Zur Zukunft der Demokratie in Europa
Ein Gespräch
Michel Dormal: Lassen Sie uns zum Einstieg zurückblicken auf die Folgen der Europawahl 2019. Ist das Modell europäischer Spitzenkandidaturen mit der Nominierung von Frau von der Leyen, die ja mit den Wahlen ursprünglich gar nichts zu tun hatte, gestorben? Werden die Entscheidungen jetzt wieder von den Regierungschefs ausgeklüngelt?
Emanuel Richter: Ich denke nicht, dass das Modell gestorben ist. Aber der Versuch seiner Anwendung ist dieses Mal gründlich schiefgegangen. Auch, weil man es von Seiten der Parlamentarier und der Parteienfamilien zu verbissen betrieben hat. Aber ganz sicher wird das bei der nächsten Wahl wieder Thema werden. Das Europäische Parlament wird für dieses Verfahren kämpfen. Das gehört zu seinem Selbstverständnis. Mit Manfred Weber als Spitzenkandidat ist es schiefgelaufen, weil er nicht das Einverständnis von allen wichtigen Akteuren hatte. Man müsste es so gestalten, dass man im Vorhinein weiß, wer von den Regierungschefs mitspielt und wer sich querstellt. Wenn man das löst, kann man das Prinzip durchsetzen.
M.D.: Wie ist es denn sonst um die Demokratie in Europa bestellt?
E.R.: Die ganze Demokratiefrage tritt aktuell stark hinter die praktische Politik zurück. Die EU steht vor existenziellen Fragen wie dem Brexit, der die Agenda dominiert. Denn der Brexit ist ja auch eine Krise des europäischen Projekts: Warum verkleinert sich die EU, nachdem sie sich die ganzen Jahre zuvor immer rasant vergrößerte? Soll Europa sich in Zukunft überhaupt noch erweitern? Ist der Erweiterungsprozess vor dem Hintergrund des Austritts eines Mitglieds nicht erstmal anzuhalten? In der Tat stocken ja die Erweiterungsrunden mit den Balkan-Staaten. Und dann das schwierige Verhältnis zu den USA, Stichwort „Handelskrieg“. Schließlich klappt es nicht mit der Angleichung des Wirtschaftsniveaus im Kreis der Mitgliedstaaten. All das erschüttert das europäische Einigungswerk in seinen Grundfesten. Das, wofür Europa einst geschaffen wurde, wird in Frage gestellt.
M.D.: Und die Demokratie? Gehört die Ihrer Ansicht nach nicht zu dem, wofür Europa geschaffen wurde? Denn so wird es ja in der Öffentlichkeit oft dargestellt. Der Lissabon-Vertrag etwa führt zu Beginn „Freiheit, Demokratie, Gleichheit“ als Grundwerte der EU an.
E.R.: So wird es oft dargestellt. Aber historisch ist das falsch. Die Einigungsgeschichte ab 1951 war zunächst der Versuch, die Nachkriegsordnung zu gestalten. In den ersten Entwürfen zum EGKS/CECA-Vertrag war gar kein Parlament vorgesehen. Das hat man dann noch schnell hineingebracht, um irgendwie den Anschein eines parlamentarischen Systems zu erwecken. Erst später kam dann die umfassendere Frage der Demokratie hinterher, insofern, als nach und nach ein Regulierungssystem geschaffen wurde, mit dem bestimmte Vorstellungen von Teilhabe, Legitimation und Repräsentation der Völker Europas einhergingen. Erst im Zuge dessen ist dann auch das Parlament aufgewertet worden. Welche Rolle und welches legitimatorische Gewicht es hat, ist aber nach wie vor umstritten.
