Bettelverbot einst oder heute? 

(Gefunden und kommentiert von Thomas Kolnberger, Historiker)

„The past is a foreign country: they do things differently there”[1] – oder auch nicht. Vor über zweihundert Jahren, im Sommer 1819, ließ der damalige Gouverneur des Großherzogtums, Jean-Georges (Othon-Martin-Victorin-Zacharie) Willmar,[2] mit einem Rundschreiben (Circulaire) Instruktionen bezüglich Bettelei veröffentlichen.[3] Bettelei wurde damals als akutes, länderüberschreitendes Problem wahrgenommen, denn neue Grenzen durchzogen Europa. Das am Wiener Kongress als Großherzogtum neugegründete Luxemburg war zu dieser Zeit Teil eines niederländischen Gesamtstaat-Projektes. Auch in, wie wir heute sagen würden, Sozialfragen sollten die Nordprovinzen mit den südlichen (Belgien bzw. Lüttich) samt Luxemburg in einem „Vereinigten Königreich der Niederlande“ administrativ zusammengeführt werden.

Die Einschärfung des aus napoleonischer Zeit stammenden Bettelverbotes (als Kriminalisierung von Betteln und Landstreicherei) war von der niederländischen Gesetzgebung übernommen worden und somit auch für Luxemburg gültig. Hierzu nun der transkribierte deutsche Teil des zweisprachigen Originaltextes ohne orthographische Anpassung mit erklärenden Kommentaren:

„Meine Herren,

Die Berichte über die Bettelei sind nicht befriedigend. Im Schoose des Ueberflusses, und zu einer Zeit, wo die Feldarbeiten alle Arme erfordern, um die überschwenglichen Reichthümer der Erde einzusammeln, trift man mit Lumpen bedeckte, aber dabei kraftvolle Menschen an, welche die Vorbeigehenden mit ihrem zudringlichen Wesen ermüden. Nicht der Hunger quält diese Individuen, nein, die Gewohnheit des Müßigganges, diese Quelle aller Unordnungen, bestimmt sie zu einem herumschweifenden Leben.

Es ist Zeit, diesem Uebel zu begegnen, welches desto gefährlicher ist, da es nicht jedermann gegeben ist, die Wirkungen desselben vorauszusehen. Das Mitleid stellt uns den Bettler als einen unglücklichen dar, während die Vernunft uns fast immer den schändlichen Beweggrund anzeigt, welcher ihn in Bewegung setzt. Das Verderbniß des menschlichen Geschlechts hängt öfters von einer falschen Richtung ab, die man den edelsten Gefühlen giebt; nicht, als wenn man der Stimme der Armut sein Ohr verschließen müsse; doch muß die Wohlthätigkeit mit Klugheit verbunden werden, so wie es notwendig ist, den Wirkungen einer übelverstandenen Duldsamkeit zuvorzukommen.

Die wohlthätigen Personen haben Gelegenheit, diese religiöse Neigung zu befriedigen, wenn sie ihre Blicke auf die verlassenen Kinder und Greise, wie auch auf die Unglücklichen werfen, welchen ein ungestalteter Körper und andere Schwächlichkeiten nicht erlauben zu arbeiten. Hilfsgelder werden immer gut verwendet werden, wenn sie den Ort des Gebers nicht verlassen.

Die Einwohner werden leicht gewahr werden, daß die Bettler, welche sich von ihrem Wohnort entfernen, Ursache haben, es zu thun. In ihrer Heimath können sie nicht leicht einer gefunden und starken Leibesbeschaffenheit den Schein einer schwächlichen geben, noch sich über den Mangel an Arbeit beklagen, die sich vielleicht ausgeschlagen haben. An fremden Orten suchen sie das Gefühl des Mitleids, wo nicht jenes der Furcht, rege zu machen. Die Hilfsgelder, welche sie erzwingen, vermindern den Antheil, auch welchen der anerkannte Arme Anspruch zu machen hat: dieses ist ein Diebstahl, welcher an dem wahrhaften Unglücklichen begangen wird.“

