Grenzen stehen seit nunmehr zwei Jahrzehnten verstärkt im Zentrum des politischen Interesses. Ereignisse wie der Fall des Eisernen Vorhangs, 9/11, die jüngste sog. Flüchtlingskrise, der neue Nationalismus oder die „trumpsche Wall“ sind nur einige Gründe dafür. Dabei sind Grenzen keine neuen Phänomene, sondern wohl so alt wie die Menschheit selbst. Wenn auch nicht immer als ‚Grenze‘ bezeichnet und als Linie gedacht, markieren sie die Zugehörigkeiten zu einem Wir oder den Anderen und sind unverzichtbar, wenn es um die Seinsfrage geht: Denn wo keine Anderen, dort auch kein Wir. So einfach diese Formel zu sein scheint, so vielfältig und mitunter subtil sind ihre gesellschaftlichen Erscheinungsformen.
Ähnlich verhält es sich mit Grenzzäunen oder Mauern, die rechtliche, steuerliche, wirtschaftliche usw. Systeme markieren. Ihre Funktionsweise scheint einfach, aber auch hier lohnt es sich genau hinzusehen: Spätestens seitdem sich die EU-Außengrenze auf dem afrikanischen Kontinent befindet und biometrische Kontrollapparaturen auf einschlägigen Branchenmessen immer raffinierter werden, zeigt sich, dass Grenzen weniger ein klar eingefasstes Gebilde aus Staat, Territorium und Nation markieren. Vielmehr sind sie mobil und diffus geworden: Grenzen wandern Migrant*innen hinterher, manchmal sind sie auch schon vor ihnen da und sie finden längst nicht mehr am territorialen Rand von Nationalstaaten statt.
Die Funktionsweisen und Erscheinungsformen von Grenzen haben sich also grundlegend verändert, was seit einigen Jahren auch die Grenzforschung – die Border Studies – beschäftigt. In diesem Arbeitsfeld setzen sich zunehmend Konzepte durch, die die Vorstellung einer „Mauer in der Landschaft“ hinter sich lassen und auf die soziale Gemachtheit von Grenzen fokussieren. Sie wollen die räumlich verstreuten politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, medialen usw. Vorgänge, die für Grenz(de)stabilisierungen ursächlich sind, in den Blick nehmen und ihre Funktionsweisen verstehen.
Borderities (Amilhat-Szary), Borderscapes (Brambilla) oder Bordertextures (Wille/Fellner) sind nur einige solcher Konzepte, die Grenzen als komplexe Gebilde aus vielzähligen Prozessen und Akteuren sichtbar machen.
Die Wissenschaft soll zwar ihrer Zeit voraus sein, genauso aber reagiert sie auf gesellschaftliche Entwicklungen. So erfahren die Border Studies mit der gesteigerten gesellschaftlichen Relevanz von Grenzen einen spürbaren Aufwind. Schon seit den 1970er Jahren in den USA unter dem Einfluss der Cultural Studies und der Einwanderung aus Mexiko etabliert, sind sie seit den 1990er Jahren auch in Europa aus der Wissenschaftslandschaft nicht mehr wegzudenken. Diese Entwicklung hat nicht nur den Gegenstandsbereich der Border Studies erweitert, zugleich werden zunehmend mehr sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplinen von Fragen der Grenze erfasst. Darauf verweisen auch die rezenten Versuche über eine „Soziologie der Grenze“, „Geographien der Grenze“ oder „Ästhetiken der Grenze“ nachzudenken.
Damit verbunden sind eine fortschreitende theoretische Fundierung und vor allem eine stärkere Institutionalisierung der Grenzforschung. So fand im Sommer 2018 schon die zweite World Conference of the Association for Borderlands Studies statt, auch groß angelegte EU-geförderte Forschungsprojekte wurden auf den Weg gebracht und Universitäten investieren zusehends in Schwerpunkte, Prioritäten, Netzwerke oder Zentren, deren Auftrag Studying Borders lautet.
Auch Luxemburg und seine Nachbarregionen, in denen die Grenzforschung eine gewisse Tradition aufweist, profitieren von dieser Entwicklung. Hier haben sich Grenzforscher*innen der Universitäten des Saarlandes, Kaiserslautern, Trier, Lothringen, Luxemburg und Lüttich im Jahr 2014 unter dem Dach der Universität Großregion (UniGR) zusammengeschlossen. Mit dem grenzüberschreitenden Netzwerk „UniGR-Center for Border Studies“ haben sie sich eine Plattform gegeben, um Grenzforschungen enger abzustimmen, an die internationale Fachdebatte besser anzuschließen und Erkenntnisse der Grenzforschung in die universitäre Lehre zu tragen. Dafür hat sich das „UniGR-Center for Border Studies“ mit einem interregionalen Steuerungsorgan ausgestattet und eine Koordinationsstelle eingerichtet, die an der humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luxemburg angesiedelt ist.
Mit Unterstützung der Universität der Großregion ist es dem Netzwerk gelungen, im vergangenen Jahr eine Förderung von rund 2 Millionen Euro beim Europäischen Fonds für Regionalentwicklung (EFRE) zu erwirken, die für die Grenzforschung in der Großregion richtungsweisend sein wird. Denn seit 2018 führt das Netzwerk das gleichnamige Interreg VA Großregion Projekt „UniGR-Center for Border Studies“ durch, das sich vor wenigen Wochen an der Universität Luxemburg öffentlichkeitswirksam vorgestellt hat. In dem Strukturprojekt arbeiten ca. 80 Personen aus den sechs UniGR-Partneruniversitäten daran, den intellektuellen Austausch zu intensivieren, sich mit Akteuren der Großregion zu vernetzen, interdisziplinäre Grenzforschungstools zu entwickeln und grenzüberschreitendes Know-how für die Lehre aufzubereiten.
Davon soll besonders das Studienprogramm „Master in Border Studies“ profitieren, das mit Hilfe der Universität der Großregion in 2017 an den Start ging und große Aufmerksamkeit auf sich zieht. Denn das Studium mit seiner raum- bzw. kultur-/sprachwissenschaftlicher Spezialisierung ist nicht nur inhaltlich anspruchsvoll, auch in Punkto Mobilität und Sprachen ist es außergewöhnlich: Die Studierenden folgen im ersten Jahr den Kursen an der Universität Luxemburg und Lothringen, im zweiten Jahr an der Universität des Saarlandes und Technischen Universität Kaiserslautern. Das persönliche und akademische Studying Borders an vier Universitäten in drei Ländern wird von der Deutsch-Französischen Hochschule gefördert und schließt ein Praktikum bei grenzüberschreitend agierenden Einrichtungen ein. Ziel des Masters ist es, für transnationale und interkulturelle Beschäftigungsfelder zu qualifizieren, vor allem in europäischen Grenzregionen.
Die Border Studies durchlaufen also auch in der Großregion eine spürbare Institutionalisierung. Allerdings hier mit der Besonderheit, dass Fragen der Grenze und die damit verbundenen Phänomene nicht nur untersucht und gelehrt werden, sondern dass dies selbst grenzüberschreitend stattfindet. Grenzforschung, wie sie sich aktuell in der Großregion formiert und künftig entwickeln wird, ist hier an die Erfahrung der Grenze geknüpft und bleibt ein kollektives Unterfangen der UniGR-Grenzforscher*innen. Ihr Studying Borders beschränkt sich aber nicht auf die Großregion, sondern geht weit darüber hinaus und adressiert auch angefochtene Grenzen in ihren alltäglichen und ästhetischen (Re-)Produktionen.
http://www.borderstudies.org
http://www.master.borderstudies.org
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
