Zu Arel op der Knippchen: Belgier, Wallonen … oder Luxemburger?

Ein Interview mit Josy Arens, Bürgermeister der Gemeinde Attert (B), über Identitätsempfinden, Zukunftsträume und Wahlkampf für „Recouvrement-Lëtzebuerger“ im Areler Land

(Link zum Interview in Videoformat: https://www.forum.lu/2017/06/26/forum-interview-josy-arens-attert-b/)

Ein Interview mit Josy Arens, Bürgermeister der Gemeinde Attert (B), über Identitätsempfinden, Zukunftsträume und Wahlkampf für „Recouvrement-Lëtzebuerger“ im Areler Land

Herr Arens, Sie sind der erste, und unseres Wissens nach bis heute einzige belgische Politiker, der in der Brüsseler Abgeordnetenkammer eine Rede auf Luxemburgisch gehalten hat.

Josy Arens: Ja, das stimmt. Ein damaliger Kollege von mir war Herman Van Rompuy, ein Flame. Er ist ganz schnell ins Plenum geeilt und hat mir aufmerksam zugehört. Ich wollte ein Zeichen setzen, den Leuten bewusst machen, dass es in Belgien noch andere einheimische Sprachen gibt als die drei Amtssprachen Französisch, Niederländisch und Deutsch. 1990 hat die Communauté française de Belgique einige davon offiziell per Dekret als „langues régionales endogènes“ anerkannt. Dazu gehören Wallonisch, Picardisch, Champenois, Gaumais und eben auch Luxemburgisch, das hier im Areler Land von rund 20000 Menschen, aber auch im südlichen Teil der Deutschsprachigen Gemeinschaft, also in der Gegend von St. Vith gesprochen wird.

Meinen „Coup“ im Parlament hatte ich gründlich vorbereitet und den Übersetzern eine französische und niederländische Version meiner Rede ausgehändigt, so dass jeder Kollege mich über Kopfhörer verstehen konnte. Seit 2014 bin ich jetzt Abgeordneter im Wallonischen Parlament in Namur. Da kommt es schon mal vor, dass ich einfach so Luxemburgisch rede. Das gefällt nicht jedem. „Vous dites quoi?“, unterbricht man mich dann, woraufhin ich antworte: „C’est ainsi.“

Was hat das Statut der „langue régionale endogène“ dem Luxemburgischen denn konkret gebracht?

J.A.: Nicht sehr viel, eigentlich nichts. Wenn im Budget des Kulturministeriums der Communauté française nur ein paar Krümel an Fördergeldern vorgesehen sind, kann ich hier, im Areler Land, nicht allzu viel auf die Beine stellen. Ich wäre froh, wenn man uns stärker unterstützen würde, z.B. für unser „Fest der Luxemburger Gemeinschaft in Belgien“, das die Gemeinde Attert dieses Jahr zum ersten Mal organisiert, parallel zum Nationalfeiertag im Großherzogtum. Damit möchten wir illustrieren, dass unsere Gegend mehr nach Luxemburg ausgerichtet ist als nach Namur oder Brüssel.

Wie darf man das verstehen?

J.A.: Zum Ersten gibt es viele Tausende von Grenzpendlern, die jeden Tag nach Luxemburg zur Arbeit fahren. In meiner Gemeinde sind es 60 Prozent der Erwerbstätigen. Sie verdienen dort ihr Geld und tragen somit auch zum wirtschaftlichen Aufschwung in der Province de Luxembourg bei, dies umso mehr, als unsere Kommunen jetzt von der Rückübertragung von Steuereinnahmen aus Luxemburg profitieren. Seit der jüngsten Reform bekommen wir hier 1,8 Millionen Euro. Das ist ganz wunderbar.

