es wäre erstmals möglich. Wir müssen vor der eigenen Tür canceln – das tut weh. Ist aber notwendig, um sich seiner eigenen Privilegien bewusst zu werden und führte in der Konsequenz zu einer sehr positiven Veränderung: Zur Zeit bereiten wir mit Lëtz Rise Up zusammen ein Projekt vor. „Kritik ist kostenloser Unterricht“ (Kübra Gümüşay). Wir wurden bei lebendigem Leib gecancelt, und doch leben wir noch – hä? Moment mal, kann es sein, dass wir einfach nur kritisiert wurden? Aber wieso fühlt sich das so neu an?
Kritisiert werden – Neuland für uns alle
Irgendwas muss doch anders sein. Zu bedeutend ist dieses dumme Gefühl in der Magengrube, dass es sich bei rezenten Protesten um eine neue Dimension handelt. Es ist gut, sich von Gefühlen leiten zu lassen, also schauen wir mal genauer hin. Was ist neu?
Erstmals seit dem Ende staatlicher Zensur stehen diejenigen Berufszweige, Institutionen und Menschen im Fokus von Kritik, deren Freiheit lange Zeit nicht selbstverständlich war und hart erkämpft werden musste. Kulturinstitutionen, Künstler*innen und Intellektuelle im Generellen, Autor*innen, Journalist*innen und Professor*innen: Ist es nicht ein wichtiger Reflex, dass hier direkt die Alarmglocken klingeln, wenn sich wütende Gruppen zusammenziehen und einen Boykott fordern?
Neu ist auch, dass Proteste wesentlich feinfühliger geworden sind. Doch was als „Hypersensibilität“ verschrien wird, ist nichts anderes als eine in sich stimmige Konsequenz. Es geht nicht mehr nur um den Rassismus einiger Springerstiefel tragender Ewiggestriger. Es geht nicht mehr nur um den Sexismus von religiösen Fanatiker*innen. Es geht um das System Rassismus und das System Sexismus. Es geht bei Protesten wie Me too und Black Lives Matter um eine Wurzelbehandlung, die bei uns allen ansetzt.
Neu ist also, dass diejenigen, die sich selbst als Speerspitze der Meinungsfreiheit sehen, für ihre Meinung Verantwortung übernehmen und die Konsequenzen tragen müssten – und dass nicht gegenüber einer staatlichen Struktur, sondern einer breiter und diverser werdenden Öffentlichkeit gegenüber. Deshalb aber eine Rückkehr der Zensur zu befürchten, ist irreführend. Wer auf ablenkende Diskussionen, wie eine vermeintliche Cancel Culture, umschwenkt, um nicht auf Kritik eingehen zu müssen, verpasst eine Chance.
Beeindruckende Beispiele haben die Me too-Proteste hervorgebracht. Neu war das Erstaunen in den Gesichtern von Hollywood-Stars, dass sie selbst und ihr Verhalten in Kritik geraten können. Und genau dieses Erstaunen erleben viele, die sich selbst als Intellektuelle verstehen, jetzt, wenn auf einmal ihre eigene Weltsicht, ihr Verhalten oder ihr liebstes Kinderbuch unter Verdacht gerät, auf diskriminierenden oder auch rassistischen Füßen zu stehen.
Ja, auch Universalist*innen haben Privilegien, und es kann von ihnen gefordert werden, sich dessen bewusst zu werden. Auch Kulturhäuser treffen Entscheidungen, die Gegenstand von breiten Diskussionen werden können. Auch Künstler*innen, Autor*innen und Feuilletonist*innen können Schwellen übertreten und untragbar werden – und dass zur Feststellung dieser Untragbarkeit nicht mehr nur die Meinung alter, weißer Männer in zivilisierten Debatten zählt, ist ein bedeutender Schritt für die Demokratie.
Niemand schränkt die Meinung oder die Kunst ein – sobald Meinung und Kunst den öffentlichen Raum betreten, werden sie Gegenstand öffentlicher Diskussionen, sie können kritisiert werden, es kann gegen sie protestiert werden, und es kann von Institutionen gefordert werden, sich von diesen Meinungen und dieser Kunst zu distanzieren.
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