Kann man sich die ersten aufrechtgehenden Hominiden beim Spaziergang vorstellen? Nicht wirklich. Es ist eine kulturgeschichtlich noch junge Idee, zum Zwecke der Erholung oder Erheiterung, gar aus Gründen des Zeitvertreibs spazieren zu gehen. Erst mit dem Aufkommen von angelegten Parks, Promenaden und Stadtgärten begannen zunächst Aristokraten sich dem „Lustwandeln“ zu widmen. Ab dem 18. Jahrhundert dann gewann das zwecklos scheinende Rumflanieren zunehmend auch im Bürgertum an Beliebtheit. Vor allem Anlagen wie die englischen Gärten wurden geschätzt: Sie imitierten die Natur mit ihren unumwundenen Formen und waren trotzdem ganz auf die Bedürfnisse der Spaziergänger ausgerichtet. Die sich allmählich ausbreitende Tourismuskultur orientierte sich ebenfalls an dieser neuzeitlichen Mode. Es entstanden Rundwege in der Nähe von Kurorten, und es wurden Küstenpromenaden angelegt, wie die Promenade des Anglais in Nizza. Für das Bürgertum war das Spazierengehen eine willkommene kulturelle Erneuerung, mit der sich die feinen Unterschiede markieren ließen: Wer spaziert, wird öffentlich als Nicht-Arbeitender identifiziert, ohne als Faulenzer zu gelten.
Vom Vereinsleben zum Vereinssterben
Vom Bürgertum ausgehend, verbreitet sich der Zeitvertreib im Laufe des 20. Jahrhunderts in die Dienstleistungsgesellschaft und das Vereinsleben hinein. Und er wird sportlicher: Ab dem frühen 20. Jahrhundert suchen die Wandervögel im deutschsprachigen Europa den Wanderrausch in Bergen und Wäldern. Zudem demokratisiert sich das Wandern und Spazieren. In Luxemburg bilden sich in den 1960er Jahren erste Wandergruppen innerhalb von bestehenden Vereinen, wie zum Beispiel bei den Feuerwehrleuten von Hamm und Ehlerange. 1971 gründet sich die FLMP (Fédération luxembourgeoise de marche populaire), die die Wanderungen des Internationalen Volkssportverbandes koordiniert. 70 Wanderungen pro Jahr werden organisiert, an denen im Schnitt 1.000 Personen teilnehmen; demnach werden insgesamt knapp mehr als 70.000 Teilnahmen im Jahr gezählt. Laut dem Präsidenten Romain Buschmann nahm die Teilnehmerzahl in den letzten Jahren stetig zu, vor allem weil sich auch nicht vereinsgebundene Personen anmeldeten. Das allerdings beschleunigte das Vereinssterben in einer Gesellschaft, die von Individualisierungs- und Pluralisierungsdynamiken geprägt ist.
Die neuen Wanderbegeisterten sind jung, manche sogar sehr jung. Man rücke zusehends vom Image der „Senioren-Aktivität“ ab, meint der Präsident. Und tatsächlich hat sich die Zahl der unter 15-Jährigen über die letzten sieben Jahre verdoppelt. Dennoch liegt das Durchschnittsalter der Teilnehmer bei 46 Jahren. Die jungen Menschen, häufig Eltern mit Kindern, erreiche die FLMP heute über die sozialen Medien. Doch die jungen Wandereinsteiger wollen flexible Angebote und Herausforderungen: Dies bedeutet einen Mehraufwand für die 335 Ehrenamtlichen der Vereine. „Immer ältere Vorstandsmitglieder müssen ein Angebot für immer jüngere Wanderer erstellen“, fasst die FLMP die Belastungsprobe im Jahresbericht 2019 zusammen. Den Wander-Enthusiasmus schnappen die Jüngeren den Älteren dennoch nicht weg. Im Jahresbericht weisen vor allem die Pensionierten Höchstleistungen auf: Zwei Vielgeher, das Ehepaar Edmond und Lily Zahlen, die beide über 76 sind, liefen im vergangenen Jahr jeweils 1.700 Kilometer.
Auto-Pédestres, Nordic Walking, Waldbaden
In den 1960er Jahren wurden nicht nur die ersten Wandervereine gegründet. Das Tourismusministerium legte auch die ersten 20 Auto-Pédestres an. Mittlerweile zählt Luxemburg 201 Rundwanderwege, und blickt man auf die Verkaufszahlen des 2018 publizierten Karten-Ordners, scheint das Interesse am Fußgängertum gestiegen zu sein: Fast 10.000 Exemplare wurden bisher verkauft. Hinzugesellt haben sich für Tagestouren die 26 nationalen Wanderstrecken sowie die Streckenabschnitte der CFL-Wanderwege, die an Bahnhöfen beginnen und enden. Für die Auto-Pédestres gilt dies nicht: Diese beginnen und enden an einem Parkplatz, wie es die luxemburgische Begriffsneuschöpfung „Auto-Pédestres“ nahelegt. Insgesamt zählt Luxemburg derzeit 8.000 Kilometer beschilderte Wege.
