„Der Zeithistoriker ist ein homo politicus“

Ein Gespräch mit Andreas Fickers, Direktor des Center for Contemporary & Digital History, über Zeitgeschichtsforschung in Luxemburg

Anfang Juni dieses Jahres wurden Sie zum Direktor des neuen Center for Contemporary & Digital History (C2DH) ernannt. Was ist für Sie Zeitgeschichte?

Andreas Fickers: Je nach wissenschaftlichem oder kulturellem Kontext gibt es unterschiedliche Definitionen von Zeitgeschichte. Man kann sich ewig darüber streiten und ich finde diese Definitionsfragen wenig ergiebig. Das neu gegründete Zentrum beschäftigt sich mit dem 20. und 21. Jahrhundert, also sozusagen mit der Vorgeschichte der Gegenwart. Für mich ist die Zeitgeschichte in politischen, sozialen, kulturellen oder auch wirtschaftlichen Fragestellungen eine Orientierungswissenschaft für politische Diskurse und soziale Entwicklung, da sie aktuelle Phänomene zu erklären versucht.

Das C2DH wird als interdisziplinäres Zentrum bezeichnet. Worin besteht diese Interdisziplinarität, wenn die Geschichtswissenschaft eigentlich schon im Namen geführt wird?

A.F.: Die Interdisziplinarität des Zentrums entsteht zum einen aus der Interdisziplinarität der Zeitgeschichte selber. Bei Erinnerungsdebatten greifen Zeithistoriker bspw. auf Theorien der Soziologie und der Psychologie zurück. Diese Verbindungen sind notwendig, um komplexe Zustände und Entwicklungen so gut wie möglich begreifen zu können. Wir unterscheiden uns von der Psychologie oder von der Anthropologie von der Methode her, aber nicht in Bezug auf die Fragestellung, die Theorie und die Konzepte. Zum anderen legt das Zentrum den Schwerpunkt auf neue digitale Methoden der Zeitgeschichte. Damit sind weitere interdisziplinäre Ansätze, jenseits der Geisteswissenschaft, gefragt, denn wir benutzen Instrumente aus den Computer- und Informationswissenschaften und müssen uns so neue Kenntnisse, Techniken und Methoden aus anderen Fachbereichen aneignen.

Wo sehen Sie die internationale Verortung des C2DH?

A.F.: Ich sehe diese auf zwei Ebenen: Innerhalb der bestehenden Institutionen in Europa können wir anders sein, indem wir uns nicht nur auf die Geschichte des 2. Weltkrieges beschränken, auch wenn es ein wichtiges Thema für Luxemburg ist. Hinzu kommt, dass wir ein Institut für Zeitgeschichte sein möchten, das ganz explizit diese Methodenfrage angeht. Das heißt, wir möchten ein Zentrum sein, das sich auf die Frage fokussiert, wie die Digitalisierung unser Denken von Geschichte und unsere Praxis von Zeitgeschichtsschreibung beeinflusst. Ich kenne die entsprechenden Institutionen weltweit und ich weiß, dass jetzt schon großes Interesse besteht mit uns zusammenzuarbeiten, weil wir diese Nische füllen.

Ich glaube, wir haben die einmalige Chance, Unterstützung zu erhalten und dies sowohl von Seiten der Regierung als auch von Seiten der Universitätsleitung. Schon alleine diese Tatsache ist, international gesehen, einmalig.

Warum wurde das Zentrum nicht in die Fakultät für Geisteswissenschaften integriert?

A.F.: Es ist ja Teil der Universität. Das ursprüngliche Koalitionspapier der Regierung sah vor, es als ein Zentrum außerhalb der Universität anzusiedeln. Damals haben die Vertreter des historischen Instituts sich sehr stark dafür eingesetzt, dass dieses Zentrum in die Universität integriert wird. Es ist der Ort, an dem in Luxemburg auf höchstem Niveau wissenschaftliche Forschung – auch im Bereich Geschichte – stattfinden soll und muss. Die zweite Frage bezog sich auf den Ansiedlungsort: innerhalb der Fakultät der Geisteswissenschaften oder außerhalb? Es war der Wunsch der Regierung, das Institut nicht in die Fakultät zu integrieren, sondern als drittes interdisziplinäres Zentrum der Universität zu etablieren, um so größere Sichtbarkeit zu gewährleisten.

