„Zwischen Patriotismus und Nationalismus liegen Welten“

Im Oktober 2015 hat Justizminister Félix Braz den Vorentwurf für ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz vorgestellt, in dem u.a. das erforderliche Sprachniveau zur Erlangung der luxemburgischen Staatsangehörigkeit abgesenkt wird. Vor diesem Hintergrund analysieren der ADR-Abgeordnete Fernand Kartheiser und der ADR-Generalsekretär Alex Penning im Interview die Bedeutung von Nation und Nationalität.

Was sind für Sie die Bestandselemente einer Nation?

Alex Penning: Eine Nation teilt eine gemeinsame Vergangenheit und Kultur. Zum Verständnis von Nation kann auch eine gemeinsame Religion zählen und sicherlich auch eine gemeinsame Sprache, obwohl es Gegenbeispiele gibt wie z.B. die Schweiz, Belgien oder Kanada, die sich als mehrsprachige Nationen verstehen.

Fernand Kartheiser: Staatsrechtlich gesehen besteht das Staatsvolk aus der Bevölkerung, die in einem gewissen Territorium lebt. Ein Staat braucht keine Nation, um als völkerrechtliches Subjekt zu existieren. Die eigentliche Definition der Nation variiert je nachdem was man in den Vordergrund stellen möchte und in welcher politischen Situation sich eine Nation geformt hat. Der Begriff „Nation“ kann zum Beispiel die Bewohner eines bestimmten Gebietes umfassen oder den Fokus auf kulturelle Elemente legen. Meist haben wir es mit einer Kombination dieser Elemente zu tun. Fest steht jedoch, dass in der Bevölkerung ein Wille bestehen muss, sich selber als Nation zu verstehen sowie eine Willensdefinition über den Zugang zu dieser Nation. Konkrete Kriterien der „Zulassung“ unterscheiden sich dann natürlich je nach Land. Das Ergebnis des Referendums zur Erweiterung des Wahlrechts auf Nicht-Luxemburger, dessen Befürworter den Begriff der Nation an sich in Frage stellten, bedeutete eigentlich ein „Ja“ zum klassischen Nationalitätenbegriff.

Wo würden Sie denn die Geburt des Luxemburger Nationalgefühls historisch verorten?

F.K.: Man kann den Begriff der Nation nicht von der politischen und sozialen Geschichte Europas lösen und muss erkennen, dass sich die Identifikationsmerkmale im Laufe der Geschichte verändert haben. Lange Zeit hat sich der Begriff aus dem Verhältnis zu einer vorgegebenen feudalen Herrschaftsstruktur definiert, bis er durch politische Entwicklungen, insbesondere seit der Französischen Revolution, anders verstanden wurde, je nachdem auch in Opposition zum monarchischen Prinzip. Gemeinsame Erlebnisse wie Kriege oder auch religiöse Konflikte haben dazu beigetragen, dass sich Schicksalsgemeinschaften herausbildeten, die weiter gingen als die Loyalität gegenüber einem Herrscherhaus.

1839 wurde Luxemburg unabhängig. Würden Sie diesen Zeitpunkt als Geburt einer luxemburgischen Nation oder eines luxemburgischen Nationalstaates betrachten?

F.K.: Schon unter der Habsburger Monarchie und anderen großen Imperien des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit war „Luxemburg“ ein fester Begriff, obwohl er zeitweise keiner territorialen Realität mit einer eigenen Verwaltungsstruktur entsprach. Der Moment der Unabhängigkeit hat sicherlich den Nationalstaat begründet und dazu beigetragen, das Nationalgefühl durch klare Grenzen zu stärken. Ich finde es jedoch gewagt zu behaupten, das luxemburgische Nationalgefühl habe sich erst im 19. Jahrhundert herausgebildet. Der Moment dieser Geburt ist nicht präzise nachweisbar. Letztlich handelt es sich hierbei um eine politische Entscheidung.

Sie haben den Begriff „Konflikt“ als Motor für das Nationalgefühl erwähnt und reden öfters vom „Beschützen“ der luxemburgischen Sprache. Wird das Zugehörigkeitsgefühl zur Nation insbesondere durch eine gefühlte Bedrohung mobilisiert?

A.P.: Das Nationalgefühl kann auch durch andere Aspekte mobilisiert und gestärkt werden, wie z.B. durch große Sportveranstaltungen.

