Streit über zwei Antisemitismusdefinitionen

Eine Replik auf Henning Marmullas Edito in forum 419

Das Editorial in der letzten Nummer von forum (Nr. 419)1, das sich mit dem immer wieder aufflammenden Antisemitismus befasst, hat mich zugleich erstaunt und erschreckt. Erstaunlich, weil mordikus an der sogenannten IHRA-Antisemitismusdefinition festgehalten wird, trotz deren offensichtlichen Mängeln. Zwar wurde sie unterdessen von einer Reihe von Staaten und Organisationen angenommen; das allein ist aber noch kein Beweis für ihre Qualität und Anwendbarkeit, und das umso weniger als in mehreren Fällen, so z. B. in Luxemburg, die ominösen elf Beispiele, die mehrheitlich den Staat Israel vor Kritik bewahren sollen, nicht mitratifiziert wurden.

Ich halte diese Definition für unbrauchbar und habe das in einem Artikel im Luxemburger Wort vom 5. Juni 2021 nachzuweisen versucht. Ich finde dagegen die Definition der sogenannten Jerusalemer Erklärung weitaus besser, wenn auch nicht in jeder Hinsicht perfekt. Hier sollen meine Argumente nicht wiederholt werden. Es muss aber hervorgehoben und daran erinnert werden, dass die IHRA-Definition sich selbst ausdrücklich als „nicht verbindliche Arbeitsdefinition“ darstellt. Die Jerusalemer Erklärung „grenzt sich nicht ab“ von ihr, wie Marmulla schreibt, sondern sie will erklärtermaßen die IHRA-Definition „verbessern“, insbesondere was Klarheit und Konsistenz anbelangt. So z. B. übernimmt sie nicht den schwammigen Ausdruck aus der IHRA-Definition, demzufolge Antisemitismus „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden ist, die sich als Hass […] ausdrücken kann“, sondern sie bestimmt in aller Klarheit und Konkretheit Antisemitismus als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindschaft oder Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden“.

Marmullas ganzer Artikel aber krankt daran, dass er kein Sterbenswörtchen verlauten lässt über den neuen Kontext, in dem Antisemitismusdefinitionen nunmehr begutachtet werden müssen: Es geht dabei nämlich um das 2018 von der Knesset verabschiedete Nationalgesetz, demzufolge Israel der „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ ist. Abgesehen von den unlösbaren Problemen, die ein explizit als „jüdisch“ charakterisierter Staat aufwirft (genauso wie übrigens der Begriff eines „muslimischen“ Staates), stellt sich die drängende Frage, ob eine Kritik, welche auch immer, an diesem „jüdischen“ Staat, gerade insoweit er sich als „jüdisch“ dahinstellt, nicht ipso facto antisemitisch ist? Dass zwar laut der IHRA-Definition Kritik am Staate Israel möglich sei, ändert nichts an dieser Schwierigkeit, auch nicht, wenn eine solche Kritik „mit der an anderen Ländern vergleichbar ist“.

Erschrocken aber war ich, als ich mich in diesem Leitartikel namentlich zitiert und, durch dessen Thematik und Kontext, wenn auch nicht expressis verbis, in eine Ecke versetzt vorfand, in die ich, so behaupte ich mal kühn, nicht hingehöre. Weshalb wohl habe ich mir die Mühe gemacht, die IHRA-Definition im Detail einer Kritik zu unterziehen (als deren Resultat sie sich dann allerdings als unbrauchbar herausstellte)? Doch nicht, weil ich Antisemit wäre und den Antisemitismus als von Juden erfundene bösartige Chimäre hätte darstellen wollen. Schließlich habe ich am Schluss meines Artikels ausdrücklich erklärt, dass eine Antisemitismusdefinition alles andere als überflüssig ist, allerdings müsse sie klar und anwendbar sein, und dementsprechend habe ich auf die Jerusalemer Erklärung verwiesen.

  1. Henning Marmulla, „Der ewige Sündenbock“, in: forum 419 (Juli/August 2021), S. 5f.

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