Impfen wirkt, Impfpflicht nicht!

Gleich vorweg: Ich gehöre zu den Ersten, die geimpft wurden und bin geboostert, ich bin kein Impfgegner und empfehle – sowohl als Privatperson als auch als Mediziner – jedem, sich impfen und boostern zu lassen. Die Impfung schützt fast immer gegen einen schweren Krankheitsverlauf, verkürzt die Dauer der Ansteckungsgefahr und mindert die Gefahr der Überbelastung der öffentlichen Gesundheitssysteme (Stichwort: „flatten the curve“).

Leider werden wir das Coronavirus in absehbarer Zeit nicht vollständig in den Griff bekommen und müssen fortan mit ihm zusammenleben. Eine kollektive Immunität ist nicht in Sicht. Trotz Drangsalierung der Ungeimpften durch die Einführung der 2G-Regel hat sich die Impfquote nicht wesentlich verbessert – und es sieht auf den ersten Blick so aus, als könne nur eine gesetzliche Impfpflicht uns weiterbringen; eine Impfpflicht, die aktuell von vielen gefordert wird: vom Nationalen Ethikrat, der Menschenrechtskommission, Ärzteverbänden, der CSV… Ein Referendum für eine gesetzliche Impfpflicht würde ohne Problem eine solide Mehrheit erreichen.

Es mutet also absurd oder masochistisch an, gegen eine gesetzliche Impfpflicht Stellung zu beziehen. Oder nicht? Erst einmal scheint es mir wichtig zu sein, eine Debatte mit rationalen Argumenten zu führen, bei der weder die eine noch die andere Position von vornherein leichtfertig abgetan wird. Für eine solche Debatte gilt es zunächst, einige wichtige Fragen zu stellen.

Welche Impfpflicht?

Die vulnerablen und alten Leute sind am meisten gefährdet und müssen geschützt werden. Aber ab welchem Alter soll man die Impfpflicht ansetzen? Bei Menschen ab 55 Jahren, wie der Virologe Claude P. Muller im Luxemburger Wort vom 8./9. Januar 2022 vorschlägt[1], bei solchen ab 50 Jahren, wie in Italien, ab 14, wie demnächst in Österreich?

Welche Berufsgruppen, wenn man an sektorielle Impfpflicht denkt, müssen geimpft sein (mit dem Risiko einer möglichen Stigmatisierung): nur die Beschäftigten im Gesundheitsbereich oder auch die Lehrerschaft und die Angehörigen der Sicherheitskräfte wie in Italien?

Müssen sich die vielen ausländischen Grenzgänger auch impfen lassen?

Wie lange soll diese Impfpflicht dauern? Bis alle Menschen zwei Impfungen und den Booster verabreicht bekommen haben oder bis die Pandemie vorbei ist, und wie kann man das definieren? Kann eine Impfpflicht nach einem bestimmten Zeitraum auch wieder aufgehoben werden wegen einer möglichen Unwirksamkeit?

Wie wird die Impfpflicht durchgesetzt?

Die gesundheitlichen und genetischen Daten sind die sensibelsten persönlichen Daten, die durch die General Data Protection Regulation (GDPR) geschützt sind. Wenn der Staat (noch) nicht wissen darf, wer ungeimpft im Land lebt, wie kann er dann die Gesetzeswidrigen bestrafen? Wie sollen die ungeimpften Grenzgänger aufgespürt werden?

Die Impfpflicht, so viel steht fest, würde nicht durch einen Impfzwang durchgesetzt, sondern durch Verhängung von Geldstrafen. Wie sollen diese Bußgelder festgesetzt werden? 100 € für Erwerbslose, 1.500 € für Arbeitnehmer wie in Italien? Oder würden die Geldstrafen von einem Richter gestaffelt an die Einkünfte angepasst, damit die Besserverdienenden nicht bevorteilt werden? Könnten diese Bußgelder nach drei Monaten erneut verhängt werden?

Welches millionenschwere Bürokratiemonster muss der Staat aufbauen bei der Durchsetzung dieser Impfpflicht? Welche Kosten entstehen bei den zu erwartenden Rechtsstreitigkeiten?

Was erlaubt in diesem Kontext unser Arbeitsrecht? Oder muss es angepasst werden? Kann ein Verstoß gegen die Impfpflicht arbeitsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, und darf Arbeitslosengeld bei Entlassung ausbezahlt werden? Die Gerichte werden jahrelang beschäftigt sein.

