- Zeit
Zeiterleben und Zeitgefühl bei an Demenz erkrankten Personen
Was heißt im „Hier und Jetzt“?
Lesezeit: 7 Minuten
In einer vertiefenden Betrachtung zum Zeiterleben und Zeitgefühl lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie Menschen mit Demenz Zeit erleben. Doch zunächst die Klärung, was der Begriff der Demenz bedeutet und was der Stand der Forschung ist.
Was ist Demenz?
Demenz ist der Oberbegriff für eine Reihe von Krankheiten, die durch Gedächtnisverlust gekennzeichnet sind und mit Einschränkungen einhergehen, die Aktivitäten des täglichen Lebens zu meistern. Beispielsweise haben Menschen mit Demenz oft Schwierigkeiten, für sich selbst zu sorgen oder finanzielle Angelegenheiten zu regeln. Normalerweise zeigt sich Demenz zunächst durch ein Unvermögen, sich an kürzlich zurückliegende Ereignisse zu erinnern. Mit dem Fortschreiten der Krankheit werden die Gedächtnisstörungen stärker und es kommen oft und in unterschiedlichem Ausmaß Probleme der psychischen und physischen Gesundheit hinzu. Eine der wesentlichen Erkenntnisse der letzten Jahre ist, dass das Demenzrisiko zu einem gewissen Teil – aber leider nicht vollständig – durch den Lebensstil beeinflusst werden kann, vor allem durch intensive Bewegung, Ernährungsumstellung und Entspannungsverfahren.1 Beispielsweise sollte man kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Bluthochdruck behandeln und physisch und sozial aktiv bleiben.2
Ist Demenz behandelbar?
Es gibt mittlerweile die ersten Medikamente gegen Demenz, die kognitiven Abbau verlangsamen und die Aktivitäten des täglichen Lebens besser bewältigen lassen können. Allerdings sind diese nur in wenigen Ländern zugelassen; zudem muss große medizinische Infrastruktur verfügbar sein, damit diese Medikamente verabreicht und die Betroffenen regelmäßig auf Nebenwirkungen untersucht werden können. Außerdem sind nur wenige an Demenz erkrankte Menschen eligibel für diese Medikamente, das heißt nur wenige Menschen haben eine Form der Demenz mit den Charakteristika, für welche sich die Medikamente wirksam gezeigt haben, und die daher für eine Behandlung in Frage kommen. Besonders für Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind derzeit keine wirksamen Medikamente verfügbar. Dies wird von Alzheimer-Organisationen und Betroffenen als eine wichtige Versorgungslücke gesehen, die mit großen Anstrengungen geschlossen werden muss.3
Wer ist von Demenz betroffen?
Der wichtigste Risikofaktor für Demenz ist das chronologische Alter: Während nur 1 bis 2 von 100 Menschen in ihren 60ern von Demenz betroffen sind, steigt die Rate Betroffener mit dem Alter stark an. Laut dem Welt Alzheimer Report 2015 sind, je nach Studie, bei Menschen in ihren 80ern ungefähr 20 von 100 von Demenz betroffen und in ihren 90ern sogar 30 bis 40 von 100. Durch die Gedächtnisstörungen, bei denen sich Betroffene in fortgeschrittenen Stadien nicht mehr an den Ehepartner oder die Kinder erinnern können, hat das Umfeld oft das Gefühl, den Betroffenen zu verlieren, obwohl er oder sie noch lebt. Wir sprechen daher oft von Demenz als einer Krankheit, die nicht nur die Person selbst, sondern auch ihre Familien und Freunde stark betrifft.4 In Luxemburg dienen das InfoZenter Demenz und die Strukturen der Association Luxembourg Alzheimer ASBL (ALA) als wichtige Anlaufstellen, sich über Demenz zu informieren bzw. Strukturen, um Pflege bei Demenz zu erhalten.
Bemerken Menschen mit Demenz, wie die Zeit vergeht?
