Von der Nation zum Staatsvolk
Welcher soziale Zusammenhalt für Luxemburg?
Der Moment, wo der Anteil der Nicht-Luxemburger an der Gesamtbevölkerung die 50%-Marke überschreitet, rückt näher. Den symbolischen Impact dieses rein statistischen Ereignisses sollte man nicht unterschätzen. Schon heute wird die ganz spezifische Ausformung des Gesellschaftsvertrages im Großherzogtum von vielen Einheimischen unter dem Deckmantel einer Sprachen- und Wachstumsdebatte in Frage gestellt.
Die seit der Mitte der 80er Jahre extrem dynamische luxemburgische Dienstleis-tungswirtschaft verbunden mit einem sehr entwickelten Sozialsystem hatte eine Mehrzahl der Einwohner des Landes zu einem gewissen Wohlstand verholfen. Dafür waren die ansässige Bevölkerung, die Arbeitnehmer im Privatsektor und auch die politische Klasse bereit, ein hohes Tempo an gesellschaftlicher Transformation zu akzeptieren. Die demographische und sprachliche Struktur des Landes, die historische Bausubstanz, das natürliche Umfeld und teilweise selbst die Topographie wandelten sich grundlegend innerhalb einer Generation. Nur die Institutionen, Verwaltungen und Machtverhältnisse blieben lange Zeit unangetastet.
Das knapp angenommene Referendum zur Europäischen Verfassung von 2005 war ein erster Hinweis darauf, dass die Folgen der Globalisierung auch in Luxemburg nicht mehr ohne weiteres begrüßt wurden. Spätestens beim Referendum von 2015 wurde deutlich, dass die luxemburgische Bevölkerung den rasanten Entwicklungsweg nicht mehr einvernehmlich mitträgt. Die wirtschaftlichen Perspektiven hatten sich für die weniger gut Ausgebildeten verschlechtert, zumindest für jene, die keinen Zugang zum öffentlichen Dienst finden konnten. Die Entwicklung der Immobilienpreise versperren den nachwachsenden Generationen den Zugang zum Wohneigentum – und das in einem Land, in dem Wohneigentum als erster Schritt und nicht als Ergebnis von Wohlstand betrachtet wird. Und das seit 10 Jahren unablässig wiederholte Krisenmantra hat auch in luxemburgischen Familien zu einem allgemeinen Gefühl der Verunsicherung beigetragen.
Statt jedoch die wirtschaftlichen Interessen ins Auge zu fassen und die Nachhaltigkeit des aufgebauten Schneeballsystems zu hinterfragen, wurde seit Mitte der 2000er Jahre eine breite Diskussion über die Frage der „Identität“ des Landes geführt.
Luxemburg hatte sich im vergangenen Jahrhundert seine Eigenart und Besonderheit in mehreren überlappenden Erzählsträngen vergewissert: Da war erstens das kleine Volk, das seinen Ursprung in einer glorreichen mittelalterlichen Vergangenheit findet, einige Jahrhunderte Fremdherrschaft über sich ergehen lassen muss, um schließlich (wieder) zur verdienten Eigenstaatlichkeit zurückzufinden. Dieses freiheitsliebende Volk hatte zweitens die Prüfung der nationalsozialistischen Okkupation heroisch überwunden und kollektiv Widerstand geleistet. Drittens wird Luxemburg nach dem zweiten Weltkrieg zu einer „internationalen Plattform“ für Unternehmen, die den europäischen Markt bedienen wollen. Und viertens ist das Land trotz seiner Kleinheit eines der Gründungsmitglieder aller wichtigen internationalen und europäischen Organisationen der Nachkriegszeit und konnte durch seine sprichwörtliche Offenheit den Titel des europäischen Vorzeigelandes und Vermittlers beanspruchen.
Doch als das Großherzogtum im Zuge von Luxleaks und Panama-Papers international als Steuerparadies vorgeführt wurde, musste sich die luxemburgische Bevölkerung vom liebgewordenen Selbstbild des europäischen Musterknaben verabschieden: Es war offensichtlich, dass hinter der Fassade des leidenschaftlichen Europa-Diskurses von Jean-Claude Juncker und Luc Frieden Luxemburg (gemeinsam mit Malta, Zypern, Niederlande, Irland und dem Vereinigten Königreich) zu einer Gruppe von EU-Ländern gehört, die rücksichtslos die Schwächen der europäischen Steuerlandschaft ausnutzten.
