Zwischen Anarchismus und Rechtspopulismus: Die Gilets Jaunes
Teil 2: Die Zukunft nicht in die Gegenwart geholt
Dies ist der zweite und abschließende Teil der in der letzten Ausgabe begonnenen Analyse zu den Gilets Jaunes. Vorgestellt und analysiert wurde die Bewegung im letzten Heft unter den Stichpunkten: 1. „Nieder mit dem Staat“, 2. Oὐ-tópos: Die Insel im Kreisverkehr, 3. Der Schrei, 4. Gegner und Oppositionsprinzip, 5. Wortergreifung, 6. Willensbildung. 7. Individualismus der Singularität, 8. Bündnispartner, in Teil 2) 9. Leitideen, 10. Populismus oder Sehnsucht nach einfachen Lösungen, 11. Einheit des Volkes?, 12. Zauberformel: RIC, 13. Die Gewaltfrage, 14. Das Prinzip Demokratie.
Leitideen
Der Philosoph Etienne Balibar, der das Innovationspotenzial der Gilets Jaunes in dem Zusammentreffen zweier Ursachenkomplexe sieht – einerseits dem der Steuergerechtigkeit, andererseits dem des Widerspruchs zwischen Ökonomie und Ökologie –, führt drei Bedingungen für die erfolgreiche Weiterentwicklung der Bewegung an: erstens, Bündnisse mit anderen sozialen Bewegungen, zweitens, Zivilität, das heißt Widerstand gegen das Zahnradgetriebe wachsender Gewalt in der Auseinandersetzung mit dem Staat, drittens, eine politische Idee, die den rebellischen Aufschrei verlängern und als „Gegenmacht“ in den Institutionen verankert werden kann.1 Auch die Anarchisten unter den Gilets Jaunes machten im Dezember 2018 eine fehlende politische Leitidee als Defizit der Bewegung aus. Neue Formen des sozialen Miteinanders und der politischen Bewusstwerdung auf den Inseln im Kreisverkehr erkennend, lancierte die Fédération anarchiste „Selbstverwaltung“ und „libertären Föderalismus“ als Zielorientierung.2 Sie holte damit autogestion, die Leitidee der französischen 68er Bewegung, in die politische Debatte zurück und versuchte zugleich, die Stoßrichtung der Bewegung umzulenken: von den Rücktrittsforderungen an Macron hin zum Aufbau von Strukturen einer neuen, ‚anderen‘ Gesellschaft.
Präfigurative Politik zeichnete auch die Neue Linke aus, die in allen westlichen Industrieländern die zentrale Trägergruppe im Mobilisierungsprozess der 68er Bewegungen stellte. An die Stelle der Machteroberung im Staat trat für sie die Antizipation freier Selbstorganisation der Gesellschaft durch die Schaffung von „Gegenöffentlichkeit“: „Gegeninstitutionen“, „Gegenkulturen“ und „Gegenmilieus“. Sie sollten als autonome Räume für die experimentelle Erprobung alternativer Normen, Werte und Beziehungsstrukturen fungieren. Die Altermondialisten knüpften an diese Transformationsstrategie an, auch die Bewegung Nuit Debout, die 2016 die Place de la République besetzte, folgte ihr. Die Gilets Jaunes rezipieren bislang die aus dem Anarchismus kommende Leitidee nicht. Nicht präfigurative, sondern de-konstruktive Politik zeichnet ihre Transformationsstrategie aus. Sie holen die Zukunft nicht in die Gegenwart, um Elemente der ‚anderen‘ Gesellschaft antizipatorisch zu erproben, sondern begehren gegen Entwicklungen auf, die die Gegenwart bestimmen, ohne über eine konkrete Utopie oder eine systematische Programmatik zu dem zu verfügen, was an ihre Stelle treten soll.