M.D.: Liegt die Zukunft der Demokratie überhaupt in Europa? Es gibt ja ein bestimmtes Narrativ, das ungefähr wie folgt lautet: Die EU entstand zwar nicht aus demokratischer Absicht, aber je mehr Integration es gab und gibt, je mehr man in das Leben der Menschen eingreift, desto stärker der Legitimationsbedarf – und da die zu lösenden Probleme sich heute auf einer transnationalen Ebene bewegen, also nur noch europäisch bearbeitet werden können, ist eine weitgehende Demokratisierung Europas der zwingende nächste Schritt in der Evolution der Demokratie schlechthin. So argumentiert etwa Jürgen Habermas.1 Aber stimmt diese Geschichte? Oder liegt die Zukunft der Demokratie ganz woanders? Dirk Jörke etwa schlug kürzlich einen Rückbau der EU zu einer losen Föderation vor, da echte Demokratie nur in kleineren politischen Räumen überhaupt praktikabel sei.2
E.R.: Habermas vertritt ja sehr stark die Auffassung, dass wir nicht nur Bürger von Nationalstaaten sind, sondern auch unmittelbar Bürgerinnen Europas. Seit dem Maastricht-Vertrag existiert ja auf dem Papier die Unionsbürgerschaft, die einen solchen unmittelbaren Mitgliedsstatus schafft. Habermas zielt darüber hinaus natürlich ideell auf ein europäisches Staatsbürgerbewusstsein. Er sagt: Die EU greift so tief in unsere Lebensverhältnisse ein, dass sie demokratisch legitimiert sein muss – und das Subjekt dieser Legitimation müsste die Gesamtheit der Unionsbürgerinnen sein. Aber das alles bleibt oft reiner Appell: „Es müsste doch so sein …“, „besinnt euch darauf, ihr seid demokratische Subjekte…“. Es wird an das Bewusstsein appelliert, aber es trifft tatsächliche Rollenverständnisse nicht so richtig. Denn wenn man bei den Menschen herumfragt, ist die Unionsbürgerschaft relativ unbedeutend. Das ist ja dann das Argument von Jörke: Man kann die Identifikation der Bürger mit ihrem Gemeinwesen nicht verordnen und nicht beliebig so weit ausdehnen, wie es gerade funktional notwendig erscheint. Komplexe Regulierungssysteme wie die EU haben eine Art Grenznutzen. Sprich, ab einem bestimmten Punkt überwiegen die politischen Schwächen die wirtschaftlichen Vorteile. Daher fordert er eine Rückstufung auf kleinräumigere Gemeinwesen.
Ich stehe in der Mitte zwischen beiden Positionen. Die Anforderungen, die Habermas an unser europäisches Bewusstsein stellt, sind in der Tat zu groß. Auch, weil die EU kaum Ansatzpunkte für Teilhabe liefert. Wir wählen das Europaparlament mit viel Mühe, mit mäßiger Wahlbeteiligung und mit einem Interesse, das oft gar nicht so sehr auf Europa gerichtet ist. Ansonsten herrscht eher das pragmatische Bewusstsein vor, dass die EU eben bestimmte notwendige Funktionen erfüllt. Eine Rückstufung Europas nur der Demokratie wegen, wie Jörke es will, fände ich daher aber auch falsch. Denn dieses Funktionssystem wird nun mal gebraucht. Im Großen und Ganzen erfüllt die EU an vielen Stellen erfolgreich eine notwendige Aufgabe komplexer Regulation. Nur eben bietet das System keine positiven Identifikationsanreize.
M.D.: Könnte man nicht ein europäisches Bürgerbewusstsein prozedural anregen? Es gab im Vorfeld der diesjährigen Europawahlen z.B. die vor allem von den Grünen angestoßene Diskussion über transnationale Listen. Das würde ja eine Logik fortsetzen, die mit dem System der europäischen Spitzenkandidaturen begonnen wurde. Die damit verbundene Hoffnung, die mir zumindest theoretisch plausibel erscheint, ist, dass sich so Schritt für Schritt eine gesamteuropäische Wahrnehmung von Politik herausbilden könnte.
E.R.: Es ist ganz schwierig, Demokratiebewusstsein über institutionelle Anreize zu fördern. Das geht nur bis zu einem bestimmten Punkt. Europäische Parteien bzw. Parteibündnisse gibt es ja, zumindest bei den großen Parteien. Die sind aber unbedeutend, weil nach wie vor national unterschiedliche Themen im Vordergrund stehen. Europäische Listen machen vor dem Hintergrund wenig Sinn und wurden ja von einer Mehrheit im Europaparlament auch abgelehnt. Sie können z.B. die deutsche Sozialdemokratie schlecht mit der dänischen vergleichen oder mit den Sozialisten in Frankreich. Das sind alles sehr stark national geprägte Kulturen. An einer Vereinheitlichung des Wahlrechts bastelt man seit 1979, seit es die Direktwahl zum Europäischen Parlament gibt. Man hat es bislang nicht geschafft. Und zwar nicht aus Unwillen, sondern weil die nationalen Wahlkulturen so unterschiedlich sind. Das wäre eine artifizielle Angleichung, die nicht einem Wunsch der Bürgerschaft entspringt und eine Reihe praktischer Probleme aufwirft.