Willmar und Zeitgenossen unterscheiden hier also zwischen legitimierten Almosenempfängern und, in ihren Augen, solchen, die Arbeit bewusst verweigerten und Bettelei als „Wandergewerbe“, teilweise mit kriminellen Absichten, ausübten. Das Wohlfahrtswesen der Zeit vor dem modernen Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts ruhte in Luxemburg wie anderswo auch weiterhin auf dem Geist der „Polizeyordnungen“, also landesfürstlichen Gesetzen, die verwaltungsrechtliche, privatrechtliche, aber auch strafrechtliche Bestimmungen kodifizierte. Die „Gute Polizey“, wie sie auch genannt wurde, ist nicht mit dem heutigen uniformierten Exekutivorgan zu verwechseln, sondern sie regulierte die öffentliche Ordnung, meist in Form von Verboten gegen Luxus, Glücksspiel, Wucher wie auch unsittlichen Tänzen oder Gotteslästerung, umfasste aber etwa auch das Feuerwehr- oder Almosenwesen. Letzteres sah eine ortsansässige Bettelerlaubnis von eingeschriebenen Gemeindemitgliedern vor. Mit der im Entstehen begriffenen Nationalstaaten hatte sich das Staatsinteresse als Sorge um das Wohlergehen des Staates allgemein von Privatinteressen der Landesherren, der einzelnen Gemeinden oder Stände endgültig getrennt.

Im Sinne der nun herrschenden Staatsräson, die sich in der öffentlichen Ordnung für alle sichtbar manifestiert, wurde landesweit gedacht. Das brachte auch das Ende der „Bettlerschübe“, also das Abdrängen von unerwünschten fremden bzw. nicht-legitimierten Armen über die Gemeinde bzw. Grundherrschaftsgrenze. Trotzdem ruhte die sozialrechtliche wie finanzielle Hauptlast weiterhin – in Teilen bis heute – auf den Schultern der Gemeinden: Die Zuweisung des „Hülfs=Wohnsitz“ (domicile de secours, Unterstützungswohnsitz), also ein certificat de résidence der zumeist Geburtsgemeinde, war die Basis für jeden Hilfsanspruch oder für den Erwerb einer regulären Bettelerlaubnis als offiziell anerkannter Armer: Betteln zu dürfen war ein Privileg weniger.

Das Elend, das die napoleonischen Kriege hinterlassen haben, und die noch nicht gefestigten Staatsordnungen mit ihren neuen Grenzen setzte viele Menschen in Bewegung. Für Luxemburg war allein schon die Rückkehr der Kriegsveteranen, oft Invalide, eine große Herausforderung. Der niederländische Gesamtstaat musste reagieren, einerseits mit Härte: „Zwei, zu gleicher Zeit anzuwendende Mittel sind dienlich, die Bettelei auszurotten, wenn die Gemeinden fernerhin verweigern, die ihnen angehörenden Armen zu ernähren. Hundert Individuen können in dem Bettelhause von Namur, und die andern in Zuchtgefängnissen eingesperrt werden“, so im Rundschreiben weiter. In Namur existierte ein „Armenhaus“[4], in dem zumeist ältere Menschen lebten, die nicht mehr selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten. Gekoppelt war die Einrichtung in Namur, die auch für die Provinz Luxemburg zuständig war, mit einem „Arbeitshaus“, d. h. arbeitsfähige Bewohner, gerade auch Kinder oder alleinstehende Frauen, mussten für ihren Unterhalt tätig sein. In diesem Institutionstypus laufen utilitaristische Prinzipien, forderndes Christentum – und das nicht bloß in Form einer protestantischen Ethik – bzw. kommunalistische wie kommunitaristische Forderungen zusammen. Alles andere wurde als deviante Bettelei angesehen, die mit mehrmonatigen Gefängnisstrafen geahndet werden konnte. Der Strafenkatalog richtete sich v. a. gegen individuell oder gruppenweise vagabundierende Personen und Ortsfremde. Bei Indizien wie mitgeführten Einbrecherwerkzeugen drohten laut dem Strafgesetzbuch von 1810 / Code pénal, art. 274-282. sogar mehrjährige Haftstrafen.

„Weil zu Namur eine öffentliche Anstalt existirt, die organisirt ist, um in den beiden Provinzen, für welche sie errichtet ist, der Bettelei zu begegnen, so sollen Sie jede Person festhalten lassen, welche entweder auf den Wegen, oder in den Städten, oder auf dem Lande bettelnd angetroffen wird. Sie müssen einen Verbal=Prozeß über das Vergehen und die Umstände desselben errichteten, indem Sie darin die anzuhörenden Zeugen bezeichnen, und den Bettler vor dem königl. Herrn Prokurator Ihres Bezirks, welchem Sie zugleich die Schriften überschicken werden, führen lassen.

Was die arbeitsfähigen Bettler von Profession betrift, welche nicht auf frischer That ertappt werden können, so sollen Sie dieselben von Amtswegen derselben Magistratsperson anzeigen.

Da diese Maßregeln die einzigen sind, durch welche der vorgesetzte Zweck erreicht werden kann, so ersuche ich Sie, alle Ihre Sorgfalt und Ihren Eifer für ihre schnelle Vollziehungen zu verwenden

Sie werden übrigens besorgt seyn, die Herren Unter=Intendanten von jeder Verhaftung, die Sie verordnen werden, zu benachrichtigen, damit diese mir im Anfange jedes Monats Rechenschaft darüber abstatten können.