Darüber hinaus gibt es eine enge grenzüberschreitende Zusammenarbeit in vielen kleinen Dingen. Attert z.B. kooperiert mit den vier Luxemburger Gemeinden Beckerich, Ell, Redingen und Préizerdaul. Wir treffen uns einmal im Monat. Gemeinsam organisieren wir jedes Jahr im Spätsommer das Festival „Musique dans la Vallée – Musik am Atertdaul“. Der Fluss verbindet uns. Ich bin stolz, dass die lang ersehnte Kläranlage auf belgischer Seite endlich gebaut wird. Schließlich ist Attert auch Naturparkgemeinde. In Zukunft werden wir den Luxemburgern nicht mehr unser schmutziges Wasser schicken. Mich hat das immer sehr bedrückt, doch in Namur oder Brüssel konnte oder wollte man das nicht begreifen. Dabei ist es unsere gemeinsame Umwelt, und gemeinsam sind wir dafür verantwortlich.

Ihre Kollegen im belgischen Binnenland verstehen wahrscheinlich nicht, dass die Staatsgrenze hier so offen ist wie nirgendwo sonst.

J.A.: Ja, das stimmt. Außer den paar Grenzsteinen gibt es nichts, was uns trennt. Zu Bart de Wever (Chef der flämisch-nationalistischen Partei N-VA; Anm. d.Red.) sagte ich mal: „Wenn du Grenzsteine brauchst, hier sind welche. Die kannst du haben, um sie zwischen Flandern und Wallonien aufzustellen.“

Glauben Sie überhaupt noch an die Zukunft Belgiens?

J.A.: Das ist eine höchst komplexe Frage. Wäre ich in den sechziger Jahren, im Vorfeld der ersten belgischen Staatsreform, Abgeordneter gewesen – damals war ich ein junger Mann –, hätte ich mich für die Schaffung einer vierten Sprachgemeinschaft in Form einer „Communauté luxembourgeophone de Belgique“, vergleichbar mit der „Communauté germanophone de Belgique“, eingesetzt. Rund 60000 Menschen in Belgien sprachen damals Luxemburgisch, also zahlenmäßig etwa genau so viele wie Deutsch.

Leider ist Belgien nach sechs Staatsreformen so kompliziert geworden, dass niemand sich mehr zurechtfindet, eine Entscheidungsebene die andere blockieren kann und gute Regierungsarbeit immer schwieriger, zuweilen fast unmöglich wird. So denken heute viele, besonders in Flandern, über eine Trennung nach. Da kann ich mir nur schwer vorstellen, dass das Areler Land, sollte Belgien tatsächlich auseinanderfallen, in einer unabhängigen Wallonie seine Zukunft sehen würde… Um ehrlich zu sein: Wir definieren uns als Belgier und als Luxemburger, nicht aber als Wallonen. „Nous ne sommes pas wallons“, sage ich immer.

Interessanterweise kamen wir hier im Areler Land immer besser mit den Flamen zurecht als mit den Wallonen. Die meisten Minister aus Flandern waren schon im Atterter Gemeindehaus zu Gast. Nicht so die Wallonen, die manchmal den Eindruck erwecken, als ob dies nicht ihre Gegend wäre, als hätten sie mit uns nichts zu tun. Das hängt sicher mit den unterschiedlichen Mentalitäten zusammen. So gesehen fühlen wir uns kulturell wirklich als Luxemburger.

Und Luxemburg selbst wird immer multi-kultureller…

Ich habe an meinem ersten Schultag in Attert, das war 1958, noch kein Wort Französisch gesprochen. Für die meisten Kinder war die Muttersprache Luxemburgisch. Und in der Kirche waren die Gebete auf Deutsch. Wer damals gesellschaftlich was gelten wollte, musste das Luxemburgische beiseite lassen und sich in Französisch ausdrücken. Viele Lehrer aus dem Areler Land wurden, weil sie Deutsch konnten, in die Deutschsprachige Gemeinschaft versetzt. Im Gegenzug schickte man uns französischsprachige Lehrer aus anderen Landesteilen, die kein Luxemburgisch verstanden. So wurde die Sprache nach und nach zurückgedrängt und unsere Region wurde irgendwann, gezwungenermaßen, überwiegend frankophon.

Heute ist aber doch ein Umschwung festzustellen?