Ich bin teilweise einverstanden mit dem Argument von Paul Rauchs[2], veröffentlicht auf www.forum.lu am 7. Dezember 2021, dass bei einer gesetzlichen Impfpflicht viele Unentschlossene bereit sein werden, sich impfen zu lassen, wenn man ihnen diese Verantwortung aus der Hand nimmt. Leider werden viele Impfverweigerer und vor allem die radikalsten unter ihnen sich niemals impfen lassen, die meisten von ihnen leiden wahrscheinlich unter einer panischen Angst vor diesem „Gift“. Wahrscheinlich müssten die Psychiater ihnen in einigen Fällen eine Impfunfähigkeit ausschreiben, um sie von ihrem Leiden zu erlösen, andere Impfresistente werden sogar eher bereit sein, in Beugehaft zu gehen. In der medizinischen Praxis sind den Ärzten oft die Hände gebunden, wenn Patienten etwa mit Drogenproblemen oder mit psychiatrischen Krankheiten aus Unvernunft sich nicht behandeln lassen und viel Leid bei den Familienangehörigen verursachen.

Die kollateralen Schäden der Impfpflicht

„Was für eine Corona-Impfpflicht spricht? Impfen rettet Leben. Punkt. Das ist das wichtigste Argument für das Impfen und auch für eine Impfpflicht.“ Konkret: In Deutschland waren es in der ersten Hälfte 2021 „knapp 40.000 Menschenleben, die durch die Coronaimpfkampagne gerettet wurden, schätzt das Robert-Koch-Institut. Demgegenüber stehen laut Paul-Ehrlich-Institut 48 Todesfälle durch die Impfstoffe. Um den Faktor 1.000 weniger.“[3]

Hat der Staat trotzdem das Recht eine Impfpflicht durchzusetzen, wenn er weiß, dass die Impfung seine Bürger verletzen kann oder auch nur einen einzigen Todesfall riskiert? Darf der Staat ein Flugzeug abschießen lassen in einem 9/11-Szenario? In einem solchen Fall hatte das Bundesverfassungsgericht 2006 das Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig erklärt.

In Luxemburg mussten die Nebenwirkungen nach Corona-Impfungen durch die Ärzte gemeldet werden. Ich habe glücklicherweise keine einzige schlimme Nebenwirkung melden müssen, jeder wusste, dass die Einstichstelle während zwei Tagen schmerzen würde, einige mussten eine Krankmeldung von ein oder zwei Tagen bekommen wegen Fieber oder Gliederschmerzen. Die Liste von allen gemeldeten Nebenwirkungen wird kontinuierlich vervollständigt, es hat auch Todesfälle gegeben. Ich befürchte, dass diese Impfnebenwirkungen drastisch zunehmen werden beim Einführen einer Impfpflicht. Die Krankmeldungen nach Impfungen werden exponentiell zunehmen, posttraumatische Stress-Syndrome werden womöglich auftreten, das Risiko bei älteren Mitbürgern besteht, eine Invalidenrente erzwingen zu wollen… Als Allgemeinmediziner werde ich mir eine große Portion Empathie abverlangen müssen in solchen Fällen, oder ich riskiere, angeklagt zu werden wegen zu wenig Mitgefühl bei Patientenjammern auf sehr hohem Niveau. Ein Entschädigungsfonds, der noch nicht besteht, muss beim Einführen einer Impfpflicht errichtet werden wegen all dieser Nebenwirkungen.

Ist eine Impfpflicht wirksam?

Eine Impfpflicht für die meisten gefährlichen Kinderkrankheiten, wie sie z. B. in Frankreich besteht, ergibt Sinn, aber leider nicht für die heutigen Coronaimpfstoffe.

„75 Prozent der Gesamtbevölkerung haben mittlerweile eine erste Impfung erhalten, 85 Prozent seien es bei den über 12-Jährigen. ,Wir sind jetzt endlich dort angekommen, wo wir eigentlich schon länger hinwollten‘, sagt Lenert im Hinblick auf die Impfrate.“[4] Trotzdem stecken wir jetzt in der größten Welle, die wir bis jetzt erlebt haben. Und so halte ich die Zweifel von Claude P. Muller für sehr berechtigt: „Bei der rasanten Durchseuchung durch Omikron, muss auch abgewogen werden, ob eine Impfpflicht das Pandemiegeschehen überhaupt zeitnah beeinflussen kann, wenn die Omikronwelle schon alle Ungeimpften ,geimpft‘ hat.“[5] Oder krasser, und zwar mit dem deutschen Gesundheitsminister Lauterbach ausgedrückt: Alle (!) Ungeimpften seien bis zum März entweder „geimpft, genesen oder verstorben“.

