Lernen am Modell

Eine Rezension des Sammelbandes Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten und die Kinderrechte. Errungenschaften und Herausforderungen für das Gerichtswesen

„Ein Kind ist ein Mensch mit denselben Rechten wie jeder Erwachsene – was ist daran eigentlich nicht zu verstehen?“ Ein Satz, mit dem Renate Winter 2019 auf den Punkt bringt, was in Luxemburg seit Jahrzehnten schiefläuft. 

2019 – das ist das Jahr, in dem eine erstaunte Öffentlichkeit wahrnimmt, was unter Fachleuten seit langem bekannt und publiziert ist: dass das Jugendschutzgesetz Kinder und Jugendliche in Luxemburg der Rechte beraubt, die ihnen zustehen. Luxemburgische Kinder und Jugendliche werden vom Gesetz zu Objekten der Rechtsprechung degradiert. 

Versuche seitens der Politik, zu einer neuen Rechtsgrundlage zu gelangen, bleiben seit 20041 vergebliches Stückwerk, weil die Entwürfe nicht in Kooperation mit den relevanten Akteuren aus Zivilgesellschaft, Kinderrecht, sozialem Sektor, Kinder­anwaltschaft und Mediation erarbeitet werden. Eben diesen Akteuren ist es zu verdanken, dass 2019 ein Konferenz­zyklus organisiert wird, der sich dieses wichtigen Themas annimmt.

Ziel des komparativen Zyklus: gewichtige Fachleute mit internationaler Expertise und hervorragendem Ruf zusammenzubringen, um den Anliegen der Kinder und Jugendlichen Luxemburgs unüberhörbar Stimme und Gewicht zu verleihen; um über den Tellerrand des eigenen Systems hinauszublicken; um die verschiedenen Modelle von Jugendhilfe- und Jugendstrafrecht in Europa zu analysieren, die besten Elemente davon zu identifizieren und als gute Beispiele für richtiges rechtsstaatliches Handeln heranzuziehen. So soll eine geballte Wirkung entfacht werden mit der unumstößlichen Konsequenz, eine echte, grundlegende Reform des Jugendschutzrechts in Luxemburg zu erwirken.

Der Druck der Öffentlichkeit wird so groß, dass die Politik keine andere Wahl hat, als dem Rechnung zu tragen und eine grundlegende Reform des Jugendschutzsystems anzustreben.

Flaggschiff des Konferenzzyklus und Rednerin der Eröffnungskonferenz ist die österreichische Richterin und Präsidentin des Komitees für Kinderrechte der Vereinten Nationen, Renate Winter. Bereits dieser Eröffnungsvortrag wirbelt eine Menge Staub auf. Den Status quo 2019 in Luxemburg beschreibend, spricht Renate Winter von Schutzhaft für Kinder und Jugendliche, die in keiner Weise rechtsstaatlichen Prinzipien entspreche; von Strafe statt Schutz ist die Rede; von Inhaftnahme ohne zeitliche Begrenzung; von einem System, das den Kinderrechten in keiner Weise Rechnung trage. 

Der Plan geht auf: die Tages- und Wochenpresse im Land überschlägt sich und wendet sich dem Thema ausführlich und ausdauernd zu. Der Druck der Öffentlichkeit wird so groß, dass die Politik keine andere Wahl hat, als dem Rechnung zu tragen und eine grundlegende Reform des Jugendschutzsystems anzustreben. 

Das alles ist jetzt drei Jahre her, das ist eine lange Zeit. Nach zweieinhalb Jahren Pandemie, einer Chipkrise, schwächelnden globalen Lieferketten, einem halben Jahr Ukrainekrieg sowie der daraus resultierenden Energiekrise sind in der Öffentlichkeit längst andere Themen nach oben gespült. Die Dringlichkeit der Reform ist aus dem Bewusstsein der Journalisten verschwunden, längst versuchen Akteure des Justizsystems, die Notwendigkeit der Reform kleinzureden und mit Kritik an den Entwürfen den Gesetzgebungsprozess auszubremsen.

Aus diesem Grund ist das vorliegende Buch zum genau richtigen Zeitpunkt erschienen. Charel Schmit, Fanny Dedenbach, Renate Winter und Silvia Allegrezza publizieren hier genau jene Vorträge, die 2019 im Rahmen des oben beschriebenen Konferenzzyklus gehalten wurden. Die Dringlichkeit einer richtigen Reform wird greifbar, wenn Schritt für Schritt die kleinen und großen Schwächen des luxemburgischen Jugendschutzgesetzes benannt, seziert und analysiert werden.