Wenn die Regierung in diesem Bereich mitentschieden hat, wie autonom ist das Zentrum dann schlussendlich?

A.F.: Die Autonomie und Unabhängigkeit des Zentrums war für mich eine Conditio sine qua non während der Verhandlungen mit der Regierung, beziehungsweise mit dem Rektorat. Das gilt übrigens für alle Institutionen innerhalb der Universität.

Zeitgeschichte ist immer auch politisch und der Zeithistoriker ist ein homo politicus. Es ist also wichtig, klare Grenzen zu ziehen zwischen einerseits dem wissenschaftlichen und andererseits dem gesellschaftlichen oder dem politischen Auftrag des Zentrums. Ich glaube, es gibt hier eine sehr vernünftige Regelung. Die Forschung zur Zeitgeschichte innerhalb der Universität ist per se unabhängig und alles was commémoration, Erinnerung und Politik betrifft, findet im Comité pour la mémoire statt, also außerhalb der Universität. Inhaltlich muss selbstverständlich zusammengearbeitet werden und die Forschungsergebnisse, die wir produzieren, sollen im Sinne einer öffentlichen Diskurskultur debattiert werden.

Die Forschung an der Universität selber muss dabei vollkommen unabhängig bleiben. Deswegen haben wir auch einen wissenschaftlichen Beirat ins Leben gerufen. Dieser soll die Qualität der Forschung beobachten und evaluieren sowie die wissenschaftliche Autonomie und Unabhängigkeit überwachen.

Wir haben vorher von digital history gesprochen. Bei der Pressekonferenz des C2DH haben Sie von einer „Revolution“ der Geisteswissenschaft gesprochen. Können Sie erklären, wie diese Revolution aussehen soll?

A.F.: Ich habe den Begriff Revolution nicht benutzt: Es sind die Presseleute, die überall neue Revolutionen sehen möchten und den Begriff in Umlauf gebracht haben. In meiner Antrittsvorlesung vor drei Jahren, die den Titel Wider die Logik des Neuen trug, habe ich sogar ein dezidiertes Plädoyer gegen dieses Revolutionsdenken gehalten. Wir haben es meistens mit evolutionären Prozessen zu tun und deshalb würde ich auch sagen, dass die Geschichtswissenschaft sich jetzt in einer Übergangsphase befindet. Diese ist durch eine Mischung von Altem und Neuem gekennzeichnet: Wir arbeiten weiterhin mit klassischen Methoden, Fragestellungen und Werkzeugen der Geisteswissenschaft, während unser Alltag sehr stark von der Nutzung von digitalen Werkzeugen, Internet und Suchmaschinen bestimmt wird. Wir haben die Methoden, wie z.B. die Quellenkritik, noch nicht vom Analogen auf das Digitale übertragen. Uns fehlen, das ist meine These, noch Begriffe und Methoden, um diese digitale Quellenkritik wirklich durchführen zu können.

Ist es auch eine Frage der Gewohnheit?

A.F.: Ja, aber es ist auch eine Frage der kritischen Auseinandersetzung mit dem digitalen Alltag, weil Grundprinzipien der Geschichte berührt werden: Was ist ein Archiv? Die Digitalisierung hat die Logik des Archivs und des Archivierens auf den Kopf gestellt. Was ist eine Quelle in einer Zeit, in der wir eher von Daten sprechen? Quellenkritik wird zur Datenkritik, es geht demnach auch um Fragen der Datenintegrität und nicht mehr um Fragen der Originalität oder Authentizität. Neue Methoden des Suchens basieren auf Algorithmen, Statistik und Datenvisualisierung. Daher brauchen wir eine neue Heuristik im Zeitalter von Big Data, auch um die Glaubwürdigkeit als Wissenschaft zu bewahren.

