Nie allein
Über die Rolle von naturhistorischen Sammlungen in der Erforschung von Epidemien
Lebewesen befinden sich in einem ständigen Wechselspiel mit ihren Artgenossen und mit anderen Organismen. Wirklich allein ist eigentlich niemand. Nicht nur der menschliche Körper ist besiedelt von Unmengen an winzigen Ein- und Mehrzellern, die in Mund, Darm, Atemwegen, Genitalien und auf der Haut leben. Sie bilden ein Ökosystem, das man Mikrobiom nennt. Das menschliche Mikrobiom zum Beispiel besteht aus rund 39 Billionen Mikroben, die bei einem erwachsenen „Standardmenschen“ ungefähr 1,5 kg seines Körpergewichts ausmachen. Die meisten Mikroben sind nicht schädlich, sondern unterstützen die Verdauung, produzieren Vitamine und stärken das Immunsystem. Manche Mikroorganismen machen uns allerdings krank. Bis jetzt sind davon rund 1.400 Arten bekannt; das Coronavirus, das nun ganze Bereiche des öffentlichen Lebens lahmlegt, gehört seit Kurzem dazu.
Bei der Untersuchung von plötzlich auftretenden Epidemien oder Pandemien stellen sich die Forscher unter anderem die Frage: Woher stammt der Erreger? Es ist bekannt, dass 75 % der 175 pathogenen Arten, die für schwere Krankheitsausbrüche verantwortlich sind, zwischen Menschen und anderen Wirbeltierarten übertragen werden können. Beim heutigen Gebrauch der Bezeichnung Zoonose wird keine Unterscheidung hinsichtlich des Übertragungsweges gemacht. Zoonosen können also vom Menschen auf ein Tier (Anthropozoonose) oder vom Tier auf den Menschen (Zooanthroponose) übertragen werden. Darüber hinaus werden 17 % der menschlichen Krankheiten durch Insekten oder andere Arten von Vektoren übertragen. Die eigentlichen Erreger können dabei Prionen, Viren, Bakterien, Pilze oder Protozoen wie der Malariaerreger sein. Weltweite Studien über die Spanische Grippe oder Ebola haben die Rolle von Schweinen, Nagetieren, Vögeln oder Fledermäusen als potenzielle Reservoire von Krankheitserregern nachgewiesen, die oft außerhalb der menschlichen Pandemien auftreten.
Dass ein besseres Wissen über diese Reservoir-Populationen dazu beitragen kann, potenziell aufkommenden Gesundheitsproblemen vorzubeugen oder sie sogar zu verhindern, gilt heute als erwiesen. In den 1990er Jahren haben beispielsweise in den USA Analysen von Nagetierproben aus Museumssammlungen geholfen zu verstehen, wie schwere, durch Hantaviren verursachte hämorrhagische Fieber auftreten und somit ihr Wiederauftreten abzuwehren.
So können gut geführte und mit den nötigen Mitteln ausgestattete Museumssammlungen tatsächlich Hinweise auf die Geschichte der verantwortlichen Bakterien und Viren geben und so zum Fortschritt der Forschung auf diesem Gebiet beitragen. Naturhistorische Sammlungen (man schätzt ihre Anzahl weltweit auf ungefähr 6.000) bergen nicht nur kostbare und seltene Ausstellungsexemplare, sondern oft auch während Jahren und Jahrzehnten zusammengetragene Sets an Fledermäusen, Vogelpopulationen aus unterschiedlichsten Zeitepochen oder in Alkohol aufbewahrten Stechmücken usw. Es ist denkbar, dass nicht wenige DNA-Spuren von früheren Mikroben enthalten. Es wäre schade, diese nicht in zukünftige Arbeiten einzubinden. So schlagen die Autoren eines 2016 in den Proceedings of the National Academy of Science erschienen Artikels1 vor, eine umfangreiche Datenbank mit allen in Labors und Museen der ganzen Welt vorhandenen Proben und DNA-Proben einzurichten, die ein hervorragendes Instrument im Kampf gegen künftige Epidemien darstellen würde. Das Nationalmuseum für Naturgeschichte arbeitet schon seit ein paar Jahren an einer flächendeckenden Erfassung der Stechmücken in Luxemburg. Ein Atlas der Stechmücken in Luxemburg ist in Ausarbeitung.2 Auch konnte die Zoologie-Abteilung desselben Museums anhand von Proben aus Luxemburg und Deutschland kürzlich nachweisen, dass der Waschbärspulwurm, der auch auf den Menschen übertragen werden kann, in Luxemburg und der deutschen Grenzregion nicht vorkommt.
Ein Virus ist auch ein Produkt der Evolution
Die Gemeinschaften und Interaktionen der Lebewesen, ob sie nun parasitär oder im Gegenteil auf gegenseitigen Vorteil ausgerichtet sind, haben in bestimmten Momenten der Evolution eine Schlüsselrolle gespielt, indem sie die Struktur des Baums des Lebens tiefgreifend verändert haben. In diesem regelrechten Wettrüsten zwischen Parasiten und ihren Wirten wird die Zeit in Millionen von Jahren gemessen. Auch ein Virus ist also ein Produkt der Evolution. Es ist daher unumgänglich, die biologische Vielfalt auf allen Ebenen wie Ökosystemen, Arten und Genen genau zu untersuchen, um zu verstehen, welche Beziehungen zwischen verschiedenen lebenden oder „weniger eindeutig lebenden“ Wesen, wie z. B. Viren, bestehen, wie sie entstehen und im Detail funktionieren.
Es wird geschätzt, dass es derzeit etwa 8,7 Millionen Arten gibt, Bakterien und Viren nicht mit eingerechnet. Denn auf dieser Ebene eine Zahl zu schätzen, wäre reine Spekulation. In den weltweiten Museumssammlungen sind heute etwas weniger als zwei Millionen unterschiedliche Arten erfasst, die beschrieben, untersucht und mit einem wissenschaftlichen Namen katalogisiert wurden! Mit der Erfassung der Biodiversität in Luxemburg steuert das Nationalmuseum für Naturgeschichte in Luxemburg demnach ein kleines Puzzlestück zum weltweiten Gesamtbild bei. Neben der Erfassung der biologischen Vielfalt besteht eine weitere Aufgabe naturhistorischer Museen darin, einem Laienpublikum die Botschaft zu vermitteln, dass Evolution ein langwieriger Prozess ist, in dem Faktoren wie intraspezifische Variation, Vererbung, Auslese, Zeit und Anpassung eine große Rolle spielen und dass Biodiversität nicht nur ein Modewort ist, sondern den Zusammenhalt der Welt garantiert.
Umso wichtiger erscheint es heute im Kontext von Biodiversitätskrise und Pandemie, die Grundlagen dieser Faktoren zu kennen. Auch wenn die Forschung in diesem Bereich auf den ersten Blick weniger attraktiv erscheint (Weltraumforschung hingegen verspricht Ruhm und Rendite), werden wir auch in Zukunft junge, leidenschaftliche Wissenschaftler brauchen, die ihre Karriere lieber der Erforschung irdischer Zusammenhänge verschreiben. Denn sonst riskiert man in Zukunft, erneut überrascht zu werden.
- https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4711881/ (letzter Aufruf: 29. März 2020).
- https://mosquitoes.lu/ (letzter Aufruf: 29. März
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