Kollektive Schockstarre: „Beanpole“ von Kantemir Balagov

★★★★☆

(Yves Steichen) Leningrad im Jahr 1945, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (bzw. „Großen Vaterländischen Krieges“, wie dieser Konflikt in Russland genannt wird). Die mehr als zwei Jahre andauernde, brutale Belagerung der Stadt durch die deutsche Wehrmacht hat die Bevölkerung materiell wie seelisch versehrt. Zwischen Kälte, drohendem Hungertod und kollektiver, ohnmächtiger Schockstarre, die man heute als Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) diagnostizieren würde, kämpfen die Menschen um ihr Überleben, und versuchen, sich in den Ruinen ihrer Existenz ein neues Leben aufzubauen. Der junge russische Regisseur Kantemir Balagov erzählt diesen Überlebenskampf, diesen Krieg nach dem Krieg, in seiner zweiten Regiearbeit Beanpole (russ. Dylda, 2019) als angedeutete Liebesgeschichte aus der Sicht von zwei Frauen – Iya (Viktoria Miroshnichenko) und Masha (Vasilisa Perelygina), beide traumatisierte Frontsoldatinnen und nun Krankenschwestern in einem Veteranenhospiz – und rückt damit auch dezidiert weibliche Aspekte bzw. Verletzungen einer Kriegserfahrung in den Mittelpunkt.


(c) Non-Stop Productions

Beanpole wurde 2019 auf dem Filmfestival von Cannes uraufgeführt und war dort in der Sektion Un Certain Regard zu sehen; daneben wurde der Film 2020 von Russland in das Rennen um den Oscar in der Kategorie International Feature Film eingereicht.

Viel erfährt man nicht über Iya, die aufgrund ihrer außergewöhnlichen Größe und Erscheinung von den meisten ihrer Mitmenschen nur liebevoll „Dylda“ (dt. „Bohnenstange“) genannt wird. Sie arbeitet in einem Krankenhaus für kriegsversehrte Veteranen und pflegt dort, unter der Aufsicht von Chefarzt Nikolay (Andrey Bykov), Männer wie Stepan (Konstantin Balakirev), der infolge einer Kriegsverletzung gelähmt ist und seinen Lebenswillen verloren hat. Gelegentlich nimmt sie auch ihren Sohn Pashka mit ins Krankenhaus, und die Veteranen ahmen Tiere nach, die dieser erraten soll – bloß : viele davon hat er noch nie in seinem Leben gesehen. Doch der Krieg hat auch bei Iya seine Spuren hinterlassen: Immer wieder verfällt sie, ausgelöst durch eine Frontverletzung, in eine – individuelle – Schockstarre, ihr Atmung wird klackend und schwer, und mehr als ein angestrengtes Röcheln vermag sie nicht mehr hervorzubringen. Noch bevor sich die eigentliche Handlung mit der Ankunft ihrer besten Freundin Masha (beide verbindet allerdings wesentlich mehr, als die politisch-gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit zugelassen hätten) in Gang setzt, vollzieht Iya eine derart krasse Tat, die bewirkt, dass diese ohnehin enigmatische und wenig mitteilsame Figur noch ambivalenter und unerreichbarer erscheint.


(c) Non-Stop Productions

Mit der Ankunft der aufgekratzten Masha, die nach ihrem Einsatz an der Westfront und bei der Befreiung von Berlin ebenfalls eine Anstellung als Krankenschwester findet, schlägt Beanpole eine neue Richtung ein: Masha möchte ein Kind zur Welt bringen, um ihre seelischen Wunden zu heilen – da sie aber durch den Krieg unfruchtbar wurde, soll Iya es für sie austragen…

Beanpole ist in vielem ein herausfordernder, anstrengender und provozierender Film. Balagov inszeniert sein Nachkriegsdrama (mit einer Dauer von 137 Minuten) bewusst langsam, verharrt dabei in langen Einstellungen, in denen sehr wenig gesagt wird, und gibt so gut wie keine Informationen über die tatsächlichen Motivationen und Hintergründe seiner Figuren preis – jede dialogreichere Szene mutet (auch für die Zuschauer*innen) wie ein Befreiungsschlag an, doch wenn man etwas erfährt, darf man sich getrost fragen, ob es denn stimmt. Alle Charaktere sind in irgendeiner Weise verschlossen, vom Krieg gezeichnet, und ihr seelischer wie körperlicher Heilungsprozess schreitet nur langsam voran – der filmische Mikrokosmos von Beanpole ist demnach bestimmt von bleiernem Schweigen, Misstrauen, Ohnmacht und Wahnsinn.


(c) Non-Stop Productions

Interessant ist dabei Balagovs Perspektive. Obwohl Beanpole die Nachwirkungen eines historischen Großereignisses behandelt – die Sowjetunion gehörte trotz horrender menschlicher Verluste zu den Siegern des Zweiten Weltkriegs, und bis heute wird der Sieg über Nazideutschland in Moskau mit großangelegten Paraden gefeiert – legt Regisseur Balagov den Blick nicht auf heroische Schlachten und Siege, sondern auf das Danach und die weniger rühmlichen Aspekte des Krieges, wie die psychologischen Folgen, Trauerbewältigung, Mangelwirtschaft oder den schwierigen Umgang mit bzw. die gesellschaftliche Reintegration von Kriegsverletzten. Letzteres wird besonders deutlich in einer Szene, in der eine Partei-Funktionärin das Hospiz besucht, um den Veteranen für ihren Einsatz an der Front „zu danken“. Bei einem von ihnen sickert plötzlich Blut durch das weiße Hemd, die Naht einer Verletzung ist geplatzt – der Krieg hat sich in die Körper seiner Opfer eingeschrieben und der unrühmliche, desinteressierte Auftritt der Apparatschik-Delegation hat diese Wunden wieder aufgerissen.


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Mit zunehmender Filmdauer verdichtet Balagov diesen ohnehin mikroskopischen Blick auf die – zwischen heiteren und schmerzlichen Momenten pendelnden – Intimität zwischen Iya und Masha, die nur von wenigen anderen Menschen durchbrochen wird (u.a. von Mashas aufdringlichem Verehrer Sasha). Beanpole mutiert zur Studie einer unmöglichen Liebe, an der sich die Grenzen eines oppressiven politischen Systems deutlich abzeichnen – Freiräume existieren hier weder in den überfüllten Wohngemeinschaften noch in den Köpfen. Um einen größtmöglichen Kontrast zu erzeugen, hüllen Balagov und Kamerafrau Ksenia Sereda die Dekors konsequent in eine fast schon experimentelle Bildgestaltung, die mit ihren expressiven, warmen Farben mehr an ein Gemälde denn an einen Film erinnern.

Beanpole ist, wie Loveless zwei Jahre zuvor (Regie: Andrei Swjaginzew), ein sperriger, hoffnungsloser und mit Momenten zerstörerischer Film über eine Nation ohne rechte Perspektive – dies soll aber nicht davon abhalten, sich intensiv mit diesem Werk und seinen vielen verschiedenen Lesarten auseinanderzusetzen.

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