Der Gouverneur des Groß=Herzogthums, u.

Willmar“

Neben den eben angeführten Härtemaßnahmen setzte man regionsübergreifende Initiativen zur Armutslinderung, dazu zählten neben Sammlungen auch die Gründung von „Wohlthätigkeits=Gesellschaften“. Auch wurde nach nord-niederländischen Vorbild geplant, in Luxemburg sogenannte „Ackerbau=Colonien“ (colonies agricoles) für Bedürftige einzurichten, um die Armut am flachen Land zu bekämpfen.[5]  Zur Grundlage der Maßnahmen wurden die Ergebnisse einer Sonderkommission genommen, „welche beauftragt ist, den wahren Zustand der Armen in dem Königreich zu untersuchen“[6]. Gouverneur Willmar gestand in einem Kommentar zu den aus Den Haag angeordneten Maßnahmen aber ernüchternd ein:

„Keine Regierung kann machen, daß es keine Armen gebe; aber der würdigst Gebrauch der gemeinschaftlichen Gewalt besteht darin, denselben zu Hilfe zu kommen, die Mittel zu finden die Bettelei, welche die Geißel der Staaten ist, auszurotten, und den Unordnungen zuvorzukommen, welch der Müßiggang und das Elend nach sich ziehen.“[7]

Der springende Punkt bei unserer Reise in ein offensichtlich nicht allzu fremdes Land ist, dass damals die Bettelei als Privileg verstanden wurde; ein Sonderrecht, das ehrenwerten Ortsansässigen gewährt wurde und keinen allgemeinen Rechtsanspruch oder gar ein freies Gewerbe mit Niederlassungsfreiheit darstellte. Und heute, anderswo? In Österreich etwa müssen Einkünfte über einem gewissen Betrag versteuert werden; die Bundesländer bzw. Gemeinden praktizieren sektorale Bettelverbote, denn ein generelles Bettelverbot wurde zuletzt 2017 vom österreichischen Verfassungsgerichtshof kassiert.[8] Die Frage, ob hier Armut kriminalisiert oder Bettler und Bettlerinnen keiner Sozialpolitik als „repressive Fürsorge“ ausgesetzt werden dürfen, wird sich immer wieder stellen – dazu hätte schon ein weniger weit zurückreichender Blick in die Nachkriegs-/Wirtschaftswunderzeit genügt, wo ähnliche Fragen aufgebracht diskutiert wurden: Die Zukunft der Armut ist nämlich sicher, denn sie ist immer relativ und hängt vom regional-historischen Umfeld und dem Wohlstandsgefälle ab.

 

Quelle:

Mémorial Administratif du Grand-Duché de Luxembourg – Verwaltungs=Memorial des Groß=Herzogthums Lützemburg, Nr. 34, 14. August 1819, N150 Rundschreiben an die Herren Bürgermeister, Mair’s [Maires] und Polizei=Commissarien des Groß=Herzogthums Lützemburg, in Betreff der Bettelei, Lützemburg, den 5. August 1819.

[1] Eröffnungssatz aus L. P. Hartley (1895—1972), The Go-Between, 1953.

[2] Geb. 1763 in Prüm, gest. 1831 in Luxemburg, Vater des späteren Luxemburger Staatsministers (1848-53) Jean-Jacques Wilmar, siehe: Alphonse Sprunck, „Le Gouverneur Willmar“, in: Biographie nationale du pays de Luxembourg, S. 539-644, Luxemburgensia online.

[3] Verwaltungs=Memorial des Groß=Herzogthums Lützemburg / Mémorial administratif Nr. 34 (14. August 1819).

[4] Dépôt de mendicité in Namur, siehe: Archives de l’Etat en Belgique (Namur ): Inventaire des archives de la Commission d’assistance publique de Namur, an V-1870, S.79-80.

[5] Mémorial Nr. 53 (24. September 1825), Rundschreiben Nr. 61.; großes Vorbild war hier die Kolonie Wortel bei Antwerpen bzw. die drei Siedlungen der Maatschappij van Weldadigheit („Wohlfahrtsgesellschaft“) in den heutigen Niederlanden (alle vier Standorte sind heute UNESCO-Weltkulturerbe).

[6] Mémorial Nr. 4 (10. Februar 1822), Rundschreiben Nr. 18.

[7] Mémorial Nr. 41 (20. September 1822), Rundschreiben Nr. 38.

[8] Vgl. die Situation in der Schweiz bei Daniel Moeckli, Bettelverbote: Einige rechtsvergleichende Überlegungen zur Grundrechtskonformität, in: Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht Nr. 10 (2010), 537-574, online.

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