Populismus oder Sehnsucht nach einfachen Lösungen
Die Gilets Jaunes klagen mit Worten und Taten die Kluft zwischen „der Elite“ und „dem Volk“ an. Staatspräsident Macron, der aufgrund seiner Ausbildung – Abitur am Elitegymnasium Henry IV in Paris, Aufnahme in die Ecole Normale Supérieure (ENS), Studium am Institut d’Etudes Politiques (Sciences-Po, Paris) sowie an der Ecole Nationale d’Administration (ENA) – die französische Elite exemplarisch repräsentiert, fungiert als Zielscheibe. Zieht man analytische Kriterien der sozialen Bewegungsforschung heran, lassen sich Bewegungen, die den Anspruch erheben, „die Kleinen“ gegen „die Großen“, „die da unten“ gegen „die da oben“ zu vertreten, als populistisch klassifizieren. Populismus, so der Soziologe Georg Vrobuba, „ist die Sehnsucht nach einfachen Lösungen angesichts komplexer, undurchsichtiger gesellschaftlicher Verhältnisse“. Die Forderung „Macron-Destitution“ spiegelt eine solche Sehnsucht wider. Das Spiel mit historischen Masken (Emmanuel Macron = Ludwig XVI, Brigitte Macron = Marie Antoinette) verstärkt sie. Es offenbart traditionale Sehnsüchte in posttraditionalen Zeiten, ein weiteres Kennzeichen populistischer Bewegungen.3 Suggerieren die symbolisch auf Kreisverkehrsinseln errichteten Guillotinen doch, dass nach dem Sturz des Königs alles anders wird.
Der Philosoph Bruno Latour warnt. Das „Volk“ könne sich heute nicht mehr so befreien wie das „Volk“, das die Bastille und den Sommerpalast erobert habe. Die Große Revolution 1789 habe die Gesellschaft verändern können, weil die materielle Infrastruktur viel weniger komplex gewesen sei. „Heute würde die Guillotinierung des Königs den Ölkreislauf nicht um einen Hektoliter verändern.“ Die Verbindung von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit erfolgreich zu gestalten, laute die neue Aufgabe. Um diese zu erfüllen, seien, so Latour weiter, zwei schwierige Prüfungen zu bestehen: Das „Volk“ müsse etwas Relevantes über eine völlig neue Situation sagen, und die Regierung müsse wirklich zuhören, sich einlassen auf Ideen und Vorschläge, um den Staat neu aufzubauen. Es hieße, Rousseau zu viel Vertrauen zu schenken, wenn man es dem „Volk“ zutraue, in seiner großen Weisheit, spontan sich aus der Sackgasse zu befreien.4
Einheit des Volkes?
Der Elite, wahrgenommen als arrogant und korrupt, setzen populistische Bewegungen – so ein drittes Kennzeichen – die Konstruktion des „Volkes“ als einheitliches Ganzes und moralische Entität entgegen. Occupy Wallstreet beanspruchte, 99 Prozent der Bevölkerung zu vertreten. Auch die Gilets Jaunes erheben einen sozialmoralischen und politischen Alleinvertretungsanspruch. Sie lehnen das Parlament als Volksvertretung ebenso ab wie Parteien und Gewerkschaften als Vermittler zwischen Bevölkerung und politischem System. Sie setzen auf das direkte Mandat. Was der Volkswille ist, wird in populistischen Bewegungen nicht durch Reden und Streitgespräche ermittelt. Der ‚wahre‘ Volkswille wird als zutage liegend gedacht.5 Die fehlende Streitkultur unter den Gilets Jaunes, das Nebeneinander sich ausschließender Stellungnahmen (etwa bei Problemen wie Homophobie oder Antisemitismus) sowie konkurrierender Definitionen ihrer zentralen Forderung nach Einführung eines référendum d’initiative citoyenne (RIC) sind daher ein viertes Elemente, das die populistische Struktur der Bewegung kennzeichnet.
