Zeit zum Abspecken

Epilog zur Beitragsserie über die Geschichte der Europäischen Volkspartei (EVP)1

Nach den Europawahlen vom 26. Mai 2019 stellt die EVP mit 182 von 751 Abgeordneten wie gewohnt die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament. Doch mit dem Verlust von 34 Mandaten musste sie erneut erheblich Federn lassen. Schon 2014 hatte sie unter Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker ein Minus von 53 Sitzen eingefahren. Wirklich aussagekräftig in diesem Zusammenhang ist der Anteil der EVP-Mandate an der Gesamtzahl der Abgeordnetensitze im Straßburger Parlament.2 Mit 24,23% liegt die Catch-all-EVP von 2019 (die „Machtmaschine“) unter den 26,10% der rein christdemokratischen EVP von 1979 (die „Glaubensgemeinschaft“). Von 1999 bis 2009 hatte der Parteienbund mit seiner Strategie der ideologischen Beliebigkeit und der Aufnahme immer neuer, zum Teil fragwürdiger Mitgliedsparteien aus dem Mitte-rechts-Spektrum – manche mit offener Flanke zum äußerst rechten Rand – weit höhere Gipfel jenseits der 36-Prozent-Marke erklimmen können. Das legitimierte die EVP zur zeitweise hegemonialen Besetzung der Spitzenämter und einer Fülle gutdotierter Prestigepöstchen im EU-Apparat.

Aus und vorbei! Die großen Volksparteien, Sozialdemokraten inklusive, erodieren rasant, auch auf EU-Ebene. Ihre Machtverliebtheit, ihre Schwerfälligkeit, ihre überlebten Rituale, ihre offenkundigen Kompetenzdefizite in neuen Problemfeldern lassen sie wie Dinosaurier des 20. Jahrhunderts aussehen.

Frage: Wie viele Sitze im Europäischen Parlament hätte die EVP-Fraktion, sofern diese, wie in den Siebzigern, nur Politiker aus dem christlich-demokratischen und christlich-sozialen Stadel in ihren Reihen zählte? Also eine Art gefälliger Mix aus Propheten und Pragmatikern, kühner Vision und versierter Handwerkskunst, Begeisterung für die großen Entwürfe der Zukunft und Gespür für die kleinen Sorgen der Leute. Eine EVP, die ohne Wenn und Aber für ein föderales und regionales Europa einstünde, für ein transformiertes „rheinisches“ Modell der Marktwirtschaft mit vielen sanften Adjektiven, für die Würde der Person, für Chancengleichheit, Verteilungsgerechtigkeit, Klima- und Artenschutz. Eine EVP ohne Agro-, Atom-, Automobil-, Banken-, Chemie-, Kohle-, Öl- und Pharmalobby. Ohne Balkan-Nationalisten und Franco-Nostalgiker. Ohne Orbán, Berlusconi, Sarkozy und all ihre kapriziösen Zauberlehrlinge. Mit viel Schwarz-Grün-Orange und null Türkis.

Nun ja, eine solche EVP käme im Europaparlament auf nur noch knapp die Hälfte ihres aktuellen Sitzanteils (und dem von 1979). Doch hätte sie, anders als heute, eine veritable, unverwechselbare Daseinsberechtigung. Als weltanschaulich kohärente und programmatisch geschlossene Formation, die nicht auf pure Machtausübung fixiert wäre, sondern eine authentische und geradlinige Gesinnung verkörperte, wäre Schluss mit der chronischen Selbstblockade (Stichworte europäischer Mindestlohn, europäische Arbeitslosenversicherung u.a.m.), dem leeren Wortgeklingel und dem indiskutablen Gehabe prominenter Würdenträger. In der Position – und mit der Geisteshaltung – einer ebenbürtigen, also „normalen“ Partei würde sie vermutlich sympathischer wahrgenommen werden und könnte so unbefangener für Konsensbildung und alternierende Mehrheiten in Sachfragen werben.

Auf welcher Seite stehst du?

Mal abgesehen von solchen Gewissheiten muss die Christdemokratie – bzw. was davon übrig bleibt – in diesem 21. Jahrhundert, das so vollkommen anders ist als die von ihr mitgeprägte Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts, eine frische Weichenstellung vornehmen und entscheiden, auf welcher Seite der Geschichte sie im endgültig angebrochenen Zeitalter des Anthropozän stehen will. Optiert sie für ökologische Transformation oder produktivistisches „Weiter so“? Sinnstiftende Begrenzung oder Ex-und-hopp-Maßlosigkeit? Solidarisches Zusammenstehen oder zerstörerisches Jeder-für-sich?

Alldem mag man abwinkend entgegenhalten, dass besagtes Terrain seit langem erfolgreich von den Grünen besetzt und für christdemokratische Parteien nicht profitabel sei. Doch in welcher Sparte außer dem ziemlich antiquierten Staat-Kirche-Konflikt können letztere denn mit Alleinstellungsmerkmalen und Exklusivkompetenz punkten? Und warum, in Gottes Namen, sollte man den Grünen die Charge zur Bewahrung des Planeten vor der drohenden Apokalypse allein überlassen? Wer als politisch Verantwortlicher in der existenziellsten aller Fragen so räsoniert, hat das Gift des Finanzkapitalismus mit seinen utilitaristischen Denkschemata schon verinnerlicht und auf die Ebene plumper Wahltaktik umdekliniert.