Welche Probleme können entstehen wenn die Quellen nun Daten werden und keine Quellen mehr sind?

A.F.: Ein Problem ist sicherlich jenes der Datenintegrität, also die Frage, inwiefern durch den Prozess der Digitalisierung Manipulationen vorgenommen werden. In Zukunft könnte es eine Art Protokoll geben, welches verschiedene Eingriffe in die Digitalisierung der Quelle nachvollziehbar macht. So ein Protokoll müsste für mich zum Standard gehören, wenn man z.B. große Quellenbestände digitalisiert.

Außerdem ist es wichtig, die Visualisierung von Ergebnissen zu dekonstruieren und zu hinterfragen. Was heißen z.B. Verbindungen, die in Wordclouds erzeugt werden? Die Wissenschaftlichkeit einer Visualisierung entsteht nicht nur dadurch, dass sie auf Daten und Algorithmen beruht. Die Dekonstruktion ist genau das, was ich unter dem Begriff der digitalen Hermeneutik verstehe.

Ist es angesichts der Restriktionen des Archivgesetzes und des Datenschutzes überhaupt möglich, jüngere Quellenbestände einzusehen, um zeitgeschichtliche Forschung zu betreiben? Selbst an bestimmte Gegenstände des Zweiten Weltkrieges, auch wenn die Betroffenen schon alle tot sind, kommt man oft nur mit Erlaubnis des Generalstaatsanwaltes oder dem Wohlwollen der Archivleute. Es scheint hier einen klaren Widerspruch zwischen den Erwartungen der Regierung und der Archivpraxis zu geben. Nicht einmal Volkszählungen sollen frei zugänglich sein.

A.F.: Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des C2DH mit dem Titel Forum Z werden wir uns im Januar 2017 genau dieser Frage stellen. Für mich ist jedoch ganz klar, dass man hier eine Art Vereinbarung zwischen dem neuen Zentrum und den nationalen Archiven schaffen muss. Für bestimmte Fragestellungen, auf die wir uns in Zukunft konzentrieren wollen, brauchen wir einen garantierten Zugang.

Führt die Wahl der Methode nicht zwangsläufig auch zu einer begrenzten Auswahl von Forschungsgegenständen, in dem Sinne, dass nur dort, wo es digitale Daten gibt, geforscht wird?

A.F.: Das ist ein sehr wichtiger Punkt und es stimmt, dass bisher nur circa 2-3% aller Quellenbestände überhaupt digitalisiert sind. Man muss allerdings auch sagen, dass es andererseits auch ein Übermaß an Quellen gibt: Wir leben im Zeitalter des Überflusses an Quellen.

Gibt es eine Art wissenschaftlichen Hype, mit dem Historiker Nicht-Historiker beeindrucken möchten?

A.F.: Sicherlich sind „digital“ oder „Digitalisierung“ buzzwords. Es kann jedoch nicht abgestritten werden, dass die Digitalisierung in alle Lebensbereiche eingreift, auch in die Wissenschaft. Die Quellen sind heute viel freier zugänglich und deshalb denke ich, dass eine viel breitere Masse von Menschen sich am Prozess der Interpretation und Diskussion der Geschichte beteiligen sollte. Im Sinne von Engagement, particpatory culture können wir demnach über neue Formen der Vermittlung, der Zugänglichkeit, wie etwa crowd sourcing, aber auch der Interpretation von Geschichte nachdenken. Michael Frisch spricht in diesem Zusammenhang von shared authority.

Und dadurch wird die Qualität gesteigert?

A.F.: Ja, es ist in jedem Falle eine Bereicherung und Perspektivenerweiterung. Es ist eine große Chance, die das Verhältnis zwischen professionellen Geschichtsforschern, sogenannten Amateuren und dem grand public verändert.

Welche konkreten Projekte wollen Sie als erstes angehen?

