
„Vielleicht“, schreibt Kim de l’Horizon in seinem*ihrem Debütroman Blutbuch, der dieses Jahr den Deutschen Buchpreis gewann, „vielleicht ist Heimat kein Ort, sondern eine Zeit.“ Die Überlegung ist spannend, denn sie liefert die Erklärung mit, weshalb der Begriff der Heimat immer konservativ aufgeladen ist. Und auch, weshalb so viele eigentlich politisch nicht sonderlich auffällige Leute plötzlich Bürgerinitiativen gründen, um einen Neubau im verschlafenen Ortskern eines Kuhdorfes zu verhindern. Sie verteidigen damit gar nicht den Ort, sondern ihren eigenen, persönlichen Zeitstrang, der durch eine Veränderung vom Absch(l)uss bedroht wird. Sie schützen ihre in die Gegenwart hineinragende Erinnerung an etwas, das gut war. Ein Ort ist öffentlich, man kann ihn gestalten. Eine Zeit ist immer privat, und wer den Raum verändert, in dem sie konserviert ist, greift in die Privatsphäre ein. Erinnern Sie sich daran, wie Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben nach Hause kamen und Ihre Eltern die Inneneinrichtung verändert hatten? Auf der neuen Couch im Wohnzimmer sitzt man immer unbequem. Sie fühlt sich an wie Verrat.
Diese Kolumne wird also etwas privater als gewöhnlich. Meine drei oder vier aufmerksamen Leser*innen wissen bereits, dass ich dazu neige, kleine Anekdoten aus meinem Leben wie Schnappschüsse aus alten Familienalben in die Texte einzukleben. Dieser Text hier ist ein Film, und zwar einer von jenen, die Familienväter in den Neunzigern mit ihrer wackelnden Sony-Handkamera von den süßen Peinlichkeiten des Nachwuchses aufgezeichnet haben und die heute glücklicherweise niemand mehr sehen kann, weil kein Mensch mehr die notwendigen Abspielgeräte besitzt. Millionen Stunden Unfug, die niemals eine verlorene Seele auf Instagram belustigen werden. Deswegen drücken wir jetzt auf ττ und spulen etwa dreiundzwanzig Jahre zurück, und zwar nach Dalheim.
Wenn Sie sich jetzt fragen, wo zum Geier Dalheim liegt, dann sind Sie nicht allein. Die Gemeinde hat sich einen Flecken Niemandsland im Südosten Luxemburgs ausgesucht, der nicht mehr wirklich zur Mosel gehört und sich zwischen Mondorf, Contern und Frisingen eingenistet hat. Zu der Gemeinde gehören noch Welfringen, das wirklich nicht mehr ist als eine Handvoll Häuser in einem Loch, wo bis vor Kurzem sogar noch die Telefonleitungen oberirdisch verliefen, und Filsdorf, ein paar mehr Häuser, die sich um eine Straßenkreuzung versammeln und wo ich herkomme. Filsdorf kennen einige Leute, weil es dort mal die einzige Straußenfarm Luxemburgs gab. Ansonsten ist die gesamte Gemeinde maximal Transitort – man fährt durch, weil man eigentlich irgendwo anders hin muss. Es gibt wirklich keinen Grund, weshalb man nach Dalheim wollen würde.
Mich verschlägt es aber immer wieder dahin, was daran liegt, dass meine Eltern noch dort leben. Und jedes Mal, wenn das Ortsschild vor meinen Augen auftaucht, habe ich das Gefühl, eine kleine Zeitreise zu unternehmen – hinein in eine Blase, in der die späten 1990er und frühen 2000er konserviert sind. Zwar sind den Dörfern inzwischen weitere Gliedmaßen in Form von Neubaugebieten gewachsen, doch die Ortskerne verändern sich kaum, sind samt heruntergekommenen Fassaden einerseits und hübsch gepflegten Einfamilienhäusern andererseits gleich geblieben. Dieselben Menschen drehen auf den Feldwegen um das Dorf ihre Runden, nur die Hunde an der Leine sind andere. Und spätestens, wenn wieder ein goldener Vandivinit-Bus um die Ecke biegt, spüre ich das Gewicht des Schulranzens auf meinen Schultern und versuche, den Fahrer zu erkennen, der natürlich nicht mehr Serge, Mario oder Luc ist, oder einer von den anderen, die ich als Schüler alle mit Namen kannte.