Bis in die Sprache hinein reicht der Alleinvertretungsanspruch. Der vom Staatspräsidenten initiierten öffentlichen Debatte (grand débat), geführt in Rathäusern, Schulen und Turnhallen im ganzen Land, setzen die Gilets Jaunes eine vrai débat entgegen, für die sie eine Internet-Plattform einführen.6 Sie sind nicht nur antielitär, sondern grundsätzlich auch antipluralistisch. Das soziale Rechtsempfinden artikuliert zu haben und damit die soziale Frage wieder ins Zentrum der Politik gerückt zu haben7, macht ihre Stärke, ihre Strahl- und Anziehungskraft aus. Das soziale Rechtsempfinden ist jedoch, folgt man Bruno Latour, „comme l’amour maternelle, tout le monde est pour.“ Indes: „Cela veut dire quoi, d’un point de vue pratique?“8
Die Einheit des Volkes ist eine Fiktion. Das Volk ist polyphon (Rosanvallon). Im Prozess der Herstellung sozialer Gerechtigkeit brechen zwangsläufig Interessengegensätze auf. Die Konstruktion des einheitlichen Volkes ist daher „das Trügerische in der Einfachheit des Populismus“. Aber „das Trügerische“ trug und trägt zur Mobilisierungsdynamik der Gilets Jaunes bei.9 „Fouquet à nous“ hieß die Maxime der Zerstörung des Restaurants Fouquet, einem Treffpunkt der Geld- und Macht-Schickeria, auf den Champs-Elysées. Wer das „Wir“ ist, ob es ethnopluralistisch (vom Rechtspopulismus) oder kosmopolitisch (vom Linkspopulismus) definiert wird sowie auf welchem Weg die Bewegung „Fouquet“ übernehmen will, blieb unbestimmt. Abschreckend wirkte dies nicht. „Quand j’ai vu casser le Fouquet’s, ce symbole de l’oligarchie,“ kommentiert eine Gilet Jaune, „je ne dis pas que j’étais satisfaite mais je ne suis plus contre.“10 Gewaltsame Aktionen der Bewegung wurden als „notwendiges Übel“ angesehen – ohne sie, so die Überzeugung einer Mehrheit unter den Demonstrierenden im März 2019, werde die Bewegung nicht gehört.11 Was soll gehört werden?
Die Regierung hat bereits im Dezember die Karbonsteuer zurückgenommen, Staatspräsident Macron zudem am 10. Dezember den Mindestlohn erhöht und Steuerbefreiung für Überstunden zugesagt. Er hat als Konsequenz der grand débat im April 2019 u.a. eine Mindestrente von 1.000 Euro angekündigt, die Fixierung des Renteneintrittsalters auf 62 sowie Renten bis zu 2.000 Euro von der Besteuerung entlastet – insgesamt ein Sozialleistungspaket von 17 Milliarden. Den Gilets Jaunes ist das nicht genug. Ihnen geht es um mehr.
Zauberformel: RIC
Die zentrale Forderung der Bewegung heißt Referendum d’initiative citoyenne (RIC), ein durch Bürgerinitiative eingeleitetes Referendum. Die Forderung stößt auf breite Zustimmung. 70 Prozent der Franzosen sind davon überzeugt, dass die jetzige Demokratie nicht gut funktioniert. RIC ist eine Zauberformel, mit der die Defizite der repräsentativen Demokratie überwunden werden sollen. Was unter RIC zu verstehen ist, welche Kompetenzen mit ihm verknüpft werden, wie es herbeigeführt werden kann, ist jedoch innerhalb der Gilets Jaunes umstritten. Es kann als eine Stärkung der direkten Demokratie nach dem Vorbild der Schweiz oder Schwedens gedeutet und damit als radikaldemokratisch eingestuft werden. RIC kann aber auch antidemokratisch gewendet werden.