Wichtige Kriterien bei der Erfassung der kognitiven Fähigkeiten und für die Diagnose einer Demenz sind die örtliche, zeitliche und personenbezogene Orientierung. Örtliche Orientierung bezeichnet das Wissen darüber, wo wir sind. Mit der zeitlichen Orientierung werden Fragen erfasst, welcher Tag im Monat, welcher Wochentag, Monat, welche Jahreszeit und welches Jahr es gerade ist. Die personenbezogene Orientierung ist gekennzeichnet dadurch, dass wir wissen, wie wir heißen und welche sozialen Rollen, zum Beispiel Mutter oder Vater, Ehepartner, Kind, unser Beruf usw. wir innehaben oder früher innehatten. All dieses Wissen ist bei Demenz zumindest zeitweise stark eingeschränkt. Bei manchen Formen der Demenz, bei denen Symptome fluktuieren, kann vorübergehend räumliche, zeitliche oder personenbezogene Orientierung wieder da sein und wir sprechen dann von luziden Momenten. Zur Enttäuschung der Familie und Freunde sind diese Momente leider oft sehr schnell wieder vorbei.
Wir alle haben manchmal einen kurzen Moment der Desorientierung, dass wir zum Beispiel den exakten Tag im Monat nicht direkt erinnern. Allerdings dürfen diese kurzen Momente der Desorientierung nicht unterschätzt werden, gerade wenn sie häufiger vorkommen, da sie mit einem erhöhten Risiko für Demenz verbunden sind.5 Bei Unsicherheiten sollte man beim Hausarzt oder der Hausärztin diese Sorgen ansprechen und ggf. einen Termin beim Neurologen oder der Neurologin zur Abklärung ausmachen.

Der Hauptbahnhof Luxemburg um 1963 und heute in einem Bild.
© Photothèque de la Ville de Luxembourg, Edouard Kutter & Philippe Reuter / forum
Was bewirkt die fehlende zeitliche Orientierung?
Sicherlich gibt es große Unterschiede im Zeiterleben auch bei Menschen mit Demenz. Alle drei Kriterien der Orientierung sind wesentlich, um für uns zu sorgen und unseren Alltag zu regeln. Gerade in der zwischenmenschlichen Interaktion sind aber zeitliche Informationen sicherlich komplexer als Informationen zu Raum und zur Person: Man denke nur an die verschiedenen Zeitachsen eines Tages, einer Woche, eines Monats, vom Wechsel der Jahreszeiten, Jahre oder sogar der Jahrzehnte, auf denen wir Abläufe und Ereignisse planen oder erinnern. Damit ist die zeitliche Orientierung sicherlich die Dimension, auf der das Umfeld die gravierendsten Veränderungen feststellt, da gerade Informationen zu wiederkehrenden Tagesabläufen immer wieder neu gegeben werden müssen. Eine Studie aus Japan zeigte, dass die zeitliche Orientierung bei Menschen mit Demenz in einer Tagespflegeeinrichtung am Nachmittag besser war als am Vormittag.6 Daher könnte man Tagespunkte, bei denen Menschen mit Demenz idealerweise besser orientiert sind, zum Beispiel für einen Besuch der Familie, besser für den Nachmittag statt für den Vormittag planen. Umgekehrt wären kleine Orientierungshilfen vielleicht am Vormittag hilfreicher und sinnvoller; dazu kommen wir gleich.
Können wir Menschen mit Demenz helfen, sich besser zu orientieren?
