Zwischen Sinn und Wahn

Einführung ins Dossier

Neulich lief der putzige Spot durch den New Yorker Stadtteil Bronx. Dem Sender FreedomNewsTV zufolge war der pfiffige Vierbeiner für die New Yorker Polizei im Einsatz, nachdem es im Viertel zu einem bewaffneten Einbruch gekommen war. Soweit, so gut. Wo ist das Problem? Für Aufsehen sorgte ein auf YouTube hochgeladenes Video des Einsatzes, weil Spot kein Hund, sondern ein Roboter ist, der, mit Lampen und Kameras ausgestattet, die Polizei da ersetzen kann, wo sie sich selbst nicht mehr hin traut. Erinnert irgendwie an die sogenannte saubere Drohnen-Kriegsführung, bei der die eine Seite Materialschäden, die andere ihr Leben riskiert. Wo soll das hinführen? Diese stets so rückschrittlich anmutende Frage hat durchaus ihre Berechtigung. Es ist die alte, immer aktuelle moralphilosophische Frage, ob man tun darf, was man kann.

„Warum ich es tue? Weil ich es kann!“

Dieser Slogan gewinnt mit dem digitalen Fortschritt, den wir erleben und bei dem die Maschinen, die der Mensch geschaffen hat, mittlerweile „smarter“ sind als ihre Schöpfer*innen, eine beängstigende Bedeutung. Seit mehreren Staffeln schon führt die britische Science Fiction-Serie Black Mirror das Dilemma – soll man alles dürfen, was man kann? – auf meisterhafte Weise vor Augen. In beinahe jeder Folge wird eine technische Errungenschaft, die es bereits in der Realität gibt, ein klein bisschen fiktiv weitergedacht, um zu schauen, wohin das eine Gesellschaft führt. So wird in einer Folge beispielsweise das uns von Verkaufskanälen und den sozialen Medien bekannte Bewertungssystem weitergedacht und gezeigt, was in einer Gesellschaft geschieht, wenn die Bewertungen der anderen darüber entscheiden, in welcher Gegend jemand leben oder welchen Job er ausüben darf. Brillant zeigt diese Folge, wie Menschen ihr Handeln regulieren, wenn die Reaktionen der anderen über das eigene Leben bestimmen. In China kann man diese Entwicklung heute übrigens bereits in der Realität beobachten.

In einer anderen Folge steht die Technik smarter und Videos aufzeichnender Kamera-Linsen im Zentrum. Die gibt es bereits, aber in der Fiktion von Black Mirror sind sie verbunden mit Chips, die ihren Nutzer*innen in den Kopf implantiert worden sind. So lassen sich jederzeit Erinnerungen abrufen und – noch viel folgenreicher – anderen vorführen. In diesem Szenario gehört sowohl das Recht auf Vergessen als auch die einst wertvolle Erfindung der Privatsphäre einer weit entfernten Vergangenheit an. Dass diese totale Transparenz, von der unsere Gesellschaften nicht weit entfernt sind, zu hochproblematischen Entwicklungen führt, kann man sich vorstellen, auch ohne die Serie gesehen zu haben.

Digitale Ethik

Die Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung lassen sich weder zurückdrehen noch aufhalten, aber lenken und ethisch steuern lassen sie sich durchaus. Die Wirtschaftsinformatikerin Sarah Spiekermann hat dazu 2019 einen Digitale Ethik benannten Vorschlag vorgelegt. Nicht allein die Effizienz dürfe bei der Entwicklung neuer digitaler Formate und Prozesse im Zentrum stehen, sondern eine gesteigerte moralische Aufmerksamkeit, bei der auch die sozialen Nachteile und Rückschritte von Digitalisierungsprozessen in den Blick geraten. Dafür schlägt sie eine nicht nur für Nutzer*innen, sondern vor allem auch für Produzent*innen und Unternehmen verbindliche Werteethik vor. Der Schutz von u. a. Gesundheit oder Privatsphäre sei bei jeder Innovation mitzudenken und müsse dringend von politischer Seite aus eingefordert werden. Das Erfrischende an diesem Ansatz ist, dass die Autorin die Verantwortung nicht ausschließlich bei den Endkund*innen sieht, sondern schon auf der Produktionsseite. „Ethics by design“ heißt hier das Zauberwort.