Vertreter der Gilets Jaunes haben im Dezember 2018 in Versailles vor dem Saal des Ballhaus-Schwurs des Dritten Standes 1789 ein Versprechen abgegeben, „de ne pas se séparer avant d’avoir obtenu la présentation au peuple français par référendum du référendum d’initiative citoyenne, du recul des privilèges de l’Etat et de la baisse des prélèvements obligatoires“.12 Zugleich haben sie in Versailles bekannt, dem Volke das Recht zu geben, eine Volksabstimmung einzuleiten, um die Verfassung zu ändern und jede Änderung der Verfassung (ohne Referendum) zu verbieten.13 Das Referendum soll dem Volk zudem das Recht geben, „de rédiger ou d’abroger une loi sur le sujet qu’il choisit“ sowie „de demander un référendum sur toutes les lois votées par le Parlement“. Es soll schließlich den Präsidenten der Republik verpflichten, „à présenter tous les traités, accords et pactes internationaux au référendum avant ratification“.14
Die Gilets Jaunes erheben damit die Forderung nach einer plebiszitären Umwandlung der repräsentativen Demokratie, die verfassungsmäßig ausgeschlossen ist, aber von rechten Denkern wie Etienne Chouard befürwortet wird, der – im Kreis der Gilets Jaunes häufig zitiert – dafür eintritt, dem, aus seiner Sicht, antidemokratischen, oligarchischen System ein Ende zu bereiten und dabei davon ausgeht, dass es reicht, der Oligarchie die Macht aus den Händen zu nehmen. Auch Alain de Bénoist, der intellektuelle Vordenker der französischen Neuen Rechten, hat die Gilets Jaunes von Anfang an unterstützt. Er sieht Frankreich vor einer „neuen Großen Revolution“ und proklamiert, es werde Zeit, von der „VI. Republik“ zu sprechen. Die Gefahr einer antidemokratischen Auslegung wird bekräftigt durch die Kandidatur einer von Christophe Chalençon angeführten Gilets Jaunes-Liste für die Europawahl, die den Namen Evolution citoyenne trägt. Chalençon hat wiederholt öffentlich erklärt, den „Bürgerkrieg“ anzustreben und den Einsatz der Armee zur Absetzung des Präsidenten der Republik gefordert. Seine Liste versammle, so hat er erklärt, „gens d’extrême droite jusqu’à l’extrême gauche“.15 Bei den diesjährigen Europawahlen erhielt sie 0.01 Prozent der Stimmen.
Die Gewaltfrage
Ultrarechte und ultralinke gewalttätige Gruppen begleiten die Proteste der Gilets Jaunes von Anfang an. Ihre Mitglieder – darunter viele Frauen – sind jünger als der Durchschnitt der Gilets Jaunes, in der Regel zwischen 16-17 und 45-50 Jahre alt und verfügen über eine gute physische Konstitution.16 Sie marschieren im Demonstrationszug mit und warten im Schutz der friedlich Demonstrierenden auf den geeigneten Moment, die legale Aktion in eine illegale zu überführen. Ihr Augenmerk ist auf Symbole der Republik (Gebäude, Monumente, Plätze, Straßen) sowie der Gesellschaft der Reichen gerichtet. Der Schwarze Block, der am 1. Mai an der Spitze des Zuges auftauchte, setzte sich aus einer Vielzahl kleiner linksradikaler – anarcho-autonomer, anti-faschistischer, revolutionär-syndikalistischer – Splittergruppen zusammen. Ihre Einheit entsteht in der Aktion. Die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols bestreitend, versuchen sie, sich diesem zu widersetzen. Zu ihren Taktiken gehört es, die Polizei zu Gewalteinsätzen zu provozieren, um die Staatsgewalt zu diskreditieren, Solidarität mit den Opfern der Polizeigewalt zu evozieren und dergestalt die Mobilisierung der Bewegung zu fördern oder aber aufrechtzuerhalten. „Revolution“ rufend, wie am 1. Mai in Paris, folgen sie einer subjektiven Emanzipationsstrategie der Selbstveränderung durch „Widerstand“, der individuellen Selbstbefreiung von verinnerlichten Herrschaftsstrukturen durch „Gegengewalt“. Die Politik der ersten Person, die sie verfolgen, negiert das Repräsentationsprinzip und fügt sich nahtlos ein in den „Individualismus der Singularität“, der die Gilets Jaunes charakterisiert.