Aber es wäre zu kurz gegriffen, die Beiträge im französisch-, deutsch- und englischsprachigen Buch lediglich auf die Kritik des Bestehenden zu reduzieren. Das Gegenteil ist der Fall: Schon im ersten Teil der Publikation werden die europäischen Kinderjustizsysteme auf supranationaler und europäischer Ebene sowie aus einer transnationalen Perspektive analysiert. Zu finden ist die Beschreibung von Systemen, Prinzipien und Beispielen für eine gute, kindergerechte Justiz aus anderen Ländern Westeuropas. Besonders hervorzuheben ist in diesem Teil der oben bereits erwähnte Beitrag von Renate Winter sowie die Beschreibung der „Kinderrechte in den Kinderjustizsystemen in zehn Grundsätzen“ durch Benoît Van Keirsbilck.

Im zweiten Teil des Sammelbandes finden sich Analysen nationaler Jugendgerichtswesen. Unter die Lupe genommen werden die Systeme (sowie deren Stärken und Schwächen) von Belgien, Deutschland, Frankreich, Irland sowie der Schweiz. Es ist sehr empfehlenswert, sich eingehender mit diesen Beiträgen auseinanderzusetzen; insbesondere aus dem Grund, dass Luxemburg derzeit ja nicht nur den Jugendschutz reformiert, sondern endlich auch dabei ist, erstmals ein Jugendstrafrecht auf den Weg zu bringen.

Dieses Buch ist zum genau richtigen Zeitpunkt erschienen.

Die Kritik am Luxemburger System sowie hervorragende Beispiele für die Dringlichkeit einer Veränderung der Gesetzgebung finden sich im dritten Teil des Buchs. Hervorzuheben sind hierbei die Beiträge von Charel Schmit und Fanny Dedenbach. Charel Schmit beleuchtet die jüngere Vergangenheit des Jugendschutzsystems und bringt verschiedene Modelle von Jugendstrafrecht in eine Synopsis. Fanny Dedenbach zeigt mit ihrer Arbeit, dass die ungenaue Begriffsbestimmung im Jugendschutzgesetz zu äußerst repressiven Maßnahmen bei verhältnismäßig geringem Anlass führen kann. Die Bewertung der Situation, so Dedenbachs pointierte Kritik, unterliegt keiner prozeduralen Fairness und basiert nicht auf einer unvoreingenommenen Gerichtsbarkeit. 

Der eher revisionistische Artikel von Simone Flammang will nicht so ganz zum Grundtenor der Publikation passen, was allerdings durch die anderen Artikel wieder wettgemacht wird. Besonders lesenswert sind die Positionen des ORK (Ombuds-Comité fir d’Rechter vum Kand) / OKAJU (Ombudsman fir Kanner a Jugendlecher) und der CCDH (Commission consultative des droits de l’homme) mit Stellungnahmen gegen den Entzug der autorité parentale im Fall einer Heimplatzierung, gegen die Inhaftierung von Minderjährigen in Straf­anstalten sowie die gängige Praxis der durch Gerichte verordneten Heimunterbringung. Simone Beck weitet den Horizont mit ihrem lesenswerten Plädoyer für Bildung statt Strafe.

Erwähnenswert ist auch die zweiteilige Zeitleiste der Entwicklung der Kinderrechte, die sich im vierten Teil der Publikation befindet und mit der auf der einen Seite die internationalen, auf der anderen die luxemburgischen Etappen versammelt sind. Charel Schmit zeigt über eine Länge von 21 Seiten eindrucksvoll, dass der aktuelle Gesetzgebungsprozess in einem deutlich größeren Zusammenhang steht, dessen Wurzeln in der Magna Charta Libertatum (1215) gründen.  


Thomas Köhl ist Erziehungswissenschaftler und Direktions-mitglied von arcus ASBL.


1 Projet de loi 5351 portant modification de la loi modifiée du 10 août 1992 relative à la protection de la jeunesse [abandonné]).


Charel Schmit / Fanny Dedenbach / Renate Winter / Silvia Allegrezza (Hg.), Jeunes en conflit avec la loi et les droits de l’enfant. Acquis et futurs éfis pour le système de justice / Youth in Conflict with the Law and the Rights of the Child. Achievements and Challenges Ahead for the Justice System / Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten und die Kinderrechte. Errungenschaften und Herausforderungen für das Gerichtswesen, Luxemburg, OKAJU Editions, 2022.

Die Publikation kann kostenfrei über contact@okaju.lu angefordert werden.

Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.

Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!

Spenden QR Code