Fragt sich nur, wie sich die Gefahrenpunkte identifizieren lassen, die es in den zahlreichen Bereichen – vom Datenschutz bis zur Kultur, von der Medien­erziehung bis zum Klimaschutz – zu beobachten gilt. Wir haben zu diesem Zweck den Autor*innen dieses Dossiers zwei schlichte, aber nicht ganz einfache Fragen gestellt. Seht ihr Momente, an denen das Sinnvolle der Digitalisierung in den Wahnsinn kippt? Ab welchem Punkt überwiegen die sozialen Nachteile den technischen Vorteilen?

Übersicht

Den Auftakt zum Dossier setzt der Journalist Joël Adami mit einer kleinen Geschichte der Digitalisierung in Luxemburg, in der er einen Rundumschlag von den ersten IBM-Lochkartenmaschinen bei der Arbed im Jahr 1939 bis zur jüngsten Digital Gouvernance-Strategie der Regierung präsentiert. Der Skandal um die Polizei-Datenbanken hat es noch einmal deutlich vor Augen geführt: Neben zahlreichen Baustellen auf luxemburgischen Straßen gibt es auch eine große im Bereich des Datenschutzes. Der Strafrechtler Stefan Braum skizziert das Spannungsfeld zwischen demokratischer Transparenz und dem Recht auf individuelle Selbstbestimmung, vor dem wir in puncto Datenschutz stehen, und erläutert, an welchen Schrauben anzusetzen ist.

Digitalisierung und Klimaschutz ist ein Thema, das dringend zu bearbeiten ist – auch jenseits populistischer Vorwürfe an die Klimaschutzbewegung, sie würde mit ihrer digitalen Mobilisierungsstrategie selbst zur Klimakrise beitragen. Nicolas Hentgen legt in seinem Beitrag Fakten und Daten vor, aus denen klar erkennbar ist, dass Klimaschutz und Digitalisierung durchaus vereinbar sind, wenn man auf den Ausbau erneuerbarer Energien setzt, um die Digitalisierung energietechnisch verantwortungsvoll umzusetzen. Anne Simon nimmt sich die Mär von der Demokratisierung der Kultur durch Digitalisierung zur Brust. Nur, wenn Veranstaltungen live gestreamt würden, heiße das nicht, so die Regisseurin, dass plötzlich mehr Leute sich für Kultur interessieren. Und dennoch legt sie differenziert dar, wann sich Digitalisierung auf der Bühne auszahlt – und wann eben nicht.

Angesichts der Durchdringung aller Lebensbereiche mit dem Digitalen und den Algorithmen, die den Menschen täglich Entscheidungen abnehmen, ruft Petra Stober in ihrem Beitrag dazu auf, die Augen weit zu öffnen und das Denken neu zu denken. Wenn der Mensch Schritt halten wolle mit den technischen Entwicklungen, dann müsse die Freiheit und die Würde des Menschen mit Blick auf diese Entwicklungen neu bekräftigt werden. Dabei ist es nicht unbedeutend zu verstehen, was eigentlich genau passiert in den Dunkelkammern des Digitalen. Aus diesem Grund haben wir den Informatiker Jim Barthel gebeten, in einfachen Worten zu erklären, was genau eigentlich Algorithmen sind. In seiner kurzen Antwort kommt eine erstaunlich lange Geschichte der Algorithmen ans Tageslicht.

Um Kinder und Erwachsene fit zu machen oder fit zu halten für die Herausforderungen des sich immer weiter digitalisierenden Lebens gehört eine gute Medienerziehung selbstverständlich dazu. Dass dazu nicht nur die Vermittlung von Bedienungswissen oder die Bereitstellung von Tablets gehören und selbst die Umsetzung des Ideals kritischer Medienkonsument*innen nicht ausreicht, zeigt Ines Kurschat in ihrem Beitrag. Die digitale Ethik dürfe sich, so die Autorin, nicht nur auf die Nutzer*innen beziehen, sondern auch auf die Produktionsseite: Das ist der Ansatz der „Ethics by design“, den auch die bereits genannte Sarah Spiekermann verfolgt. Last, but not least, und nach drei Literaturtipps zu unserem Dossier-Thema, setzt sich Christine Mandy mit der Frage auseinander, ob nicht auch die Rede vom Digitalisierungswahn, die unserem Dossier den Titel gibt, selbst Zeichen eines Wahns sein könnte. Mit ihrer differenzierten Antwort, die glücklicherweise nicht den Sinn unseres Dossiers in Frage stellt, beschließen wir unser Dossier.

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