Keine Angst vor der Angst haben

Ein Gespräch mit dem deutschen Soziologen Heinz Bude über den rechtspopulistischen Diskurs und wie man darauf antwortet

In der Vergangenheit hat man vom Gegensatz zwischen „Arbeitervolk“ und „Bürgertum“ gesprochen. Davor von Adel, Klerus und Bürger. Aktuell dominieren die Begriffe „Volk“ und „Elite“ in der öffentlichen Debatte. Gibt es eine neue Spaltung innerhalb der Gesellschaft?

Heinz Bude: Im politischen Raum gibt es eine neue vertikale Interpretation. An der Spitze dieses Schemas ist der Palazzo, in dem sich eine technokratische, kalte Elite verschanzt, sich selber bereichert und smarte Konzepte entwickelt, ohne die Leute zu fragen. Unten auf der Piazza ist das Volk, die sich versammelnde Gesellschaft.

Inwiefern ist diese Interpretation wirklich neu?

H.B.: In der Vergangenheit haben die Volksparteien unterschiedliche Ebenen der Gesellschaft zusammengebracht. Man sprach von „unserer“ Regierung. Heute scheint die Vorstellung, dass es in der Politik auch Phasen der „Wir“-Repräsentation gibt, verloren zu gehen. Jedenfalls ist die heutige Idee der „Wir“-Repräsentanz immer eine polemische. Der Ursprung dieser neuen Vertikalisierung ist schwer zu bestimmen und soziostrukturell gar nicht nachzuvollziehen. Insbesondere weil es auch Leute unten auf der Piazza gibt, die vorgeben, dominiert zu werden, obwohl es ihnen relativ gut geht.
Können wir Parallelen zu den 20er/30er Jahren des 20. Jahrhunderts ziehen?

H.B.: Eine neue Offenheit des politischen Raums ist nicht abzustreiten. Diese hängt damit zusammen, dass wir, zumindest in den europäischen Gesellschaften, eine große Orientierungslosigkeit haben, was die Zukunft betrifft. Die Phase des Neoliberalismus der letzten 20-30 Jahre geht zu Ende und bei der Frage, wie es weitergehen soll, gibt es extreme Antworten. In diesem Kontext der Orientierungslosigkeit fehlt es in der politischen – aber auch in der intellektuellen – Klasse an Leuten, die mit einer gewissen inneren Sicherheit auf die Situation schauen können.

Welche Rolle spielen die reaktionären Intellektuellen wie Michel Houellebecq oder vielleicht Peter Sloterdijk in diesem Zusammenhang?

H.B.: Sie verstärken diese neue Spaltung, um eine neue „Zornwelt“ hervorzubringen. Natürlich ist Zorn ein wichtiges Element für politische Bewegung, ihn jedoch mit bebenden Lippen herbeizusehnen, ist was anderes. Reaktionäre Intellektuelle sind zudem nur schwer im üblichen Verständnis von links und rechts einzuordnen…

Und aus dieser Orientierungslosigkeit entsteht dann der Wunsch nach einer starken Hand?

H.B.: Es ist viel gefährlicher. Sie können dies an der Metamorphose von Marine Le Pen sehen: Sie tritt nicht als die starke Frau auf – im Unterschied zu ihrem Vater. Sie ist eine inklusive Mutterfigur. Im rechtspopulistischen Raum ruft keine Figur dazu auf, ins gelobte Land zu folgen. Es dominieren neue Schwammbegriffe, die sehr vage sind.

Am Ende steht also nicht unbedingt ein charismatischer Führer?

H.B.: Nein. Sie können das in den USA ja gut verfolgen: Hier haben wir die Karikatur des Charismas und dies zeigt, dass Charisma nicht mehr funktioniert.

Ist es also eher die pure Lust an der Zerstörung?

H.B.: Ja, Lust an der Zerstörung… aus dieser Orientierungslosigkeit heraus! Donald Trump ist eine Panikfigur. Er gibt nicht vor zu wissen, wo es lang geht. Im Gegenteil: Er macht klar, dass er die Panik mit den Wählern teilt. Eine ganz andere Logik und das ist gefährlich, denn diese Panik- und Aufsaugfiguren gibt es vor allem auf der politischen Rechten. Das Problem ist hierbei, dass konservative Parteien nachziehen: Sie sehen das momentan an der Hilflosigkeit der konservativen Partei, und insbesondere jener Sarkozys, in Frankreich.

Zurück zur Gegenüberstellung von Volk und Elite. Wer ist Ihrer Meinung nach eigentlich „das Volk“ und welches sind die Merkmale der Zugehörigkeit?