Die extreme Rechte, die von Anfang an ebenfalls unter den Gilets Jaunes vertreten ist, provoziert wie die extreme Linke durch gewaltsame Aktionen, verfolgt damit jedoch ein anderes Ziel. Sie setzt das Mittel der gewaltsamen Aktion ein, um Chaos zu schaffen, damit die Bevölkerung, konfrontiert mit chaotischen Zuständen wie der Zerstörung und Plünderung von Marken-Geschäften auf den Champs-Elysées, nach Ordnung ruft und eine hierarchisch-autoritäre oder auch militärisch-diktatorische Ordnung die bestehende Regierung ablösen kann. Das Kräfteverhältnis innerhalb der Gilets Jaunes ist umstritten. Marine Le Pen reklamiert seit November 2019, „ce sont les nôtres qui sont dans la rue.“ Le Monde schreibt ihrem Rassemblement National (RN) im März 2019 36% der Aktivisten und 37% der Sympathisanten der Gilets Jaunes zu.17
Gewalt entsteht in sozialen Bewegungen nicht nur durch gewaltbereite Gruppen. Gewaltsame Aktionen der Bewegung können auch in Reaktion auf repressive Polizeieinsätze in einem Wechselspiel von Aktion und Reaktion zu einer Eigendynamik der Gewalt führen. Die französische Polizei hat durch den Einsatz von Gummimunition (LDB) die Gefahr schwerer Körperverletzungen nicht nur in Kauf genommen, sondern tatsächlich Menschen verletzt. Die Geschosse, eingesetzt, um die Demonstrierenden auf Distanz zu halten, wurden von der Kommissarin für Menschenrechte bei der UNO, Michelle Bachelet, kritisiert, und die Regierung wurde zur Untersuchung der Einsätze aufgefordert. Die Zahl der Verletzungen von Demonstrierenden – Männern und Frauen – ist hoch. Insgesamt sind mehr als 13.000 Schüsse abgegeben worden. Seit Beginn der Bewegung gibt es, so der Staatsekretär im Innenministerium Laurent Nunez im März 2019, 2.200 von den Gummigeschossen Verletzte unter den Gilets Jaunes und 83 den Einsatz betreffende Untersuchungen.18 Unter Bezugnahme auf Emile Zolas Intervention in die Dreyfus-Affäre begehrten französische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit einem kollektiven Appell „Nous accusons“ gegen den repressiven Polizeieinsatz auf.19
Auch die UNO kritisierte den Einsatz der LDB-Geschosse. Frankreich hat diese Kritik mittlerweile zurückgewiesen. Die kritisierten Gummigeschosse wurden eingeführt in Reaktion auf die 68er Bewegung. Sie sollten den Schlagstock ersetzen, Distanz zwischen Polizei und Demonstrierenden schaffen und so Körperverletzungen vermeiden. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Der Einsatz von Gewalt gegen die Gilets Jaunes regte zahlreiche Kommentatoren zum Vergleich mit der staatlichen Gewalt gegen die 68er Bewegung an.
Das Prinzip Demokratie
Soziale Bewegungen können nicht dauerhaft in Bewegung bleiben. Sie zerfallen nach einer Phase der Mobilisierung, werden überführt in Organisationen mit spezifischen Aufgaben, integrieren sich in bestehende politische Parteien, werden selbst zu neuen Parteien oder formieren sich zu Nachfolgebewegungen. Die Gründung neuer Parteien am Ende des Mobilisierungsprozesses der Gilets Jaunes scheint ausgeschlossen, da die Parteien, die die Bewegung stützen, bereits bestehen: das Rassemblement National (Marine Le Pen) und La France insoumise (Jean Luc Mélenchon). Die gelben Listen zur Europawahl werden sich, so die Prognose, nicht langfristig in Frankreich etablieren.
