Nana hinter Gittern
Die Missachtung einer großen Künstlerin
Viele werden sich an das Kunstereignis im Kulturjahr 1995 erinnern, als elf Skulpturen von Niki de Saint Phalle über die Stadt gekommen sind wie ein Meer von Blüten, „Symbole fröhlicher, befreiter Frauen […], aufgestellt draußen in der Mitte eines Parks oder eines Platzes […], dass sie Macht über die Welt übernehmen“,1 sagte Niki de Saint Phalle über ihre Skulpturen. Wo Macht ist, ist Streit. Es ließ sich für mich nicht herausfinden, was der Grund war, dass zur Schlussprozession der Oktave eine ihrer Nanas – „Clarice again“ (1965/67) – verhüllt wurde. Alle, die ich sprach, wussten etwas anderes zu berichten. Dass wie bei allen ihrer Nanas so auch bei dieser in der Avenue de la Porte-Neuve der Eros der verhüllten Skulptur mit „sexuellen Phantasien spielt“2 – womöglich besonders mit denen der an ihr vorbei pilgernden Oktavteilnehmer –, ist Teil ihrer befreienden feministischen Kraft. Und wie wir aus Liturgie und Maskerade wissen, weckt die Verhüllung Aufmerksamkeit. Vielen Menschen sind die Nanas mit ihrer Leuchtkraft ebenso Trösterinnen geworden wie für andere die bewährte „Consolatrix afflictorum“. Denn wer weiß, welch langen Weg Niki de Saint Phalle durch Krankheit, Verletzungen und Leid gegangen ist hin zur Wiedergeburt und Erlösung, wie sie selber sagt, vermag die Nanas mit anderen – befreiungstheologischen – Augen zu sehen. Hätten im Mai 1995 beide Trösterinnen einander offen begegnen können, Maria wäre dem Klerus vom Podest gesprungen.
Nach dem Kulturhauptstadtjahr 1995 wurde schließlich die blaue Nana gekauft: „La Grande Temperance“. Sie stand bis zu ihrem Abtransport 2011 ins städtische Depot auf einem Podest über dem Centre Hamilius und war mit dem Stab in ihren Händen für viele Jahre die Dirigentin des hauptstädtischen Bus-Orchesters. Von wo man auch gekommen ist, konnte man sie wie eine Freiheitsstatue sehen und sich selbst durch die Begegnung mit ihrer schwebenden Leichtigkeit erhoben fühlen. Sie machte aus einem unscheinbaren Platz erkennbar einen Stadtraum. Sie war eine der Wächterinnen der Altstadt. Doch wie schon seit den 1960er Jahren auf dem Boulevard Royal kamen mit Erlaubnis der Stadtregierung Investoren, um aus Stadtraum Geld zu machen. Nicht nur die Nana musste verschwinden, auch der zu ihr gehörende urbane offene Raum wurde zerstört und ist heute hässlich und zugebaut. Er lässt zu nichts Schönem mehr aufschauen und weiß über die Stadt nichts mehr zu erzählen, wie das Skulpturen und Plätze tun und mit deren Hilfe man sich verorten kann: „Kein Ort. Nirgends“ (Christa Wolf). Dass die neben der Stahlskulptur von Richard Serra auf dem Kirchberg auffälligste und bedeutendste Skulptur moderner Kunst auf dem Gebiet der Stadt Luxemburg für acht Jahre eingebunkert wurde, mit einem kurzen Zwischenaufenthalt zur Restauration in Duisburg, ist ein kulturelles Armutszeugnis für die Stadt. Es hätte andere Orte gegeben, etwa den Fischmarkt. Die Nana war Teil der Stadtgesellschaft geworden wie die „Gëlle Fra“ und wurde dennoch fahrlässig dem Vergessen preisgegeben. Mit ihr wurde auch ein Teil der Stadt aus seinem kulturellen und sozialen Zusammenhang gerissen.
Im September 2019 dann wurde die blaue Nana neben der alten Postzentrale wieder auf-, ja eher abgestellt. Es sah aus, als wartete die ehemalige Dirigentin nun selbst auf einen Bus. Sie stand, an die Wand gedrückt, unscheinbar und lieblos da, mehr Raum hatten die Stadtplaner nicht für sie übrig. Doch wie die meisten für den Stadtraum geschaffenen Skulpturen wirken die Nanas nur, wenn man sie auch und zuerst aus der Ferne sieht und auf sie zugehen kann, weil ohne das Spiel von Ferne und Nähe der Reiz jeder Anziehung verloren geht. Mit Beginn der Renovierung der Post wurde die blaue Nana im Oktober 2021 in den Park der Villa Vauban zwischen drei Bäumen direkt neben den Zaun zur Straße hin verfrachtet. Wer außen am Gelände vorbei geht, bekommt ihr Hinterteil präsentiert. Wenn man von der Villa auf die Nana zugeht, werden ihre Flügel von Ästen verdeckt. Sie scheint auf dem Boden der Luxemburger kulturellen Realität angekommen zu sein. Lebenslänglich hinter Gittern. Was hat die blaue Nana nur verbrochen? Zur Last legen kann man ihr Lebendigkeit und Leichtigkeit.

Winfried Heidrich ist ein katholischer Theologe.
1 Zit. n. Ulrich Krempel (Hg.), La Fête. Die Schenkung Niki de Saint Phalle, Ostfildern, Hatje Cantz Verlag, 2001, S. 49f.
2 Jessica Benjamin, Die Fesseln der Liebe, Frankfurt a. M., Vittorio Klostermann, 1993, S. 74.
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