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Wanderer, kommst du nach Cle...

© Carlo Schmitz

In der Frühphase meiner geografischen Bildung sagte mein Vater mir oft, Italien sähe aus wie ein Stiefel, Luxemburg hingegen wie ein Schuh. Ich konnte dem nicht ganz folgen, erinnerte Luxemburg mich doch eher an den Kopf eines Zauberers mit einem langen, spitzen Hut: dem Ösling. Allerdings wagte ich nicht, meinem Vater in dieser Hinsicht zu widersprechen, während ich ihn durch den bereits erwähnten Stiefel dirigierte, den ADAC-Straßenatlas neben mir auf der Rückbank des alten Toyota Carina. Es waren immer die Italienurlaube, bei denen ich lernte, wie man Karten liest – im Ösling fand mein Vater, von Beruf Kraftfahrer im Güternahverkehr, sich problemlos selbst zurecht. Öfter als nach Italien zuckelten wir demnach auch mit der Heibleiws­kärchen nach Transsauerien, um im Norden des Landes nach Fossilien und Kriegsdenkmälern der Ardennenschlacht zu suchen. Insbesondere der Sherman M4 hatte es mir als Kind angetan. Ich kletterte gerne auf den Panzer und stellte mir vor, ich wäre ein amerikanischer G.I.

Erst Jahre später drehte ich einmal eine Karte um, den Norden nach Westen, und dann wurde ein Schuh draus. Die Spitze des Schuhs ist demnach Ulflingen, uns interessiert heute aber der dicke Zeh Luxemburgs: Clerf oder Cliärref, wie die Eingeborenen es nennen, ein Laut aus der Zeit vor der Erfindung des Luxemburgischen im Jahr 1984, als man sich im Ösling noch verständigte, indem man sich gegenseitig Schieferplatten gegen den Kopf schlug. Seit die Zivilisation aber auch in den bewaldeten Tälern des Luxemburger Nordens Einzug hält, bleiben derartige Kommunikationsversuche aus und man kann mit gebundenen Wanderschuhen die Gegend relativ gefahrlos erkunden. Relativ. „Die Markierungen der Wanderwege werden zur Zeit geändert“, informiert die Tourismusverwaltung des Kantons und rät zur Nutzung einer App, damit der geneigte Wandertourist in den Luxemburger Ardennen nicht verlustig geht. Das dafür benötigte Smartphone kann man scheinbar direkt an den Windkraftwerken entlang der Wanderrouten aufladen. Wem das zu unsicher erscheint, dem empfehle ich eine Fahrt mit meinem Vater nach Italien, um zu lernen, wie man eine Karte liest und wie man die Wahl des richtigen Weges auch gegen anhaltende Schimpftiraden durchsetzt.

Aber zurück nach Clerf, das neben seinen 150 Wanderirrwegen noch einige Dinge mehr zu bieten hat. Zunächst einmal: Das Dörfchen ist wirklich schön. Mit Mischwald überwucherte Steilhänge umgeben die Siedlung in der Talfurche, überragen jedes menschliche Bauwerk und verursachen an verregneten Herbsttagen ein Gefühl melancholischer Klaustrophobie. An lauen Sommerabenden keimen dagegen Erinnerungen an Imladris auf, Bruchtal, das in der tiefen Schlucht des Bruinen westlich des Nebelgebirges die letzten Elben Mittelerdes vor dem Zugriff von Saurons Schergen bewahrt. Tolkien ließ sich für seine literarische Darstellung vom Lauterbrunnental in der Schweiz inspirieren – Clerf hätte den Dienst sicher auch getan. Die Wasserfälle, die fehlen leider. Und natürlich die filigrane Architektur.

Die Häuser wirken gedrungen, fast geduckt, oder schmiegen sich an die Felsen. Alt sind viele von ihnen, eng stehen sie in den schmalen Straßen beieinander und lächeln höhnisch auf die SUV-Fahrer hinab, die sich hier mit leichter Panik in den Augen gegenseitig auszuweichen versuchen. Betonkästen, die andernorts das Bild des Landes prägen, sind hier noch Mangelware. Trotzdem darf der kanariengelbe Kran, der inzwischen den Kirchturm als Wahrzeichen der nationalen Mentalität abgelöst und das Heilsversprechen des christlichen Jenseits in ein säkulares Wachstumsdogma verwandelt hat, natürlich auch in Clerf nicht fehlen. Nahe dem Bahnhof ragt das stählerne Ungetüm in die Höhe; wie ein Versprechen sich anbahnender Veränderung steht es am Ufer des Bachs, der das Dorf durchzieht. Dieser heißt natürlich auch Clerf. Wer mit Schieferplattenkopfschlägen kommuniziert, bevorzugt einen pragmatischen Wortschatz.