Die fehlende zeitliche Orientierung führt dazu, dass zeitliche Strukturen im Alltag – Mahlzeiten, der Wechsel der Bezugspersonen, Schlaf- und Wachzeiten – nur ungenügend in der Erinnerung verankert werden. Im Umgang mit Menschen mit Demenz stellt man dann fest, dass man sehr oft an vergangene Tagespunkte erinnern oder bevorliegende Tagespunkte nennen muss, um die zeitliche Orientierung zumindest kurzfristig wiederherzustellen. Ein guter Anhaltspunkt im Umgang mit Menschen mit Demenz ist es aber, Unsicherheiten und Verwirrung nicht zu verstärken. Daher sollte man nicht zu eindringlich die zeitliche Orientierung erfragen. Im Gegenteil ist es bei noch nicht stark eingeschränkten Menschen mit Demenz besser, im Gespräch unterschwellig Anhaltspunkte zu liefern, die die Orientierung stärken. Dann kann man zum Beispiel beiläufig erwähnen, welcher Tagespunkt gerade beendet wurde und welcher nun folgt. Vor einem Besuch der Enkelkinder könnte man erwähnen, dass diese „groß sind für eine Zweitklässlerin“ oder dass diese sich „sicherlich auf die Allerheiligenferien“ freuen, um so kleine Orientierungshilfen zu bieten. Man kann auch mit Zeichen oder Post-its als Erinnerungshilfe arbeiten, oder eine Uhr oder Kalender können für Orientierung sorgen. Allerdings zeigt sich oft, dass ein zu viel an Orientierung an der Realität Scham, Angst und Ärger auslösen kann, gerade wenn Grundlegendes, zum Beispiel die eigene Lebensphase (Jugend, mittleres oder höheres Erwachsenenalter) oder der Tod des Ehepartners nicht mehr erinnert werden. Das ist oft bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz der Fall. Wenn die zeitliche Orientierung so gravierend eingeschränkt ist, dann sind weiße Lügen besser. Bei diesen verbessert man die Person mit Demenz nicht, wenn sie etwas sagt, aus dem man Defizite in der Orientierung erkennen kann. Vielmehr sollte man in diesen Fällen mit Mitgefühl und Vorsicht auf die Erlebenswelt der Person mit Demenz eingehen. Dann lässt man auch eine falsche Aussage wie „Mein Mann kommt gleich nach Hause“ stehen oder bestätigt diese, anstelle diese zu korrigieren, um die Lebenswelt der oder des Betroffenen zu respektieren.
Ist das fehlende Zeiterleben mit Emotionen behaftet?
Für Menschen ohne kognitive Beeinträchtigungen kann es schwer sein, sich in Menschen mit fehlender Orientierung hineinzuversetzen. In Workshops mit Jugendlichen stelle ich dann die Frage, ob sie, vielleicht im Urlaub oder im Camp, schon einmal nachts aufgewacht sind und nicht direkt wussten, wo sie sind. Was bei uns nur ein paar Sekunden anhält, uns aber dennoch in Aufregung und Angst versetzen kann, kommt bei Menschen mit Demenz oft vor und kann lange andauern. Auch die Rückmeldung durch Menschen des Umfeldes, dass man wichtige Lebensereignisse oder zeitliche Ereignisse nicht erinnert, kann, wie oben beschrieben, starke negative Emotionen auslösen. Man stelle sich vor, wir vergessen den Tod des Ehepartners und die Nachricht seines Todes wird uns immer wieder neu überbracht – in diesen Fällen scheint es gnädiger, die fehlende Orientierung bei Betroffenen zu akzeptieren, um das Wohlbefinden nicht unnötig und immer wieder neu zu beeinträchtigen.
Wie können wir mit Erinnerungen arbeiten, um das Wohlbefinden zu verbessern?