Nicht nur die Wege multiplizieren sich, sondern auch der Ausstattungsbedarf: Noch der kleinste Rundgang wird zu einer Kleidungsfrage hochstilisiert. Das „Outdoor Apparel“-Segment diversifiziert sich zusehends; atmungsaktive und wasserdichte Kleidung wird für dreistellige Summen verkauft. Darüber hinaus lässt einen das Phänomen des Nordic Walking einstweilen daran zweifeln, ob es noch schick ist, einfach ohne Schnickschnack draußen herumzuspazieren. Die Gehstöcke wurden vom finnischen Hersteller Exel produziert und 1999 unter dem Fachausdruck Nordic Walking international bekannt. Personen mit Rückenproblemen geben an, dass die Gehstöcke ihre Rückenmuskulatur stärken. Angesichts seines Nutzens kann man das Nordic Walking nicht gänzlich als rein unnötigen kommerziellen Gag eines Skizubehörproduzenten abtun, der einfach im Sommer Geschäfte machen wollte.
Auto-Pédestre-Rundwege und Nordic Walking sind allerdings nicht die einzigen Neuerungen, die das Spaziergehen in diverse Spielarten auffächern. Vor ein paar Jahren hat auch das Waldbaden seinen Siegeszug in Europa angetreten. Das Phänomen schwappte von Japan, wo man einen gemütlichen Spaziergang im Wald als „Shinrinyoku“, also „Waldbaden“, bezeichnet, zu uns herüber. Aber dabei soll es um mehr gehen als nur um passives Rumspazieren, wie eine Waldbaden-Kursleiterin behauptet. „Manche mögen es, den Baum zu umarmen oder sich wie ein Bär daran zu reiben“.1
Der Professor für Umweltimmunologie Qing Li ist ein Popularisierungsvektor dieser rezenten Spaziermode. In Büchern wie Forest Bathing vertritt er die Ansicht, bereits nach einer Stunde im Wald sänken Blutdruck, Kortisol und Puls, und das Immunsystem verbessere sich. Mittlerweile öffnete in Japan das erste Zentrum für „Waldtherapie“, und japanische Universitäten begannen eine fachärztliche Spezialisierung in „Waldmedizin“ anzubieten. Europa zieht nach: Am Berliner Wannsee plant das zur Charité gehörende Immanuel-Krankenhaus einen Waldbadepfad – und bietet damit prompt ein Update der Kurort-Promenaden-Tradition an. Auch hierzulande fasst der Trend Fuß: Die Erzieherin Karen Decker bietet das Bëschcoaching an. Nach einem Burn-out wurde der Wald zu ihrem Therapeuten; heute möchte sie andere Gestresste an diese belaubten Gefährten heranführen.2
#Vakanzdoheem
Aber auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde das Spaziergehen nicht als rein passiver Zeitvertreib angesehen: Der Spaziergänger aus gehobenen Kreisen wurde dazu animiert, sich aktiv einzubringen und die Gärten als Gemäldegalerie wahrzunehmen; man sprach gar von „poetischen Bilderjagden“.3
Auf poetische Bilderjagden schickte das Luxemburger Tourismusministerium die Einwohner des 2.600 Kilometer kleinen Landes unter dem Hashtag #Vakanzdoheem. Das Großherzogtum wies im Sommer 2020 hohe Corona-Fallzahlen auf, und so manch ein Land stufte das Gebiet ohne Meerzugang als Risikogebiet ein – da bleibt mal lieber hier, vermittelte die Regierung. Drückte den Volljährigen einen Gutschein von 50 Euro in die Hand und rief sie auf, schräge (wie die Mushrooms in Useldange) oder luxuriöse Unterkünfte des Landes zu buchen. RTL half nach, Ortschaften und Rundwanderwege schmackhaft zu machen: So organisierte Romain Buschmann diesen Sommer keine groß angelegten Wanderungen, sondern saß an der Buurschter Plage vor der RTL-Kamera und erklärte den Zuschauern unter dem Episoden-Titel 100 % Natur a Freed fir Wanderer, dass das Ösling ein anspruchsvolles Wandergebiet ist. forum-Mitherausgeber Michel Pauly kam dieser Werbeaktion allerdings zuvor und publizierte Ende Juli ein Twitter-Quiz: Auf einem Foto steht ein sommerlich gekleideter Pauly neben einer Auto-Pédestres-Beschilderung; hinter ihm sind lauschige Mischwälder, ein Tal, ein braunsuppiger Fluß. „Wo bin ich?“, steht über dem Foto. Eine Followerin rät richtig: im Ourtal bei Roder.