M.D.: Dem ließe sich entgegnen, dass es bei den Nationalstaaten nicht anders war. So argumentiert ja Habermas, der sagt: Nationalstaaten sind doch genauso artifiziell. Frankreich etwa war einst eine Ansammlung von Regionen, die wenig verband. Erst durch die Zentralregierung, durch die gemeinsame Verwaltung und eine einheitliche Nationalrepräsentation verwandelten sich, um mit Eugen Weber zu reden, Bauern in Franzosen. Warum sollte das langfristig in Europa nicht auch gelingen? In der Zeitschrift forum wurde sogar mal argumentiert, dass auch Formate wie der Eurovision Song Contest das Potenzial haben, eine europäische Öffentlichkeit zu befördern (siehe forum 395).
E.R.: Frankreich ist da eher ein Paradebeispiel gelungener Nationalgeschichte. Andere Länder hatten viel größere Schwierigkeiten. In Deutschland und Italien etwa gab es sehr mühsame Prozesse des nationalen Zusammenwachsens. In Deutschland war der territoriale Zuschnitt extrem volatil und umstritten. Deutschland hätte gut auch ganz anders aussehen können, ohne Bismarcks und des Kaisers polarisierende Politik hätten wir heute vielleicht noch Preußen. Und in Italien war die nationale Einigung davon abhängig, dass es eine Bewegung gab – Mazzini, Garibaldi – die hochumstritten war, die nur bedingt Erfolg hatte und im 19. Jahrhundert eine Lösung gesucht hat, die erst im 20. Jahrhundert gefunden wurde. Soweit es die EU betrifft, sind solche Bewegungen von unten entweder gescheitert oder nicht vorhanden. Natürlich versucht man in Europa seit 60 Jahren intensiv, Identifikationsanreize von oben zu schaffen. Aber nur mit sehr geringem Erfolg. Das einzige, das uns zusammenschweißt, ist ja eigentlich die Grenzfreiheit, die Möglichkeit, andere Kulturen zu erfahren und sich ohne große Mühe zu bewegen. Und auch das wird aktuell durch die Fragen der Migration wieder bedroht. Auch der ESC wäre ja eher das Gegenbeispiel: Es ist eine europäische Veranstaltung, aber es wird eine Rangliste geführt nach nationalen Prinzipien.
M.D.: Für das eigene Land darf man ja aber nicht abstimmen…
E.R.: Aber man kürt Sieger, die ihr Land verkörpern. Insofern ist das ein Nachweis, dass man zwar kooperieren kann, dass man aber dort, wo es um Identität geht – und Musik spielt da eine große Rolle –, doch nach nationalen Kriterien differenziert. Das Gegenmodell wäre ja eher die Kür eines gemeinsamen europäischen Songs, der dann für ein Jahr als Hymne Europas funktionieren würde.
M.D.: Wenn diese Wege versperrt sind und uns nur die Rolle als Kontrolleure bleibt – sollte man dann den Demokratiebegriff so umdeuten, dass statt der klassischen Verfahren positiver Willensbildung vielmehr die Mechanismen der Kontrolle, der Aufsicht und Vetomacht in den Vordergrund rücken? In diesem Sinne spricht etwa Pierre Rosanvallon von einer „contre-démocratie“.3 Eine solche Aufsichts- und Verhinderungsdemokratie stellt deutlich niedrigere Ansprüche an Identität und Bürgerbewusstsein.