Umgekehrt spielt die zeitliche Orientierung im Hier und Jetzt eine weniger große Rolle, wenn länger zurückliegende Ereignisse erinnert werden. Länger zurückliegende Erinnerungen haben oft episodischen Charakter, das heißt man kann sich an Handlungsabläufe, Eindrücke, verknüpfte Gedanken und Gefühle erinnern, ohne dass die exakte Zeitachse eine Rolle spielt. Menschen mit Demenz haben oft zunächst Schwierigkeiten, kürzlich stattgefundene Ereignisse zu erinnern, können aber länger zurückliegende Ereignisse scheinbar mühelos abrufen. Da diese Erinnerungen oft mit positiven Emotionen verbunden sind und auch beruhigend wirken, wird Erinnern oft gezielt im professionellen Umgang mit Menschen mit Demenz eingesetzt; im Bereich der Sozialarbeit und stationären Langzeitpflege gibt es beispielsweise die Biographiearbeit7. Im Bereich der Psychotherapie gibt es die Lebensrückblick- und Reminiszenz-/(Erinnerns-) Therapie, für die es für den deutschsprachigen Raum ein Buch von Simon Forstmeier und Andreas Maercker gibt.8 Man kann auch als Familienmitglied einen Ordner mit Fotos der Familienangehörigen und Freunde machen, um diese Erinnerungen hervorzurufen. Es gibt auch Kärtchen zu kaufen, auf denen Gegenstände der Jugend und des jungen Erwachsenenalters der Generationen zu sehen sind, die heute im höheren Alter sind; diese Gegenstände zu sehen weckt vielleicht Erinnerungen. Menschen mit Demenz können von diesem angeleiteten Erinnern profitieren, wenn es mit Mitgefühl und Wertschätzung durchgeführt wird, der Fokus des Anleitenden auf Erinnerungen und nicht die Erinnerungslücken gelegt wird, und vor allem positive Erinnerungen besprochen werden. Ein beeindruckend aktivierendes Medium ist Musik – wenn Sie den Musikgeschmack des Betroffenen nicht kennen, spielen Sie Stücke der Jugend oder des jungen Erwachsenenalters der oder des Betroffenen aus verschiedenen Stilrichtungen und Kulturen. Sie werden es sicher sehen, wenn ein Musikstück den Geschmack trifft und hoffentlich Erinnerungen weckt.
Anja Leist, ordentliche Professorin für öffentliche Gesundheit und Altern an der Universität Luxemburg, forscht zu Risikofaktoren für kognitives Altern und zur Rolle von Geschlechtsunterschieden und sozioökonomischem Status für gesundes Altern.
1 Dean Ornish, Catherine Madison, Miia Kivipelto, u. a., „Effects of intensive lifestyle changes on the progression of mild cognitive impairment or early dementia due to Alzheimer’s disease: a randomized, controlled clinical trial“, in: Alzheimer’s Research & Therapy, 16 (2024), 1, S. 122.
2 Gill Livingston, Jonathan Huntley, Andrew Sommerlad, u. a., „Dementia prevention, intervention, and care: 2020 report of the Lancet Commission“, in: The Lancet, 396 (2020), 10248, S. 413-446 (doi: 10.1016/S0140-6736(20)30367-6).
3 Angela C. Bradshaw, Jean Georges, Alzheimer Europe Board, „Anti-amyloid therapies for Alzheimer’s disease: An Alzheimer Europe position paper and call to action“, in: The Journal of Prevention of Alzheimer’s Disease, 11 (2024), 2, S. 265-273 (doi: 10.14283/jpad.2024.37).
4 Gill Livingston, Andrew Sommerlad, Vasiliki Orgeta, u. a., „Dementia prevention, intervention, and care“, in: The Lancet, 390 (2017), 10113, S. 2673-2734 (doi: 10.1016/S0140-6736(17)31363-6).
5 Julien Dumurgier, Jean-François Dartigues, Audrey Gabelle, u. a., „Time orientation and 10 years risk of dementia in elderly adults: the three-city study“, in: Journal of Alzheimer’s Disease, 53 (2016), 4,
S. 1411-1418 (doi: 10.3233/JAD-160295).
6 Yuko Iwamoto, Minoru Hoshiyama, „Time orientation during the day in the elderly with dementia“, in: Physical & Occupational Therapy in Geriatrics, 30 (2012), 3, S. 202-213 (doi: 10.3109/02703181.2012.713453).
7 Charlotte Berendonk, Silke Stanek, Mechthild Schönit, u. a., „Biographiearbeit in der stationären Langzeitpflege von Menschen mit Demenz“, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 44 (2011), 1, S. 13-18 (doi: 10.1007/s00391-010-0155-0).
8 Simon Forstmeier/Andreas Maercker (Hg.), Der Lebensrückblick in Therapie und Beratung: Ansätze der Biografiearbeit, Reminiszenz und Lebensrückblicktherapie, Heidelberg, Springer-Verlag, 2024, (doi: 10.1007/978-3-662-68077-3).
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