Um die Proteste in institutionelle Bahnen zu überführen schlagen die Gilets Jaunes die Einberufung einer assemblée constituante, einer verfassungsgebenden Bürgerversammlung vor. Gefordert werden zu ihrer Vorbereitung „cercles constituants pour lancer la réflexion collective, tant sur le cadre institutionnel futur dont la France devra se doter, que sur les règles de vie collective pour les mettre en partage.“20 Partizipation durch eine Konstituante, welche die Weichen stellt für Frankreichs sechste Republik? Hinter der Forderung nach einer „realen“ Demokratie, participatory democracy, wie die 68er Bewegung sie erhob, bleibt die Vision der Gilets Jaunes zurück. Der Politikbegriff bleibt staatsbezogen, Demokratie als Lebensform, die Demokratisierung alle Teilbereiche der Gesellschaft geraten nicht in den Blick.
Setzte der Appell aus den Reihen der Gilets Jaunes auf die Schaffung einer neuen Verfassung und neuer Institutionen, reagierte Staatspräsident Macron mit dem Vorschlag einer Reform der Verfassung und der Institutionen. In seiner Ansprache am 26. April 2019 schlug er die Modifikation des RIP (réferendum d’initiative partagé) vor, das seit 2008 Teil der Verfassung ist, aber bislang noch nicht angewandt wurde. Macrons Vorschlag sieht die Möglichkeit eines Referendums per Bürgerinitiative vor, wenn eine Millionen Bürger sich dafür aussprechen (bislang ist ein Minimum von 4,7 Millionen vorgesehen) und ein Fünftel der Parlamentsabgeordneten dieses Bürgerinitiative-Referendum unterstützt. Er spricht sich für weitreichende Dezentralisierungen politischer Entscheidungskompetenzen aus, wodurch lokale Institutionen gestärkt werden sollen. Er trägt zudem der Forderung der Gilets Jaunes nach Reduktion der Anzahl der Parlamentarier Rechnung.21
„Das Erwachen einer ‚Politik der Straße‘ hat“, so die Soziologen Albert Ogien und Sandra Laugier, das Prinzip der Repräsentation selbst zum Gegenstand des Konflikts zwischen Regierenden und Regierten gemacht. Zwei Formen der Kritik zeichnen sich jedoch dabei ab: externe und interne Kritik. Während die externe Kritik die Demokratie als überholt ansieht und durch eine autoritäre Macht zu ersetzen sucht, ruft die interne Kritik zu einer Radikalisierung der Demokratie auf.22 Die Bewegung der Gilets Jaunes umfasst beide. Die Heterogenität der Bewegung erschwert die Diagnose ihrer politisch-sozialen Wirkung, bleibt doch offen, welche Kritik sich durchzusetzen vermag.
Festzuhalten bleibt: Die Gilets Jaunes haben in Frankreich die größte soziale Krise seit 1968 ausgelöst. Sie haben effektvoll eine Regierung, die über eine absolute Mehrheit im Parlament verfügt, in eine schwere Legitimationskrise gebracht. Sie haben die von dieser Regierung verfolgte Politik der neoliberalen Erneuerung grundlegend in Frage gestellt. Exemplarisch haben sie mit ihren Protesten damit auch politisch-ökonomische Entwicklungen offengelegt, die andere europäische Länder – darunter die Bundesrepublik Deutschland – prägen. Sie haben Personen und Lebenslagen sichtbar gemacht, die bislang nicht in der öffentlichen Debatte vertreten waren. Sie haben dadurch einen Gesellschaftszustand enthüllt, der auch in den Nachbarländern zu sozialen Protesten führen kann. Sie haben durch ihr Engagement die soziale Frage ins Zentrum der Politik zurückgeholt und dazu beigetragen, die ökologische Frage nicht nur durch finanzielle Belastung derer zu lösen, für die Autofahren kein Luxus ist, sondern conditio sine qua non ihrer Teilhabe an der Arbeitswelt. Sie haben den Blick auf den Zusammenhang zwischen sozialer und ökologischer Frage geschärft. Indes, Visionen und Wege zur Lösung der sozialen und ökologischen Krise haben sie aus sich heraus nicht hervorgebracht. Sie haben vielmehr die Potenziale, aber auch die Gefahren populistischer Bewegungen jenseits der populistischen Parteien deutlich gemacht.