H.B.: Es gibt keine Demokratie ohne Volk. In Wirklichkeit ist das Volk aber unauffindbar. Das Problem besteht also in der Unauffindbarkeit und der gleichzeitigen Notwendigkeit des Volkes. Ich glaube, dass all diejenigen, die den Begriff benutzen und ihre Stimme erheben, bisher das Gefühl hatten, dass ihre Stimme eh nicht zähle. Es wurden in der Tat viele Leute – man spricht von den Modernisierungsverlierern – links liegen gelassen. Jetzt nehmen sie Rache und melden sich in einer schrillen Weise zu Wort, um gehört zu werden.

Und die Elite?

H.B.: Die Elite ist die „herrschende Klasse“ und teilt die gleichen Vorstellungen in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen. Eliten sind also nicht unbedingt die Prominenten und die Reichen. Es sind die Mächtigen, diejenigen, die für die Richtung des Landes wichtige Entscheidungen treffen. Dazu braucht es eine gewisse Undurchdringlichkeit von außen und in gewissen Situationen ist das auch gut so. Alle wichtigen außenpolitischen Entscheidungen werden z.B. von Eliten getroffen, welche die Leute nicht nach ihrer Meinung fragen.

Entsteht durch den aktuellen Diskurs nicht auch ein neues Selbstbewusstsein der designierten Elite (z.B. Kulturschaffende, Journalisten,…)? Früher haben sie sich identifiziert mit dem „Volk“ und für das Volk gearbeitet. Jetzt stehen sie draußen.

H.B.: Das ist tatsächlich ein großes Problem. Die kommentierende Klasse der europäischen Gesellschaften ist selbst geprägt von wirtschaftlicher Prekarität und geistiger Orientierungslosigkeit. Es gibt kaum mehr Figuren, die eine gewisse innere Sicherheit haben. Sie sind genauso bewegt und teilweise von Ressentiments beherrscht. Auch im Bereich des Journalismus findet man zunehmend eine Zerstörungswut. Der Job des Journalis-ten ist es aber, zu zivilisieren und nicht anzuheizen.

Wobei man die Ausfälle nicht unbedingt dort findet, wo man sie vermutet. Die Bild ist in diesem Zusammenhang ein sehr interessanter Fall. Sie ist, besonders was die Zuwanderungssituation in Deutschland betrifft, die Zeitung gewesen, die Angela Merkel unterstützt hat. Die unmäßigen Kommentare kamen eigentlich aus den deutschen Qualitätsblättern. Es gibt also eine merkwürdige Angst, die auch die Schreiber beherrscht.

Wer sind für Sie die Wähler rechtspopulistischer Parteien? Kann man diese kategorisieren?

H.B.: Der Eindruck wird häufig vermittelt, dass die neuen rechtspopulistischen Parteien sich im Kern um den „white trash“ drehen. Dieser ist aber nur ein Element, und eigentlich kann man von drei großen Gruppen sprechen. Zum einen gibt es „die Ignorierten“, d.h. Leute aus dem „Dienstleistungproletariat“. Also Menschen, die zwar eine Arbeit haben, aber sehr wenig verdienen wie z.B. Menschen, die Pakete zustellen, Gebäude reinigen oder in der Gastronomie oder Pflege tätig sind – alles Bereiche mit expandierendem Arbeitskräftebedarf. Ein weiteres Drittel sind Menschen, die glauben, hart gearbeitet und nie etwas geschenkt bekommen zu haben. Sie fürchten jetzt, dass Zuwanderer ihnen das wegnehmen. Hier spricht man von den „Selbstgerechten“. Die dritte Gruppe, die besonders gefährlich ist, sind die „Verbitterten“. Sie sind ziemlich hoch gebildet, verdienen relativ gut und sehen sich eigentlich als Gewinner der Entwicklungen der letzten 30 Jahre. Sie haben aber das Gefühl, dass sie ihre Talente nie haben ausspielen können. Diese letzte Gruppe ist besonders wichtig, weil sie organisations- und artikulationsstark ist. Die „Ignorierten“ handeln nämlich nicht von selbst, sie brauchen eine organisierende und artikulierende Gruppe. Und die gibt es mittlerweile.

Sie benutzen psychologische Kategorien und keine soziologischen bzw. auf Interessen bezogene. Funktionieren diese nicht mehr?

H.B.: In der Wahlforschung spricht man vom „class voting“. In der deutschen Nachkriegsgeschichte hat „class voting“ jedoch nie zu Mehrheiten geführt. Diese waren eher das Resultat einer Überlappung von „class“ und „confessional voting“. Es zählt also nicht nur, ob der Wähler ein Arbeiter ist, sondern auch, ob er katholisch oder protestantisch ist.

Die AfD benutzt – genau wie Sie – psychologische Kriterien…

H.B.: Ja, das ist korrekt. Gefühle und Stimmungen haben tatsächlich eine große Bedeutung in modernen Gesellschaften. Sie rufen Vorstellungen von Gemeinschaft auf, jenseits von soziostrukturellen Merkmalen. Diese wehen über soziale Unterschiede hinweg. Das ist aber kein neues Phänomen.