Übrigens mit dramatischen Folgen für die eigene politische Karriere, was daran ersichtlich wird, dass ganze Heerscharen wertkonservativer christsozialer Stammwähler – und das nicht nur in Baden-Württemberg, Bayern, Belgien und Luxemburg – mittlerweile zu den Öko-Parteien gewechselt sind. Das verwundert nicht, haben diese doch unlängst einige zentrale Begriffe aus der christlichen Sozialethik in ihr Vokabular übernommen. Obwohl der direkte Bezug zum kirchlichen Fundus in der Regel nicht erwähnt wird, kommen Termini wie „Subsidiarität“ und „Solidarität“, insbesondere aber das „Gemeinwohl“ den neuen Grünen mit Leichtigkeit über die Lippen. In der Programmatik spielt es gar die Rolle einer tragenden Säule, indem sämtliche politischen Entscheidungen künftig auf ihre „Gemeinwohlverträglichkeit“ überprüft werden sollen.

Das ist zum einen innovativ, zum anderen auch weitaus anspruchsvoller und ausgereifter, als es im christdemokratischen Jargon der Fall ist, wo intellektuelle Trägheit dazu geführt hat, dass Gemeinwohl gewissermaßen als simple mathematische Summe – bzw. Schnittmenge – sämtlicher (ökonomischer) Partikularinteressen innerhalb der Gesellschaft definiert wird.

Ist der Papst ein Grüner?

In seiner am 18. Juni 2015 veröffentlichten Enzyklika Laudato si’ spricht Papst Franziskus „Über die Sorge für das gemeinsame Haus“. In diesem epochalen Text mit politischer Sprengkraft redet der Papst Tacheles in Sachen Umwelt- und Klimaschutz. Ja, er transzendiert den Begriff der Ökologie förmlich, verleiht ihm eine zusätzliche Dimension, indem er ihm das Attribut „ganzheitlich“ (écologie intégrale) voranstellt.3

Mit Laudato si’ wendet sich Franziskus in guter postkonziliarer Tradition nicht nur an die römisch-katholische Kirche, sondern „an alle Menschen guten Willens“, Christen und Nichtchristen, Gläubige und Nichtgläubige. Damit erhebt er zugleich den Anspruch der Universalität. Womit die bang gestellte Frage, ob der Papst denn nun ein Grüner sei (Parteimitglied, Sympathisant oder gar Wähler), vollkommen zweitrangig wird. Die Kirche erwartet sich von sämtlichen politischen Akteuren, darunter der EVP, dass sie die monumentalen Herausforderungen der ökologischen Transformation ernst nehmen und mit aller Kraft an deren Bewältigung arbeiten. Entsprechend schließt Franziskus auch die Christdemokraten in seinen Appell ein, die sich diesem umso weniger mit fadenscheinigen Argumenten entziehen können, als sie das „C“, also die Referenz auf die christliche Soziallehre, im Firmenschild führen.

Welche spezifischen Aufgaben kann die Christdemokratie auf dieser „Achse des Guten“ besser wahrnehmen als andere? Erinnern wir noch einmal an den berühmten Satz, den das kollektive Gedächtnis dem Franzosen Georges Bidault (1899-1983) zuschreibt: „Siéger au centre et faire avec des électeurs de droite une politique de gauche“. Will heißen: Die Christdemokraten müssen sich um die Skeptiker und Zauderer, die Behäbigen und Ängstlichen kümmern. Um all jene, die nicht mit grüner Pädagogik, blauem Entertainment oder roten Kampfparolen zu erreichen sind, dafür aber allzu gerne riskieren, rechten Phrasendreschern und den Epigonen des Donald Trump auf den Leim zu gehen und so auf der falschen Seite der Geschichte zu landen. Gleichsam wie gute Hirten sollten die Christdemokraten sie bei der Hand nehmen, sie dort abholen, wo sie gerade stehen und sie mit Überzeugungskraft, Geduld und starken Nerven an das bessere Ufer führen.

Gelingt dies nicht, droht in absehbarer Zeit ein neuer Weltenbrand. Dann nämlich, wenn Abermillionen Klimaflüchtlinge zur größten Völkerwanderung aller Zeiten aufbrechen4, der reaktive Diskurs mit Ressentiments aufgeladen und das Abschlachten vermeintlicher Sündenböcke5 mal wieder zum Patentrezept erhoben wird.

  1. Pierre Lorang, „Von der Glaubensgemeinschaft zur Machtmaschine. Wie die Europäische Volkspartei immer größer und mächtiger wurde und warum sie heute vor Kraft kaum noch laufen kann“ (Teil 1: „Die konservative Frage“, in: forum 395, Mai 2019, S. 12-16; Teil 2: „Der große Umbau“, in: forum 396, Juni 2019, S. 10-16; Teil 3: „Die Eroberung des Ostens“, in: forum 397, Juli 2019, S. 19-24).
  2. Evolution der Sitzstärke der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament seit der ersten Direktwahl: 1979: 26,10% (107 von 410 Sitzen); 1984: 25,35% (110/434); 1989: 23,36% (121/518); 1994: 27,69% (157/567); 1999: 37,22% (233/626); 2004: 36,61% (268/732); 2009: 36,01% (265/736); 2014: 29,43% (221/751); 2019: 24,23% (182/751).
  3. Mit dem Konzept der „écologie intégrale“ erinnert Laudato si’ an das Standardwerk Humanisme intégral von Jacques Maritain (1936).
  4. Der Weltklimarat IPCC rechnet bei einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter aufgrund der wahrscheinlichen Erderwärmung von zwei Grad Celsius bis 2100 mit 280 Millionen Klimaflüchtlingen.
  5. Vgl. die mimetische Theorie des christlichen französischen Kulturanthropologen René Girard (1923-2015).

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