E.R.: In der Tat. Kontrolle ist auch die angemessene Rolle des Europäischen Parlaments. Seit mindestens zwei Legislaturperioden sitzen ja viele Europakritiker selbst im Europaparlament. Das ist ein Stück des Erfüllungsanspruchs von Opposition, einem wichtigen demokratischen Instrument. Daneben gibt es vermehrt auch direkte Einspruchsmöglichkeiten, z.B. über das Petitionsrecht. Hier wäre die mit dem Lissabon-Vertrag geschaffene Europäische Bürgerinitiative zu nennen. Diese Instrumente werden allerdings nur selten genutzt, und wenn, dann vornehmlich von jungen Menschen. Und dann haben wir die neuen Protestbewegungen. Es ist auffällig, wie die Protestkultur gerade in transnationalen Arenen in den letzten Jahrzehnten angestiegen ist. Man denke an „Occupy“ und aktuell an die Klimaschutzbewegungen. Aber ehrlicherweise muss man sagen: Da ist Europa als Rahmen an manchen Stellen zu groß und an anderen zu klein. Für die transnationalen Themen, die die Zukunft der Menschheit betreffen, ist Europa zu klein. Das sind globale Problemfelder, die alle großen Weltregionen und ihr Verhältnis zueinander betreffen. Für andere Bewegungen ist Europa zu groß, da bestimmte nationale Perspektiven nicht beliebig erweitert werden können. Zum Beispiel die Migrationsproblematik: Das ist ja eigentlich ein europäisches Thema und ein ausgewiesenes europäisches Politikfeld. Trotzdem stellt sich heraus, dass es extreme nationale Unterschiede gibt hinsichtlich des Umgangs damit. Da ist Europa dann zu groß.
M.D.: Eine andere klassische Arena zur Kontrolle der politischen Macht wäre das Recht, speziell Gerichte und Verfassungsgerichte. Hier scheint die Lage auf den ersten Blick ja durchaus vielversprechend. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg ist ein starker und durchsetzungswilliger Akteur. Welche Rolle kann er spielen? Auch in dieser Frage gibt es ja ebenfalls die Gegenposition, die den Gerichtshof eher als einen sich selbst autorisierenden und insofern undemokratischen Ersatzsouverän sieht.
E.R.: Auch ich wäre hier eher skeptisch. Man darf den EuGH sicher nicht geringschätzen. Er spielt eine wichtige Rolle, weil an ganz vielen Stellen das Recht eben die Instanz ist, die politische Streitfragen zu regulieren vermag. Entsprechend wird er ja auch in Vorabentscheidungen angerufen, um seine Einschätzung kundzutun und die Entscheidung dann wieder an nationale Gerichte zurückzugeben. Das ist in der Tat ein Stück gelungener europäischer Integration. Aber auf der anderen Seite würde ich doch jene Kritik teilen, die Dieter Grimm (ehemaliger Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht) am besten artikuliert hat. Er sagt: Der EuGH ist ein Organ, das ganz massiv als politischer Akteur in Erscheinung tritt, obwohl es dafür nicht legitimiert ist. Denn weder ist es aus Wahlakten hervorgegangen, noch sind Juristen diejenigen, die politische Fragen im Tagesgeschäft entscheiden sollten. Der EuGH nutzt seine Position, um das europäische Recht, das von den Nationalstaaten auf Europa delegiert worden ist, als genuines Verfassungsrecht zu interpretieren. Er suggeriert, die Verträge, insbesondere der Lissabon-Vertrag, seien eine Verfassungsurkunde, deren Rang nationalen Verfassungen zumindest gleichkäme oder ihnen sogar übergeordnet sei. Das ist aber eine höchst bedenkliche Deutung. Tatsächlich hat der EuGH in den letzten Jahren einige Entscheidungen gefällt, die von genau dieser Überordnung ausgehen. Beispielsweise haben sie die europäische Freizügigkeit höher bewertet als ein nationales Grundrecht auf Streik.4 Demokratietheoretisch ist das skandalös, weil da über Rechtsprechung ein Vertragswerk unter der Hand zur Verfassung aufgewertet und gegen nationales Grundrecht ausgespielt wird.
M.D.: Ja, zumindest für die genannten Fälle klingt die Kritik plausibel. Kommen wir zum Schluss auf die Frage nach dem Brexit zurück. Könnte man nicht argumentieren, dass der Brexit durchaus ein Ausdruck einer lebendigen Demokratie ist? Für die sogenannte „radikale“ Demokratietheorie ist es ja ganz entscheidend, dass jede verfestigte Ordnung trotzdem immer noch veränderbar ist. Dass Politik uns nicht durch Systemimperative auferlegt wird, sondern offen und umstritten bleibt. Hat der Brexit nicht genau das bekräftigt?