Wie kann Kommunikation in einer Gesellschaft, in der Stimmungen entscheidend sind, funktionieren?

H.B.: Bisher haben es Gesellschaften geschafft, über Stimmungen und Gefühle hinweg Kollektivbegriffe zu finden, die Personen mit unterschiedlichen Interessen zueinander geführt haben. Stimmungs-lagen einen Ausdruck in neuen Kollektivbegriffen zu geben, ist ja die eigentliche Kunst der Politik.

Ein solch integrierender Begriff ist zum Beispiel „Nation“?

H.B.: Oder „Arbeitnehmer“. Dies ist der Kollektivbegriff der Sozialdemokratie, der sowohl den heroischen Arbeiter wie den Staatsbürger einbringt. Die Sozialdemokratie spricht für alle Arbeitnehmer, die sich Herrschaft gefallen lassen müssen und dies war ihr Erfolgsweg. Wir brauchen heute wieder solche Kollektivbegriffe.

Z.B. Europa?

H.B.: Wir müssen uns die Realität Europas vor Augen halten. Es gibt kein europäisches Volk und es wird nie ein europäisches Volk geben. Es gibt keine gemeinsame Steuerpolitik und kein effektives Europäisches Parlament. Diese braucht es aber für die Konstitution der europäischen Einheit. Europa führt diese Einheit also nicht herbei, es ermöglicht aber Einigungsbewegungen. Das ist ein großer Unterschied! Wir sollen Europa realistischer, offener und experimentierfähiger machen. Was sind die Möglichkeiten, die durch Europa entstehen? Der große Krieg ist vorbei und die Vorstellung des großen glühenden Europas funktioniert jedenfalls nicht mehr.

Wie kann man also mit verängstigten Menschen und aufgebrachten Wutbürgern reden? Wie redet man mit einem Sarrazin oder Trump?

H.B.: Es gibt eine einfache Regel, die aber schwer durchzuführen ist: Habt keine Angst vor der Angst! Über Ängste anderer zu reden, ist schwierig, weil man vielleicht selbst Angst hat. Vielmehr ist eine entspannte politische Haltung gefragt. Diese besteht in der Bereitschaft, die Ängste der anderen als ein Gegenstand der Kommunikation zu akzeptieren. Wer keine Angst vor der Angst hat, hat Hoffnung. Es ist an der Zeit, dass die Menschen aus den Palazzi auf die Straße kommen und darüber reden, wie wir anders leben wollen und können.

Brauchen wir also mehr Bürgerbeteiligung und wenn ja, wie soll diese aussehen?

H.B.: Nicht für diese Probleme. Bürgerbeteiligung ist sehr wichtig für kommunale Räume, damit die Menschen das Gefühl haben, in ihrer Umgebung etwas bewirken zu können. Alle plebiszitären Elemente sind, glaube ich, jedoch falsch. Wir sind eine repräsentative Demokratie: Ich wähle einen Vertreter, der meine Stimme verstärken und für mich Verantwortung übernehmen soll. Bürger müssen die Garantie haben, dass wenn der Vertreter von der gegnerischen Partei ist, er das Recht respektiert und den Volkswillen ausübt. Die Elite der letzten 20-30 Jahren in Europa hat diese Verantwortung nun aber zum Teil vergessen. Dies ist ein Wandel, den Berlusconi angeführt hat, denn er hat keine Rechtfertigung vor dem Recht akzeptiert. Ist die Ausweitung plebiszitärer Elemente also die Lösung? Darüber muss man sehr gut nachdenken. Ich bin kein Vertreter der direkten Demokratie, sie ist ein Merkmal des Rechtspopulismus und ist dezivilisierend.

In Luxemburg wurde angekündigt, dass die Luxemburger Wahlbevölkerung über eine neue Verfassung abstimmen soll. Ihrer Analyse nach soll die Bevölkerung also nicht abstimmen, obwohl es um die rechtliche Grundlage des Zusammenlebens geht?

H.B.: In allen Verfassungen gibt es Ewigkeitsbestimmungen, die durch keine Mehrheitsbeschlüsse verändert werden können. Der Paragraph im deutschen Grundgesetz über die Würde des Menschen kann z.B. durch keine politische Mehrheit abgeschafft werden.

In Luxemburg geht es eher um eine Verfassungsneugründung…

H.B.: Das finde ich sehr gefährlich… In der gegenwärtigen politischen Situation würde ich keine neue Verfassung einführen.

Die alte Verfassung wird wegen ihrer Rückständigkeit nicht angewandt…

H.B.: Das ist natürlich ein Problem… Normalerweise reagieren darauf Verfassungsinterpreten mit einer starken Performanz. Es braucht starke Vertreter der Verfassung, die sich politisch einmischen, damit die Leute sehen, dass die Verfassung eine Bedeutung hat.

Vielen Dank für das Gespräch! 

Das Interview wurde am 13.10.2016 geführt. (JST/KN).

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