Mitte August informierte Tourismusminister Lex Delles (DP) die Öffentlichkeit übrigens darüber, dass bisher 17.000 von 730.000 ausgegebenen Bons eingelöst worden seien.
Geheimniskrämerei in Parks
Wer nicht im Wald baden möchte, kann durch Städte spazieren. Es ist zumindest eine wunderbare Art, diese kennenzulernen: ihren Rhythmus, ihre toten Winkel, ihre prächtigsten Bauten – all das entgeht dem durchrasenden Autofahrer. Kneipen, Restaurants und Fußgängern sollte man ohnehin mehr Raum geben in Zeiten von Corona-Abstandsregeln – und hierfür Straßen sperren. In Italien hat die Stadteroberung insbesondere durch Abendspaziergänger schon länger Tradition. Die passeggiata, das gesellige Spazierengehen, dient dazu, mit Freunden und Nachbarn zu plaudern und sich bei Gelegenheit ein gelato an einer Theke zu kaufen.
Beim geselligen Straßenspaziergang denkt man nicht an Geheimniskrämerei. Aber auch der geheimnisumwobene Spaziergang kann in Städten vorkommen; in Parks beispielsweise, in denen gedealt wird, oder in Hollywoodfilmen, in denen Spioninnen diese Grünanlagen zum Informationsaustausch bevorzugen, um verwanzten Räumen zu entgehen. Wer nicht Dealerin oder Hollywoodstar ist, kennt zumindest die Aufforderung der besten Freundin: „Lass uns mal spazieren gehen“, ganz klar eine Ankündigung, dass Persönliches und Geheimes ausgetauscht werden sollen.
Wache Verträumtheit und der Wettbewerb im Gehen
Wer grade keine Freunde zur Hand hat, kann den einsamen Spaziergang genießen. Der Neurowissenschaftler Shane O’Mara, Autor des Buches Das Glück des Gehens, schwört auf ihn4: Er ermögliche es, in Dialog mit sich selbst zu kommen, und Aufgestautes oder Anstehendes zu durchdenken. Der einsame Spaziergänger verweilt häufig in einem Zeitfenster der wachen Verträumtheit.
Wer alleine spazieren gehen will, aber trotzdem mit anderen in einen Wettkampf treten, kann das umstandslos tun. Das digitale Zeitalter hat natürlich auch hierfür ein Angebot parat: Mit der App adidas running kann der Fußgänger seine Schrittgeschwindigkeit berechnen und laut App-Betreiber seine „Erfolge mit einer globalen Community“ teilen. Wer nicht mit anderen konkurrieren will, kann sich selbst „motivierenden Challenges“ stellen und sich beispielsweise die Bewältigung von 1.000 Kilometern im Jahr zum Ziel setzen. Die App berechnet jede Woche die Leistung des Nutzers und schickt ihm motivationssteigernde Sprüche.
Der Herbst steht an und die Wandersaison neigt sich dem Ende zu. Wer kein E-Bike hat und keine Lust mehr auf Autostau, kann den Gebrauch seiner Füße als Verkehrsmittel in den Alltag einbauen. Falls die Fußgängerin dabei nicht auf Gesundheitsvorzüge verzichten will, empfiehlt O’Mara, nicht langsamer als 5 km/h zu gehen und dies mindestens an vier Tagen pro Woche, jeweils 30 Minuten lang. Laut O’Mara kommen einem dann ein paar Annehmlichkeiten entgegenspaziert: körperliche Gesundheit, Kreativität, gute Laune und unverklemmtes Denken.
- https://www.spiegel.de/politik/waldbaden-manche-moegen-es-den-baum-zu-umarmen-a-00000000-0002-0001-0000-000164302396 (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 21. August 2020 aufgerufen).
- http://www.land.lu/page/article/818/335818/DEU/index.html
- Barbara Piatti, Von der Kunst spazieren zu gehen, in: Heimatschutz/Patrimoine 2010, 2, S. 8-11, hier S.9
- Shane O’Mara, Das Glück des Gehens. Was die Wissenschaft darüber weiß und warum es uns so guttut, Reinbek, Rowohlt, 2020.
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