J.A.: Ja, das kommt eben daher, dass viele von uns in Luxemburg arbeiten und auch einen Vorteil darin erkennen, luxemburgische Sprachkurse zu besuchen. Unsere Straßennamen sind zumeist zweisprachig, die Leute denken wieder mehr über die Sprache nach, die immer auch ein Teil unserer Identität war. Das finde ich schön… und die Luxemburger, angefangen beim Großherzog, übrigens auch.

Seit 2009 ermöglicht das luxemburgische Staatsbürgerschaftsrecht das sogenannte „recouvrement“, also die Wiedererlangung der Nationalität, sofern man nachweisen kann, dass man Luxemburger Vorfahren hatte. Auch im Areler Land wird ausgiebig davon Gebrauch gemacht.

J.A.: Ja, viele haben die Nationalität beantragt und auch bekommen. Sie sind jetzt Belgier und Luxemburger. Ich habe es noch nicht gemacht, werde es aber tun, das ist klar. Doch solange ich Abgeordneter in einem Parlament des Königreichs Belgien bin, halte ich mich zurück. In diesen Dingen sollte man schon vorsichtig und diplomatisch sein. Dennoch sage ich mir oft, dass ich eigentlich sinnvoller in der Luxemburger Kammer säße als in Namur oder Brüssel.

Immerhin ist es ja ein geopolitischer Unfall der Geschichte, dass dieser kleine Landstrich seit 1839 nur deswegen zu Belgien gehört, weil bei der Abtretung der französischsprachigen Gebiete Luxemburgs an Belgien die Grenze stellenweise – und ausnahmsweise – nicht nach sprachlichen Vorgaben gezogen wurde. Frankreich hatte nämlich bei der Londoner Konferenz von 1839 verlangt, dass die strategisch wichtige Straße, die von Longwy in Richtung Lüttich und Brüssel führt, auf belgischem Territorium liege. Es ist die berühmte Route nationale 4.

J.A.: Ja, das stimmt. Im Grundsatz hatte man damals beschlossen, dass Sprach- und Landesgrenze identisch sein sollten. Doch für uns wurde eine Ausnahme gemacht, wegen der Straße.

Nach 1839 hat es im Areler Land aber nie eine politische Bewegung gegeben, die einen Wiederanschluss an das Großherzogtum verlangte?

J.A.: Nein, die gab es nicht. Wir waren da immer sehr pragmatisch. Doch wenn Sie heutzutage mit den Leuten reden, werden Sie feststellen, dass die allermeisten für ein „rattachement“ an Luxemburg sind. Unter den 5500 Einwohnern der Gemeinde Attert – vor 30 Jahren waren wir nur 1500 – sind viele aus dem französischsprachigen Teil Belgiens hierhergezogen. Sie sind frankophon, arbeiten aber in Luxemburg und sind dort sehr zufrieden. Viele wollen Luxemburgisch lernen. In den Schulklassen unserer Gemeinde haben wir vor 20 Jahren angefangen, wieder Deutsch anstelle von Niederländisch zu unterrichten. Wie Sie sehen, ist bei uns alles auf Luxemburg orientiert. Unsere Straßen- und Flurnamen zeigen, woher wir kommen – und wo wir, wahrscheinlich, auch wieder hingehen werden.

Heißt das, dass der Fortgang der Weltgeschichte in Ihrer Region offen ist?

J.A.: Da bin ich mir ganz sicher.

Müssen die neuen, eingebürgerten „Luxembourgeois par recouvrement“ einen Sprachtest in Luxemburg absolvieren – so wie das bei der gewöhnlichen Naturalisierung vorgeschrieben ist?

J.A.: Nein. Ich kenne Leute, die sind Luxemburger geworden, sprechen ganz sicher aber kein Wort Luxemburgisch. Es genügt, einen Vorfahren nachweisen zu können, der am 1. Januar 1900 die Luxemburger Nationalität hatte. Regelmäßig kommen welche, um im Gemeinderegister nachzuforschen, ob sie die Bedingung erfüllen. Wenn ich sie dann frage, warum sie das tun, antworten viele: „Man kann nie wissen. Auch nicht, was mit Belgien passieren wird.“ Andere empfinden das Ganze tiefgründiger, da geht es wirklich um Identität und Zugehörigkeit.