E.R.: Der Brexit ist in der Tat ein Einschnitt, weil er eine Vertragsbestimmung lebendig macht, die so nie als Anwendungsfall vorgesehen war. Die Opt-Out-Klausel ist ja in den Lissabon-Vertrag hereingekommen, weil man keine Verträge schließen sollte, ohne dass man ein Vertragsende im juristischen Sinne ins Auge fasst. Diese Klausel sollte bekräftigen, dass alle freiwillig Mitglied im Club sind. Aber dass jemand das tatsächlich anwendet, hatte sich niemand vorgestellt. Das Referendum, das der frühere britische Premierminister Cameron dann in die Wege geleitet hat, war seinerseits aber kein echter Akt direkter Demokratie, sondern ein Plebiszit. Es ging ihm eigentlich nur um Akklamation für seine europafreundliche Politik. Das ist dann aber gründlich schiefgelaufen. Die Akklamation sollte ja eigentlich andersherum stattfinden. An dieser Stelle hat sich also in der Tat ein demokratischer Reflex aufgetan. Die Bürger haben die Gefolgschaft verweigert. Aber im Rückblick wird natürlich deutlich, dass alles unter hochgradig manipulativen Bedingungen geschah. Unser Institutskollege Robert Flader hat das in seiner Forschungsarbeit zum Ablauf des Brexit wunderbar gezeigt. Die Befürworter des Austritts waren nicht gut informiert, sondern sind irgendwelchen Meinungsmachern und Manipulatoren aufgesessen.5 Das Volk hat widersprochen, ja, aber nicht mit Kompetenz und Bewusstsein, sondern in einer Art Follower-Kultur. Nun könnte man sagen, für Europa eröffnen diese Ereignisse die Möglichkeit einer radikalen Infragestellung – Sie hatten die Radikaldemokratie in Spiel gebracht…
M.D.: … für die etwa Autor(inn)en wie Jacques Rancière, Judith Butler oder Chantal Mouffe stehen…
E.R.: … ja, das könnte man an der Stelle anführen, denn der Brexit ist faktisch die Infragestellung einer Ordnung. Und das ist es ja, was etwa Rancière als Kern von Demokratie versteht.6 Aber es ist natürlich eine Infragestellung der Ordnung unter Bedingungen mangelnder Information und unter populistischen Vorzeichen. Der demokratische Effekt könnte aber tatsächlich sein, dass die Bevölkerung demnächst kritischer auf die Integration blickt und das Für und Wider gründlicher abwägt. Wir sehen das an einer höheren Zahl von Abgeordneten, die im Europäischen Parlament sitzen und dort systemkritische Positionen vertreten. Derzeit mehr von rechts als von links. Aber demokratietheoretisch ist das durchaus interessant, weil es eine Infragestellung der Ordnung innerhalb der Ordnung selbst ermöglicht. Das ist insofern ein kleines demokratisches Fenster, das aber unterfüttert werden müsste mit besserer Information, mit mehr Reflexivität und einer kritischeren Abwägung. Und alles das ist ja zumindest bei den Rechtspopulisten überhaupt nicht der Fall.
M.D.: Vielen Dank für das Gespräch!
- Etwa Jürgen Habermas, „Demokratie oder Kapitalismus?“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2013, S. 59-70.
- Dirk Jörke, Die Größe der Demokratie, Berlin, Suhrkamp, 2019.
- Pierre Rosanvallon, La Contre-Démocratie, Paris, Seuil, 2006.
- In den beiden Fällen ‚Viking‘ und ‚Laval‘ von 2007 ging es im Kern darum, ob Gewerkschaften streiken dürfen, um das nationale Lohnniveau zu verteidigen, wenn die Unternehmen grenzübergreifend tätig sind.
- Robert Flader, Die öffentliche Akzeptanz der Europäischen Union in Großbritannien, Berlin u.a., Peter Lang 2019.
- Etwa Jacques Rancière, La Mésentente, Paris, Galilée, 1995.
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