Aber nicht nur der europäische Erzählstrang wurde mit einem Mal unglaubwürdig. Die 2003 etablierte Universität und die Medien haben in den letzten 10 Jahren einen nicht unerheblichen Teil ihrer Energie darauf verwendet, auch die übrigen Gewissheiten der luxemburgischen Nachkriegsidentität (Monarchie, Widerstand, Kirche, Geschichtsschreibung und Nation) zu hinterfragen und diese ideologischen Grundlagen der luxemburgischen Gesellschaft als reine Fiktion zu entlarven.
An die Stelle nationaler Symbole haben Intellektuelle, Ausländerorganisationen, Unternehmer und Medien die vielfältige Rolle Luxemburgs als Ort der Begegnung und des Austausches gesetzt. Die durch die geographische Lage und die Eigenheiten des Kleinstaates bedingte Offenheit in allen Lebensbereichen wurde als das spezifisch „Luxemburgische“ deklariert und mehr und mehr im öffentlichen Diskurs betont. Die noch unter der vorherigen Regierung initiierte Nation Branding Kampagne, deren Ziel die Formulierung einer kohärenten Außendarstellung des Landes war, kam nach einer großangelegten Konsultation zu dem Ergebnis, dass die spezielle Eigenheit des Landes an der Kombination der drei Werte Offenheit, Dynamik und Verlässlichkeit festzumachen sei. Charles Margue, der prominent an der Entwicklung dieser Definition teilgenommen hatte, wies aber schon in einem Gespräch mit dieser Zeitschrift (Nr. 370/Februar 2017) darauf hin, dass die Luxemburger selber sich nur mit Einschränkungen darin wiedererkennen. Es sind in erster Linie die hier ansässigen Expats, die die Dynamik und Offenheit des Landes anerkennen und schätzen.
Die junge DP/LSAP/Déi Gréng-Regierung hatte sich die multikulturelle und multinationale Sicht von Luxemburg ab 2013 resolut zu Eigen gemacht und wollte jetzt auch die internen Strukturen (Verwaltung, Bildungswesen und Demokratie) an die Realitäten des Landes anpassen. Doch die Gegenwehr des tiefen Staates, bestehend aus CGFP, Lehrerschaft und Polizei, verbunden mit dem desaströsen Ausgang des unglücklich angelegten Referendums von Juni 2015 (als 80 % der luxemburgischen Wähler die Einführung des Ausländerwahlrechtes zurückwiesen) versetze dieser positiven Vision einen herben Dämpfer. Insbesondere vor dem Hintergrund des Referendums beanspruchen heute auch in Luxemburg national-populistische Strömungen wie Wee 2050 die „politische Mitte“.
Als Antwort auf die aufkeimende Unruhe in der Wählerschaft versuchen mittlerweile alle politischen Parteien eine Nebelwand rund um die Bedeutung der luxemburgischen Sprache aufzuziehen und riskieren dabei die – auf der Beherrschung des Französischen basierende – Mehrsprachigkeit des Landes. Das Luxemburgische wird in Abwesenheit anderer greifbarer Symbole zum Inbegriff und Garant des Zusammenlebens stilisiert. Doch das Luxemburgische ist auch eine Code-Bezeichnung für eine gewisse nicht-definierbare „Luxemburgenität“. Bildungsminister Claude Meisch forderte bei der Vorstellung seiner neuen Sprachenstrategie von den Zugezogenen ernsthaft, dass sie nicht nur Luxemburgisch sprechen sollten, sondern auch Luxemburgisch „ticken“ müssten. Damit spricht er den Kern des Problems an. Wie, d.h. mit welchen Kriterien wird in Zukunft definiert, wer „dazu“ gehört und wer nicht. Hinter vorgehaltener Hand wird schon der Unterschied gemacht zwischen „richtigen“ Luxemburgern und den Tausenden „neuen“ Luxemburgern, die auf Grundlage des liberalisierten Staatsbürgerschaftsgesetzes die luxemburgische Nationalität erworben haben.