Die Impfpflicht kommt in der aktuellen Lage viel zu spät. Sie ergibt jetzt keinen Sinn mehr.

Leider werden uns nicht alle relevanten Daten zur Verfügung gestellt, um das Pandemiegeschehen adäquat einorden zu können. Aus meinen persönlichen Erfahrungen und der Lektüre der veröffentlichten Daten kann ich nur schlussfolgern, dass die aktuellen Impfstoffe nicht so wirksam sind, wie ich mir das erhofft hatte und wie es uns versprochen wurde. Hier einige Fakten.

  • Im ersten Lockdown sind 25 % der infizierten Bewohner in Alten- und Pflegeheimen an COVID-19 gestorben, während es weniger als 1 % in der ganzen Bevölkerung waren.
  • Drei Monate nach einer zweifachen Impfung sind 5 % von den Infizierten in einem Altenheim (ein Cluster von 40) und 10 % in einem Pflegeheim (ein Cluster von 20) an der britischen Variante gestorben. Ein Kollege erzählte mir damals, dass amerikanische Studien die gleichen Prozentsätze hervorgebracht hätten.
  • Letzte Woche ist eine Mitte 70 Jahre alte Bewohnerin aus einem Pflegeheim trotz zweifacher Impfung mit Booster und trotz der neuen Anti-COVID-Medikamente an COVID-19 verstorben. Es ist wichtig anzumerken, dass alle (!) Pflege- und Arbeitskräfte aus diesem Pflegeheim, von denen über 85 % geimpft sind, jeden (!) Tag und die Bewohner dreimal die Woche mit einem Schnelltest getestet werden. Die verstorbene Bewohnerin hatte keine Antikörper produziert und bei 5-10 % von den Bewohnern aus dem gleichen Pflegeheim sind die Antikörperwerte ebenfalls sehr schwach. Diese Risikopatienten können zum jetzigen Zeitpunkt bei einer Ansteckung nicht gerettet werden, und daran würde auch eine Impfpflicht nichts ändern!

Wenn wir die Entwicklungen in Großbritannien mit der Erfahrung des Freedom Day und die in Italien mit einer teilweisen Impfpflicht miteinander vergleichen (siehe Abbildungen), komme ich nicht umhin festzustellen, dass die Sterberate in der aktuellen Situation in Großbritannien sogar niedriger und stabiler ist als in Italien.

Großbritannien, Quelle: https://coronavirus.jhu.edu/map.html)
Italien, Quelle: https://coronavirus.jhu.edu/map.html)

Die natürliche Infektion, die sich abgeschwächt entwickelt mit einer vorherigen Impfung und durch die wir wahrscheinlich alle einmal hindurch gehen müssen, wenn keine besseren Impfstoffe zugelassen werden, wird uns wahrscheinlich den besseren Immunschutz verleihen. Darüber aber streiten die Virologen noch. Die beste Vorgehensweise könnte wie in Großbritannien die sein, dass man in der wärmeren Jahreszeit die Masken herunterlässt und der natürlichen Durchseuchung der Bevölkerung einen relativ kontrollierten freien Lauf lässt, und vor dem Winter einen angepassten Booster spritzt, so wie bei der Grippeimpfung. Das würde auch sicherstellen, die Welle flach zu halten, um einer Überlastung der Krankenhäuser vorzubeugen.

Ich bin weder Virologe noch Epidemiologe, aber anscheinend gibt es auch noch einige epidemiologische Argumente, die die aktuelle Impfpolitik in Frage stellen. Wichtig scheint mir, das Thema aus allen Perspektiven zu beleuchten. Und wichtig scheint mir auch, immer offen zu bleiben für die Argumente der Gegenseite. In diesem Sinne würde ich mich über zahlreiche Reaktionen auf diesen Beitrag freuen. Vielleicht kann ich ja doch noch überzeugt werden von der Notwendigkeit einer allgemeinen Impfpflicht. Im Moment kann ich nur davon abraten.

Jean-Paul Nicolay praktiziert seit 1984 als Allgemeinmediziner in der Stadt Luxemburg.


[1] Claude P. Muller, „Kommt die Impfpflicht?“, in: Luxemburger Wort vom 8./9. Januar 2022, S. 13.

[2] https://www.forum.lu/2021/12/07/obligez-nous/ (letzter Aufruf: 10. Januar 2022).

[3] https://www.swr.de/wissen/kommentar-pro-contra-covid-19-impfpflicht-100.html (letzter Aufruf: 10. Januar 2022).

[4] Zit. n. Tageblatt vom 8./9. Januar 2022, S. 3.

[5] Muller, „Kommt die Impfpflicht?“, a. a. O.

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