Wer Luxemburg von Norden nach Süden – oder umgekehrt – durchqueren und sich dabei die kurvenreichen Waldwege an der Obersauer ersparen möchte, der kommt fast zwangsläufig irgendwann am Kreisverkehr Fridhaff vorbei. Hier spaltet sich die N7, eine Nebenstraße der belgischen Autoroute du Soleil und den Luxemburgern eher als Nordstrooss bekannt: Ein Teil von ihr verwandelt sich nach Ettelbrück in die Autobahn A7, der andere Teil führt den Bummelverkehr durch die Ortschaften von Ettelbrück über Mersch und Lorentzweiler bis nach Luxemburg-Stadt. Aus Sicht der Gutland-Bewohner ist dieser Kreisverkehr der letzte Außenposten der Zivilisation, bevor man den Teil der Welt betritt, der dem Volksmund nach „mat Brieder zougeneelt“ ist. Und wie es sich für einen richtigen Außenposten gehört, findet der geneigte Reisende hier ein letztes Mal Rast, Verpflegung und Treibstoff. Mit anderen Worten: Zwischen den beiden nach Süden abgehenden Straßen schmiegt sich eine Tankstelle an den Busen des Kreisverkehrs.
Tankstellen sind in gewisser Weise die spätkapitalistischen Erben der Karawansereien, jener befestigten Herbergen entlang der mittelalterlichen, orientalischen Handelsrouten, die den Karawanen Obdach, Schutz und Verpflegung boten. Seit die Zugtiere der Handelsreisenden nicht mehr Wasser, sondern Diesel saufen, also seit der Brummi den Muli abgelöst hat und der Fernhandel von Speditionen betrieben wird, haben sich auch die Ansprüche an die Raststätten entlang der Straßen gewandelt. Die Sklaven sind heute nicht mehr die Handelsware, sondern sie sitzen in den Fahrerkabinen und transportieren die Fracht über die Europastraßen, sie leben und schlafen in ihren Zugtieren, und deshalb ist die Ferntankstelle auch nicht mehr wirklich Gast-, sondern Raststätte, reduziert auf das Nötigste. Und trotzdem ist sie für den Reisenden immer noch ein Ort der Hoffnung: Wer nachts nach langer Dunkelheit auf unbekannten Straßen das vertraute Licht von Shell, Aral oder Total in der Ferne sieht, während die Tanknadel im orangenen Bereich kratzt, die Blase drückt und die letzte Kippe längst geraucht ist, der kennt das wohlige Gefühl von Erleichterung, das sich bei dem Anblick der erleuchteten Preissäule in der Magengegend ausbreitet.
Im Gegensatz zu den alten Karawansereien mit ihren Arkaden sind Tankstellen natürlich in den allermeisten Fällen architektonische Verbrechen gegen jedes ästhetische Empfinden – der Fridhaff ist da keine Ausnahme. Die Zapfsäulen tragen ein einfallsloses Zeltdach, unter dem Hornlautsprecher dem ausgestrahlten Eldo-Radioprogramm zu einem Vintage-Sound verhelfen. Den ausrangierten Schulbus, der einst Giggis Frittenbude beherbergte, kann man noch in der Google Streetview bewundern. An seiner Stelle steht heute eine einsame Picknickbank auf dem Flecken Wiese, umsäumt von Asphalt.
Wer am späten Abend auf dem Fridhaff einkehrt, lenkt seinen Pkw durch eine Gasse geparkter Sattelzüge in den grellen Schein der Halogenstrahler – die Fahrer stehen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhalten sich gedämpft bei einem Bier oder einer Flasche Schnaps. Sie machen allerdings nur eine der Personengruppen aus, die an diesem Platz ihren Treffpunkt haben. Eine andere sind die Soldaten aus der nahen Kaserne am Herrenberg. In den Morgenstunden treten hier die Uniformen an wie zum Appell, um sich mit Fertigmahlzeiten, Zigaretten und Energydrinks zu versorgen. Zur Mittagsstunde sind es die Angestellten der nahen, wachsenden Industriezone, welche sich ein schnelles Pausenbrot besorgen. Und zum Feierabend hin trudeln die Pendler ein, jene Grenzgänger aus dem Eifelkreis Bitburg-Prüm, die sich hier mit Luxemburgs wichtigsten Exportprodukten – Tabak, Kaffee und Sprit – eindecken, bevor sie in ihre mittelgebirgige Heimat zurückkehren. Und auch die motorisierte Dorfjugend aus der näheren Umgebung trifft sich abends hier, um beim gekühlten Hopfengetränk aus dem Shoppi über die neueste Auspuffblende zu sinnieren.
Die unterschiedlichen Menschenströme verwandeln den Lieu-dit, dessen Name entweder auf einen besonders freundlichen Bauern, oder aber ein einstiges Gräberfeld zurückgeht, in einen Ort, der über seine Funktion hinausweist. Der Fridhaff ist ein Knotenpunkt, an dem Menschen sich treffen und einen Austausch pflegen, wo gehandelt und geredet wird. Er erfüllt eine soziale Funktion. Wie sehr das stimmt, habe ich allerdings nur durch Zufall herausgefunden, als ich um den Shoppi herumschlich, auf der Suche nach einem Abort. Dabei traf ich auf Nancy.