Neben dem Kran sind es jedoch hauptsächlich zwei Monumentalbauten, die dem Wanderer ins Auge fallen: die im spätromanischen Stil erbaute Kirche, deren Doppeltürme weithin über das Tal hinweg zu sehen sind, und natürlich das Schloss, welches sich übrigens bis 1854 im Besitz des belgischen Adelsgeschlecht de Lannoy befand, bzw. deren luxemburgischer Seitenlinie. Möchte Guillaume bei Herrschaftsantritt hier etwa Erbansprüche seiner Frau geltend machen und sich als Raubritter im Norden dem Zugriff der DP entziehen? Fort von den wachsamen Blicken von Bettel und Backes, um den Adel zu alter Glorie zu führen? Die Vorstellung hat etwas: Immerhin könnte man dann die derzeitigen Ausstellungen im Schloss in die Stadt transferieren und im großherzoglichen Palais ausstellen. Ich meine, wer geht denn bitte nach Clerf, um sich ein paar alte Fotos anzugucken? Wir waren immer nur da, damit ich auf den Panzer klettern konnte, der bis vor Kurzem noch vor dem Schloss stand.

Fotos sind aber heute natürlich ein Grund für den Ausflug nach Clerf. Nicht nur die, die man von sich selbst in der malerischen Landschaft schießt und dann auf Instagram teilt. Ich rede natürlich von The Family of Man, dem Beweis, dass man auch als Luxemburger kulturhistorische Bedeutung erlangen kann, wenn man das Land nur früh genug verlässt. Ich muss Ihnen jetzt nicht die Geschichte von Edward Steichen erzählen, wenn Sie den Mann nicht kennen, benutzen Sie Google. Nachdem Luxemburg die Ausstellung 1952 unter dem damaligen Kulturminister Pierre Frieden gar nicht haben wollte, mit der Begründung, Fotografie sei keine Kunst, so besann man sich 1966 unter dem Einfluss des Journalisten Rosch Krieps eines Besseren. Seit 1994 ist die Ausstellung im Schloss von Clerf zu sehen und genießt ein neu erwachtes Interesse, nachdem die Verrisse von Roland Barthes und Susan Sontag jahrelang ihren Wert schmälerten. Inzwischen ist für die meisten Forscher klar, dass Barthes wohl nur den Ausstellungskatalog, nicht aber die Ausstellung selbst gesehen hatte. Auch philosophischer Weltruhm schützt nicht vor schlampiger Arbeit. 

The Family of Man ist natürlich ein Produkt ihrer Zeit, deutet aber spannenderweise weit über die damals wie heute grassierende Borniertheit hinaus. Natürlich mag man die Auswahl der Fotografen als überwiegend weiß, männlich und amerikanisch kritisieren, natürlich wirken die Bilder aus anderen Kulturen gestellter als die Schnappschüsse aus dem Westen, natürlich werden Klassenunterschiede von der Wholesomeness eines neokolonialen Humanismus planiert. Trotzdem ist nicht abzustreiten, dass viele der gezeigten Motive für die damalige Zeit revolutionär waren, insbesondere in einer Ausstellung, die auf Massenwirksamkeit ausgelegt war. Die grundsätzliche Überzeugung aber, mit der die Gleichheit und der Wert des Menschen, die Liebe, die Familie und die Möglichkeit internationaler Kooperation von Steichen glorifiziert wird, erscheint vor allem deshalb so naiv, weil auf dem Nährboden der letzten fünf Jahrzehnte ein gesamtgesellschaftlicher Zynismus gedeihen konnte, der seine Verachtung des Guten gerne als pragmatische Abgeklärtheit verkauft und deswegen wunderbar mit der neoliberalen Ideologie des atomisierten Individuums kompatibel ist. „There is no such thing as society“, sagte Margaret Thatcher. Für Steichen gab es „nothing but society.“

Die Juxtaposition der Family of Man mit dem Museum der Ardennenschlacht, beide im Schloss von Clerf untergebracht, wirkt zugegebenermaßen etwas skurril – andererseits war es natürlich auch jener Krieg, der bei Steichen die Idee dieser Ausstellung keimen ließ, auch wenn er als Fotograf nur den pazifischen Kriegsschauplatz bereiste. Die Frage, die sich an dieser Reibungsfläche natürlich notwendig stellt, ist folgende: Wenn nur globale Kooperation den Frieden und den Wohlstand aller Menschen sichern kann, was machen wir mit den Leuten, die nicht kooperieren wollen? Wegbomben, wie die Alliierten es mit Deutschland und Japan taten? Wirtschaftssanktionen, wie Europa und die USA sie nun gegen Russland anwenden? Oder finden wir uns damit ab, dass Kooperation eine große Nachkriegsillusion von fortschrittsgläubigen Spinnern war und Frieden nur im Relativismus der Systeme und jenseits von Demokratie und Menschenrechten möglich ist?

Finstere Gedanken für einen Sommernachmittag in Clerf. Im Schloss beschleicht mich ein Frösteln, wegen des Fotopapiers dürfen die Räume nicht wärmer als 19 Grad sein. Nach der Ausstellung setze ich mich auf eine Terrasse und begucke verdutzt den Eierlikör, den man mir kommentarlos zum Kaffee hinzustellt. Im Ösling läuft offenbar noch einiges anders, Schieferplatten hin oder her. Vielleicht ist es auch ganz gut, dass der Sherman nicht mehr dort vor dem Schloss steht. Wirkt auf jeden Fall friedlicher. Kriegsdenkmäler gibt es auf dieser Welt nun wahrlich mehr als genug.  

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