1) https://blogs.mediapart.fr/etienne-balibar/blog/131218/gilets-jaunes-le-sens-du-face-face (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 11. Juni 2019 aufgerufen).
2) Fédération anarchiste, „Communiqué“ vom 9. Januar 2019, http://www.federation-anarchiste.org.
3) Georg Vrobuba, „Die Logik des Populismus“, in: Der Standard vom 26. April 2019, https://derstandard.at/2000102125231/Die-Logik-des-Populismus; ders., „Die populistische Anrufung der Gemeinschaft“, in: Helmut Dubiel (Hg.), Populismus und Aufklärung, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1986, S. 221-247, hier S. 221.
4) https://www.lemonde.fr/idees/article/2019/01/09/bruno-latour-faisons-revivre-les-cahiers-de-doleances_5406572_3232.html.
5) Jan-Werner Müller, Was ist Populismus. Ein Essay, Berlin, Suhrkamp, 2016, S. 48.
6) Zugang über https://www.le-vrai-debat.fr.
7) https://www.lemonde.fr/idees/article/2018/11/27/gerard-noiriel-les-gilets-jaunes-replacent-la-question-sociale-au-centre-du-jeu-politique_5389042_3232.html.
8) https://reporterre.net/Bruno-Latour-Les-Gilets-jaunes-sont-des-migrants-de-l-interieur-quittes-par.
9) Vrobuba, „Logik des Populismus“, a.a.O.
10) https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/03/16/il-n-y-a-que-quand-ca-casse-qu-on-est-entendu-recit-d-une-journee-de-violences-des-gilets-jaunes-a-paris_5437197_3224.html.
11) https://www.lemonde.fr/societe/article/2019/03/20/la-violence-un-mal-necessaire-pour-les-gilets-jaunes_5438882_3224.html.
12) https://www.lemonde.fr/politique/article/2018/12/13/des-gilets-jaunes-demandent-a-macron-des-reponses-a-la-crise-democratique_5397045_823448.html.
13) https://www.lemonde.fr/societe/article/2018/12/14/gilets-jaunes-incertitude-sur-la-mobilisation-apres-strasbourg-et-l-intervention-de-macron_5397240_3224.html; vgl. auch https://reseauinternational.net/le-serment-du-jeu-de-paume-des-gilets-jaunes.
14) Ebd.
15) https://www.liberation.fr/politiques/2019/05/03/europeennes-tout-le-monde-veut-etre-sur-liste-jaune_1724853.
16) https://www.medias-presse.info/la-violence-dextreme-gauche-qui-surfe-sur-les-gilets-jaunes/106297; vgl. auch Éric Delbecque, Les Ingouvernables, de l’extrême gauche utopiste à l’ultragauche violente, Paris, Grasset, 2019.
17) https://www.lemonde.fr/politique/article/2019/03/12/marine-le-pen-ne-realise-pas-l-opa-esperee-sur-le-mouvement-des-gilets-jaunes_5434643_823448.html.
18) https://www.lepoint.fr/societe/gilets-jaunes-plus-de-13-000-tirs-de-lbd-recenses-07-03-2019-2299070_23.php.
19) https://blogs.mediapart.fr/les-invites-de-mediapart/blog/040519/nous-accusons-0, vgl. auch Ludivine Batigny, „Un événement“, in: Le fond de l’air est jaune. Comprendre une révolte inédite, Paris, Seuil, 2019, S. 45-55.
20) https://www.liberation.fr/debats/2019/05/08/gilets-jaunes-c-est-au-peuple-qu-il-appartient-d-ecrire-la-suite-de-l-histoire_1725666.
21) https://www.lemonde.fr/politique/video/2019/04/26/institutions-impots-services-publics-les-annonces-d-emmanuel-macron_5455025_823448.html.
22) Albert Ogien/Sandra Laugier, Das Prinzip Demokratie. Über Formen des Politischen, Konstanz, University Press, 2017, S. 30ff.
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