Geht man nämlich rechts um das Tankstellenhäuschen herum, so stößt man auf eine unscheinbare Metalltür, die sich von allen Tankstellenmetalltüren der Welt hauptsächlich dadurch abhebt, dass drei gelbschwarze Nummernschilder darauf den „Placken Atelier Fridhaff“ ankündigen. Dahinter verbirgt sich eine Treppe, die ins ausgebaute Dachgeschoss über dem Shoppi führt. Und auf diesen dreihundert Quadratmetern, mit unverputzten Wänden und eingezogenen Spanplattenmauern, findet sich nicht nur die Möglichkeit, ein Kraftfahrzeug zu immatrikulieren und das entsprechende Kennzeichen zu basteln. Hier befindet sich nämlich auch noch ein Laden mit kitschigem Metallnippes, die Büroräume einer Putzfirma namens Botzfuuss, der Vertrieb von Dan’s Snacks, der Vereine und Gaststätten mit handlichen Zwischenmahlzeiten beliefert, CT-Go als Rundum-Service für Autos – und seit Mai 2021 Shortys Tattoostudio. „Den haben wir gerettet“, sagt Nancy. „Der hatte sein Studio davor in Speicher, aber Tätowierer in Deutschland wurden während Corona vollkommen hängen gelassen.“
Nancy und Steve sind die Pächter des Dachgeschosses über der Tankstelle und haben aus dem tristen Betonraum eine Art Co-Working-Space gebastelt, nur ohne Hipster und Start-up-Jargon, dafür aber mit einem alten Flipperautomaten. Nancy hat sich aus dem Geschäft allerdings weitestgehend zurückgezogen, gesundheitliche Gründe. Steve dagegen ist als Geschäftsmann derart umtriebig, dass ich eine halbe Stunde geduldig an seinem Schreibtisch warte, während er noch mit dem Headset am Ohr die Kunden abfertigt. Er ist ein untersetzter Kerl mit kräftiger Stimme und grauem Haarschopf und ist überzeugt: „De Fridhaff kënnt.“ Das habe er vor Jahren bereits gesagt und sei dafür ausgelacht worden. Heute entsteht hier eine Industriezone, da Diekirch und Ettelbrück ihr produzierendes Gewerbe aus der Stadt verbannen, um Wohnraum zu schaffen. „Jetzt müssen wir Bausch noch dazu bringen, dass er uns eine Autobahn baut“, grinst Steve.
Angefangen hat er mit seinem Plattenatelier in einem Container neben der Hauptstraße, der stand allerdings in den Augen der Straßenbauverwaltung nicht weit genug von der Straße entfernt. Deswegen habe er sich mit dem Betreiber der Tankstelle geeinigt und sei ins Obergeschoss eingezogen. Inzwischen betreibt er hier drei Firmen, eine Immobilienagentur sei im Aufbau. Nur die Putzfirma und das Tattoo-Studio, die gehören ihm nicht. Dessen Betreiber, Shorty, ist sein Tätowierer. „Am Anfang von Corona habe ich ihm einfach Geld überwiesen“, erklärt Steve. „Aber irgendwann geht das halt auch nicht mehr.“ Deswegen habe er anders geholfen und kurzerhand mit Spanplatten ein weiteres Zimmer ins Dachgeschoss gebaut, damit Shorty hier tätowieren kann. „Den Platz hab ich ja“, meint Steve achselzuckend.
Er sei hier der „harmoniesüchtige Hausgorilla“, erklärt er, und wenn er Leute ausstehen kann, dann sieht er auch keinen Grund, ihnen nicht irgendwie zu helfen. „Es ist immer einfacher, sich mit einem Menschen zu vertragen, als sich zu streiten. Zum Streiten braucht man immer jemand Drittes, der das auflöst, und das ist dann meist ein Anwalt, der daran verdient.“ Das sei seine Philosophie, danach handele er, und wenn er einen Vertrag mit einem Handschlag bei einem Bier am Tresen besiegeln kann, dann gelte der auch. Steve ist, das ist mir nach unserem Gespräch klar, das menschliche Antlitz des Kapitalismus, ein fast schon altertümlicher Geschäftsmann mit einem feinen Sinn für die richtige Nische; eine Figur, wie geschaffen für den Fridhaff, ein Ort, der eigentlich keiner sein dürfte.
Denn eigentlich ist die Tankstelle ja ein Haltepunkt im Transit, an dem man zwar anhält, arbeitet, sich ausruht, eine Pause einlegt, bevor man weiterzieht; aber sie ist nie das Ziel, sie ist kein Ort des Ankommens. In der Hinsicht ist der Fridhaff besonders. Wenn dieses selbstgebaute Obergeschoss mit seinen improvisierten Spanplattenwänden und seinem gesprächigen Gorilla eines vermittelt, dann ein Gefühl der Heimeligkeit, das man ansonsten maximal in einer zerlebten WG-Küche findet, ein sicherer Hafen für Wanderer und Vertriebene. „Wenn ein Künstler hier ausstellen wollen würde, würde ich ihn mit offenen Armen empfangen“, sagt Steve. „Wir haben hier wirklich genug Platz.“ Ein Satz, den man im notorisch überfüllten Luxemburg nur selten hört – und seltener noch an einer Tankstelle. Andererseits: Die Karawansereien der Perser und Seldschuken waren der Inbegriff der Gastfreundschaft. Vielleicht führt der Fridhaff diese Tradition einfach nur fort – auf seine eigene, besondere Weise.
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