Zum Entsetzen sowohl der Unternehmerschaft als auch der ökologischen Bewegung hat sich die Debatte um die Identität des Landes auch auf die Wachstumsfrage ausgeweitet. Gerade für die tendenziell eher links orientierte Umweltschutzbewegung ergibt sich die schwer zu ertragende Situation, dass man neuerdings gemeinsam mit national-konservativen Kreisen gegen den Wachstumspfad ankämpft. Nur dass für die Ökologen das Problem im Ressourcen- und Landschaftsverbrauch liegt, während für die National-Konservativen die rasante Bevölkerungsentwicklung das Problem darstellt.
In der Realität setzt sich jedoch langsam die Vision von Luxemburg als einem Flugzeugträger der Globalisierung durch. Bestens eingebettet in das Netz der internationalen Handels- und Finanzbeziehungen dient Luxemburg als Portal für den gigantischen europäischen Verbrauchermarkt. Im Zuge des Brexit werden unsere Beziehungen zu London, dem Zentrum der globalen Finanzwelt, weiter ausgebaut. Währenddessen ahnen mehr und mehr Leute, dass über den Wohnungsmarkt ein Verdrängungswettbewerb im Gange ist, der durch den immer weiter geförderten Zuzug von sehr reichen oder sehr gutverdienenden Haushalten angeheizt wird. Es gehört nicht mehr viel Polemik dazu, von einem demographischen Großexperiment zu sprechen, wenn Jahr für Jahr 6500 zusätzliche Wohnungen benötigt werden, aber nur 2600 auf den Markt kommen. Und dass man Wachstum nicht steuern kann, ist ein Satz der im kommenden Wahlkampf nicht unwidersprochen bleiben muss: Die immer attraktiver werdende Erbschaftsgesetzgebung oder die Regelungen zur Besteuerung von Stock Options sind nur zwei Instrumente unter vielen, mit denen man der Umwandlung des Landes zu einer Reichenenklave entgegenwirken könnte – wenn man denn wollte.
Als soziale Tiere haben Menschen objektive Gründe, um mit anderen, auch mit Fremden, eng zusammen zu leben und von deren Unterstützung, Erfahrung und Ressourcen zu profitieren. Die rezenten Entwicklungen in vielen liberalen Demokratien zeigen jedoch, dass rationale Argumente für ein friedvolles Zusammenleben nicht immer ausreichen. In Zeiten von Ressourcenverknappung bricht das tiefverankerte Misstrauen und die Missgunst jenen gegenüber, die nicht der gleichen Sippe entstammen, wieder hervor. Um den Zusammenhalt zu sichern, erzählt der Mensch sich Geschichten, die als sozialer Kitt funktionieren. Das kann wahlweise ein gemeinsamer Götterkult, die Unterwerfung unter einen Herrscher, die Imaginierung einer nationalen (oder kontinentalen) Schicksalsgemeinschaft, eine gemeinsame genetische Herkunft, eine dominierende Sprache oder eine Wertegemeinschaft sein.
Der Frage, welche neue Erzählung und welches gemeinsame Projekt unser sehr spezielles Gemeinwesen zusammenhalten sollen, gehen wir auf den folgenden Seiten nach. Frank Hofmann bietet dafür ganz konkret eine Weiterentwicklung des Konzeptes des Multikulturalismus an. Michel Cames untersucht den unscharfen Begriff der sozialen Kohäsion und stellt diesem den Begriff des sozialen Kapitals gegenüber. Michel Pauly erinnert daran, dass die wichtigste Grundlage für ein friedvolles Zusammenleben soziale Gerechtigkeit ist. Christoph Purschke beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Funktion von Sprachenpolitik am Beispiel Luxemburgs und Kataloniens. In Form eines Glossars diskutiert Yannick Lambert einige Grundbegriffe rund um Identität, Zusammenhalt und Gesellschaft. Françoise Poos zeichnet nach, wie Radio und Fernsehen über lange Zeit durch kollektive Rituale auch in Luxemburg ein Zusammengehörigkeitsgefühl generieren konnten. André Hoffman untersucht das Potential der Verfassung als Grundlage gemeinsamer Lebensregeln und eines gemeinsamen Gesellschaftsprojektes. Sonja Kmec wirft noch einmal einen Blick auf zehn Jahre Identitätsforschung in Luxemburg und Heidi Martins illustriert am Beispiel der zweiten Generation portugiesischer Einwanderer die Problematik des Heimat- und Zugehörigkeitsgefühls in einer Welt, die keine einfachen Zuschreibungen mehr kennt.
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