Für mich persönlich sind die Dinge recht einfach: Ich wurde als Luxemburger geboren, weil man Vater aus Bauschelt stammt, und bin in Attert aufgewachsen. Belgier wurde ich erst sechs Monate vor meiner Wahl zum Abgeordneten, woraufhin ich die Luxemburger Staatsbürgerschaft verlor.

Das heißt, Sie wurden Belgier, um in Belgien Politik machen zu können?

J.A.: Es klingt verrückt, aber so ist es.

Die „Recouvrement-Luxemburger“ haben selbstverständlich auch das Wahlrecht im Großherzogtum. Haben sie denn eigene politische Interessen, die in der Luxemburger Abgeordnetenkammer thematisiert werden könnten?

J.A.: Aber natürlich. Es sind genau die Themen, wo wir schon jetzt mit Luxemburger Verantwortlichen kooperieren – oder uns zumindest darüber unterhalten. Ein paar Beispiele: Gesundheitspolitik, Bildung, Transport. Sollte die Wallonie wirklich Ernst machen mit ihrem Vorhaben, die Clinique Saint-Joseph in Arlon zu schließen und bis 2025 alle Dienste in ein neues Klinikum nach Habay zu transferieren, müssten wir uns ganz neu ausrichten. Ich denke da an das geplante Südspidol in Esch-Belval. Ebenso träume ich davon, dass Provinz und Uni Luxemburg eine gemeinsame universitäre Einrichtung im Areler Land hätten. Zudem fände ich es großartig, wenn Arlon und die Stadt Luxemburg per Schnellbahntrasse – ich habe sie „métro rural“ getauft – miteinander verbunden wären. Das würde die Straßen erheblich entlasten.

Glauben Sie, dass die „Neuwähler“ aus Belgien mit den politischen Verhältnissen in Luxemburg zurechtkommen werden?

J.A.: Ich denke schon. Der große Vorteil der Luxemburger Politik ist doch, dass alle Akteure, gleich welcher Partei, noch mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen – was bei uns nicht mehr der Fall ist. In der Wallonie schwadroniert man um den Brei herum, manövriert gerne in der Dunkelheit und am Ende kommt nichts dabei heraus. Wenn wir in Namur etwas erreichen wollen, müssen wir mit den Fäusten auf den Tisch hauen. Viele wallonische Politiker würden Arlon und Umgebung am liebsten nackt ausziehen, langsam aber sicher, doch mit System. Ständig müssen wir uns mit denen die Köpfe einschlagen. Ganz anders dagegen die Luxemburger, die gezielt und nüchtern die Probleme ansprechen und lösungsorientiert räsonieren, im beiderseitigen Interesse. Das gefällt uns schon sehr gut.

Werden die Luxemburger Parteien in Zukunft im Areler Land Wahlkampf betreiben?

J.A.: Bei den letzten Kammerwahlen 2013 gab es bereits Wahlversammlungen. Xavier Bettel und die DP waren da; ich selbst hatte mit Claude Wiseler und der CSV ein gut besuchtes Treffen in Arlon arrangiert, wo sich die Kandidaten präsentierten. Ich war sehr verwundert, denn es wurden eher wissenschaftliche Vorträge gehalten als Wahlkampfreden.

Das Parteiensystem in Belgien ähnelt dem in Luxemburg sehr stark. Es gibt jeweils vier große Strömungen: Sozialisten, Liberale, Grüne sowie Christdemokraten, die sich im französischsprachigen Teil Belgiens vor einigen Jahren in „Zentristen“ umbenannt haben. Glauben Sie, dass dies den Leuten das Verstehen der Luxemburger Parteienlandschaft erleichtert?

J.A.: Auf jeden Fall. Viele Wähler mit doppelter Staatsbürgerschaft werden unabhängig davon, ob sie jetzt die Abgeordneten für das belgisch-föderale, das wallonische oder das luxemburgische Parlament wählen, nach ihren gewohnten weltanschaulichen Bindungen oder Sympathien entscheiden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview wurde am 25.4.2017 geführt (BM/PL).

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