F.K.: Bedrohung kann dabei eine Rolle spielen. Diese kann militärischer Natur sein, aber auch andere Herausforderungen können ein Kollektiv von Menschen mobilisieren. Die Einführung des Sprachengesetzes von 1984 kann man zum Beispiel als Abwehrreaktion auf einen Artikel in der rechtspopulistischen Deutschen National-Zeitung verstehen, in dem behauptet wurde, dass Luxemburg keine eigene Sprache hat. Die Bürger fühlten sich in ihrer kulturellen Identität herausgefordert.

Zudem können Ideologien, wie z.B. der Kommunismus, in dem Religion und Nation keine Bedeutung haben, eine Bedrohung für eine Nation darstellen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten wir dort eine Renaissance der Religion und der Nationen beobachten. Demnach muss das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Nation einem tiefen menschlichen Bedürfnis entsprechen. Wenn das für die baltischen Staaten galt, dann gilt es auch für Luxemburg. Der Verteidigungsbegriff ist somit nicht unbedingt militärisch; es handelt sich eher um ein menschliches Bedürfnis, sich gegen aufgezwungene Entwicklungen und Vorfälle zu verteidigen.

Kann solch eine Bedrohung auch interner Natur sein?

F.K.: Ja, denn eine Nation kann Situationen ausgesetzt sein, wo sie Angst hat um ihr eigenes Überleben. Eine Nation, die sich ursprünglich als gefestigt sah, kann im Laufe der Geschichte durch Teile der Nation, bestimmte Gruppen oder wirtschaftliche Entwicklungen in Frage gestellt werden. Auch in Luxemburg wurde die Nation beim Referendum in Frage gestellt, als behauptet wurde, die Nation müsse man in einem weiteren Sinne verstehen. Die Neuinterpretation eines bis dato einhellig akzeptierten Gesellschaftsbegriffs kann somit sicherlich auch als Bedrohung empfunden werden.

Ist die Monarchie ein essentieller Bestandteil der Luxemburger Nation?

A.P.: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Luxemburg auch als Republik funktionieren könnte. Der Staat und die Nation wären im Rahmen einer Republik nicht in Gefahr. Anhänger der Monarchie zu sein, ist nicht unbedingt ein Kriterium, um Teil der Luxemburger Nation zu sein.

Denken Sie, dass man sich die luxemburgische Nationalität verdienen muss?

A.P.: Das Wort „verdienen“ scheint mir nicht angemessen. Es handelt sich nicht um einen Verdienst, sondern um das Erfüllen und Respektieren von Gesetzen.

F.K.: Der Begriff „verdienen“ ist Teil des politischen Oppositionsvokabulars. Doch jenseits des politischen Konfrontationsdiskurses wissen auch wir, dass es sich bei der Erlangung der Nationalität nicht um einen Verdienst handelt, sondern um einen beidseitigen Prozess: Auf der einen Seite brauchen wir einen klaren Integrationswillen, auf der anderen Seite zugleich die Offenheit, jemanden als Teil der nationalen Gemeinschaft aufzunehmen. Der Begriff „verdienen“ übersetzt nicht das reale Verhältnis, ist jedoch als „Kampfbegriff“ nicht schlecht.

Die ADR spricht in ihrer Analyse zum Vorentwurf des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft von einer „Charte des droits et devoirs“. Welche Elemente müsste eine solche Charta enthalten?

A.P.: In dieser Charta ginge es vor allem um Ehrenhaftigkeit. Weshalb wurde im Regierungsvorentwurf die Option des Widerrufs der luxemburgischen Staatsbürgerschaft herausgenommen? Im Gesetz von 2008 ist der Widerruf vorgesehen. Anscheinend findet das Justizministerium die Option des Widerrufs nicht wichtig, weil solche Fälle marginal sind. Neben der Ehrenhaftigkeit ist es außerdem wichtig, über gewisse Kenntnisse der luxemburgischen Geschichte und Sprache zu verfügen. Wie man diese überprüft, das sind Details. Die Erlangung der Staatsbürgerschaft bleibt unserer Meinung nach aber vor allem der Vorbedingung der Ehrenhaftigkeit unterworfen: „N’est pas Luxembourgeois qui veut“.

Wann wäre man denn nicht mehr ehrenhaft genug, um die Luxemburger Staatsangehörigkeit zu besitzen?

A.P.: Ehrenhaftigkeit bezieht sich in diesem Fall auf das Strafregister. Wenn man die luxemburgische Staatsbürgerschaft zum Beispiel durch Betrug erlangt, muss sie widerrufbar sein. Ein anderes Beispiel wäre die Gefährdung der Staatssicherheit durch bestimmte, im Strafgesetzbuch definierte Verbrechen.

…mit dem Risiko, dass jemand staatenlos wird?