A.F.: Die Idee ist, dass wir diese Serie von Veranstaltungen namens Forum Z machen, um ein Gefühl zu bekommen, welches die wichtigen und dringlichen Themen der Luxemburger Zeitgeschichte sind. Diese Interessen werden dann in sogenannten „Leuchtturmprojekten“ gebündelt. Forscher sollen dann innerhalb von drei bis vier Jahren grundlegende neue Erkenntnisse produzieren können. Der gleiche Prozess soll anschließend regelmäßig wiederholt werden.

Welche Themen werden Ihrer Ansicht nach prioritär sein?

A.F.: Sicherlich sind Fragen zum 2. Weltkrieg, der Nachwehen und der Kollaboration wichtig. Hinzu kommen neue Bereiche, wie etwa die Entwicklung des Finanzstandortes Luxemburg und die Frage, inwiefern die ökonomische Verlagerung neue politische, ökonomische, soziale, vielleicht sogar kulturelle Effekte für die Luxemburger Gesellschaft generiert hat. Ein weiteres Thema ist der Übergang von der Stahl- und Kohleindustrie in die Dienstleist-ungsgesellschaft oder auch die Etablierung neuer Industriezweige oder Unternehmen wie z.B. im Bereich der Telekommunikation.

Vor kurzer Zeit ist ebenfalls das Zentrum für politische Bildung (ZpB) gegründet worden. Sehen Sie hier eventuelle Schnittstellen?

A.F.: Ich sehe da sehr viele Schnittstellen und diese Zusammenarbeit als sehr wichtig. Eine Idee wäre ein E-book zur Luxemburger Geschichte für die Grund- und Oberschulen. Audiovisuell und dreisprachig kann die Geschichte auf eine ganz neue Art und Weise dargestellt werden. Es muss über neue Formen der Vermittlung nachgedacht werden, wie z.B. Video-Essays, Podcasts oder sogar virtuelle Ausstellungen.

Sie sind Technikhistoriker, ihr Schwerpunkt ist die Schnittstelle von Technik und Medien. Sie beschäftigen sich auch mit methodologischen Fragen, jetzt im Bereich der digitalen Geschichtswissenschaft. Wegen welcher Qualifikationen, glauben Sie, sind Sie ausgewählt worden?

A.F.: Dies war ein langes Verfahren, in dem die entsprechenden wissenschaftlichen Qualifikationen natürlich ausschlaggebend waren. Ich denke aber auch, dass die Fähigkeit, eine Vision zu entwickeln und überzeugend zu verkaufen, wichtig ist sowie auch die Kompetenz, Brücken zwischen verschiedenen Disziplinen und Akteuren bauen zu können. Ein gewisses diplomatisches Geschick ist hier notwendig. Letztlich gesehen sind es auch Sprachkompetenzen, die in Luxemburg zählen. Ich werde auch an meinem Luxemburgischen arbeiten, damit es mehr nach Luxemburgisch klingt (lacht).

Karl Popper sagt: „Es kann keine Geschichte der Vergangenheit geben, wie sie wirklich geschehen ist. Es kann nur historische Interpretationen geben und keine davon ist endgültig. Jede Generation hat ein Recht, ihre eigenen zu bilden.“ Stimmt das? Ist es nicht möglich, zu einem wirklich objektiven Verständnis von Geschichte zu gelangen?

A.F.: Absolut. Eine Erklärung ist nur solange gültig, bis sie widerlegt wird. Genau so ist es in der Geschichtswissenschaft. Eine wissenschaftliche Interpretation ist immer eine Momentaufnahme, eine Standortaufnahme der Jetzt-Zeit. Sie verändert sich, sie wird immer wieder revidiert, sie ergänzt sich durch neue Interpretationen, sie wird herausgefordert. Genau das ist Wissenschaft. Es gibt nicht DIE Wahrheit, es gibt immer nur Interpretationsangebote und es ist gut, wenn es unterschiedliche gibt.

Danke für das Gespräch!

Das Interview wurde am 17.11.2016 geführt. (BM)

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code