A.P.: Natürlich. Das wäre dann die Folge.

F.K.: Wir leben in einer Schönwetterperiode trotz aller Probleme, die uns in Europa beschäftigen. Daraus hat sich eine Mentalität entwickelt, die es uns erlaubt, sehr entspannt über Nationalität zu diskutieren. Das war aber nicht immer so und muss auch nicht immer so bleiben. Der Begriff der Nationalität bedeutet nämlich auch Loyalität zum Staat. Nehmen wir das Beispiel der doppelten Nationalität im Falle eines Krieges. Jeder Staat hat einen berechtigten Anspruch, die Loyalität seiner Staatsbürger einzufordern. Politische Fragen betreffen eben nicht nur den Zeitraum bis zu den nächsten Wahlen und es ist wichtig, eine zwar nicht wünschenswerte, aber doch mögliche Veränderung der Rahmenbedingungen in Betracht zu ziehen.

Sie verwerfen also grundsätzlich das Konzept der doppelten Nationalität aufgrund eines potenziellen Loyalitätskonfliktes?

F.K.: Wir haben seinerzeit gegen das Gesetz über die doppelte Nationalität gestimmt, aber im Nachhinein unseren Frieden damit geschlossen, weil dieses Recht vorteilhaft für den Integrationsprozess in Luxemburg ist. Diese Haltung ist das Resultat unserer politischen Einschätzung der Konsequenzen dieses Gesetzes, weil es der Spezifität des Landes entspricht, zumindest im Augenblick.

Wäre es erstrebenswert, künftige Arbeitskräfte, die zur Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Wachstums notwendig sind, zu Luxemburgern zu machen?

F.K.: Wir können dieses Wirtschaftswachstum nicht weiterführen und müssen alles reformieren, was uns zwingt, hohe Wachstumsraten zu generieren und was unsere Wirtschaft auf diese Weise von ausländischen Arbeitskräften abhängig macht. Eine proaktivere Integrationspolitik ist unabdinglich, wenn wir ein geordnetes Zusammenleben und keine Parallelgesellschaften möchten. Wir können uns nicht darauf beschränken, uns gegenseitig in einer multikulturellen Gesellschaft bereichern zu wollen. Das reicht nicht. Wir sind den Menschen, die nach Luxemburg kommen, schuldig, sie vollständig zu integrieren. Falls uns das nicht gelingt, z.B. durch die Sprache, dann können sie an einem großen Teil unseres Lebens nicht teilnehmen. Ohne proaktive Integrationspolitik werden ausländische Bürger ausgeschlossen und riskieren, sich selbst auszuschließen.

…demnach wirkt die Gleichstellung von „Luxemburger“ und „luxemburgisch“ absolut. Eine zum Teil gemeinsame Sprache und gemeinsame Geschichte gibt es mit den Grenzregionen Luxemburgs. Hätten die Bewohner aus Belgiens Provinz Luxemburg, falls dieser Staat zusammenbräche, ein Recht auf Anschluss? Kurz gefragt: Sind Sie eine Art luxemburgischer Irredentist?

F.K.: Um Himmels willen! Fest steht jedenfalls: Wir haben keine Expansionsansprüche. Falls ein Nachbarstaat tatsächlich auseinanderfallen würde, was trotz historischer Spannungen unwahrscheinlich ist, wäre es an den Bewohnern zu entscheiden, welchem Staat sie angehören wollen. Die Umstände in unserer Region ersparen uns eine politische Reflexion über solch ein hypothetisches Problem. Solange nicht massiv Minderheitenrechte in Belgien verletzt werden, gilt einzig und allein die Souveränität des belgischen Staates.

Soll das Projekt Europa, so wie wir es heute kennen, weiter vertieft werden?

F.K.: Im luxemburgischen Parlament gibt es keine antieuropäische Partei oder eine solche, die sich der europäischen Konstruktion widersetzen würde. Es stellt sich aber die Frage, wie dieses Projekt umgesetzt wird. Hier gibt es markante Unterschiede zwischen der föderalistischen Europapolitik der CSV, die einen europäischen Staat anstrebt, und der ADR, die Europa auf souveräne Nationen aufbauen möchte. Das heißt aber nicht, dass wir Nationalisten sind: Zwischen Patriotismus und Nationalismus liegen Welten. Wir haben breites Verständnis für eine offene europäische Politik, aber Europa kann nur gebaut werden, wenn es nicht von oben herab diktiert wird.

Vielen Dank für das Gespräch! 

Das Interview wurde am 15. Januar 2016 geführt (KN, AS, PL).

 

 

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