Ich glaube, jedes Dorf hat seine Clans, und in Dalheim waren es immer die Vandivinits. Sie betrieben das Busunternehmen, das uns zur Schule brachte. Sie waren im Musikverein engagiert und bei den örtlichen Pfadfindern, gingen sonntags in die Messe und organisierten auch die Feier am 1. Mai mit. Mein Frisör war ein Vandivinit, die Patentante meiner Schwester ist eine Vandivinit. Und mein bester Freund seit Sandkastentagen ist natürlich auch ein Vandivinit. Als ich irgendwann mit elf oder zwölf von zu Hause ausbüxte und mit einem Bauch voll kindlicher Wut und einem Rucksack voll unnötigem Zeug entlang der Landstraße davonlief, war es ein Vandivinit, der mich entdeckte und meinen Vater benachrichtigte. Kurz: Wenn irgendetwas an Dalheim für mich Heimat ist, dann ist es wohl diese Familie.
Denn ansonsten waren die sozialen Beziehungen und Gepflogenheiten innerhalb der Gemeinde recht einfach strukturiert: Es gab die Fanfare, den Fußballclub, die freiwillige Feuerwehr und die Pfadfinder. Ich war unmusikalisch, unsportlich, hatte Angst vor Feuer und wanderte nicht gerne. Obendrein halte ich bis heute wenig von den Gruppendynamiken, die sich in Vereinen fast notgedrungen entwickeln, weswegen auch mein kurzes Intermezzo bei den Messdienern in der fünften Klasse endete (sehr zur Freude meiner Mutter, die ehrlich befürchtete, mich an die Kirche zu verlieren). Aber damit waren meiner Verwurzlung in den örtlichen Strukturen enge Grenzen gesetzt – ich war wie eine Balkonpflanze, die aus ihrem Topf heraus dem Garten beim Wachsen und Gedeihen zusah und sich insgeheim wünschte, ein Teil davon zu sein. Ich war immer dabei, etwa als wir mit dem BMX auf die Strohballentürme kletterten und runterfuhren, oder als wir uns entschieden, das Dorf zu putzen und während eines Nachmittags mehr als hundert Kilo Dreck von den Straßen sammelten. Ich war dabei – aber ich war nie mittendrin.
Dieses Gefühl, am eigenen Leben nur als Zuschauer teilzuhaben, gebiert eine Rastlosigkeit, die mit dem Idyll von Dalheim kaum zu vereinen ist. Vielleicht auch, weil ich dem Idyll immer mit Misstrauen begegnet bin: Die schimmernde Oberfläche des Gemeinschaftsgefühls war immer schon von feinen Rissen durchzogen, kleinen Fehden zwischen einzelnen Familien, dem Gewäsch tratschender Eltern auf Dorffesten und natürlich der Gemeindepolitik, bei der simple Sachfragen ins Persönliche kippten und zu gordischen Knoten wurden. Kein Alexander weit und breit. Und natürlich auch die ethnische Homogenität, die durch den Ausschluss der wenigen, meist portugiesischen Familien gewahrt wurde und sich durch sämtliche Generationen zog. „Spielt nicht mit den Schmuddelkindern“, hat uns nie jemand wörtlich gesagt, trotzdem haben wir Dreikäsehochs den Ratschlag beherzigt. Der subtile Rassismus schlug schließlich in offene Fremdenfeindlichkeit um, als wir einen schwarzen Pfarrer bekamen und die Bänke in der Kirche leer blieben. Dass seinem Vorgänger gegenüber Kindern angeblich gerne mal die Hand ausrutschte, hatte dagegen kaum Einfluss auf die Einschaltquote der wöchentlichen Shitshow im Tempel der Scheinheiligkeit.
Wenn die Vergangenheit aber zum Zufluchtsort wird, wenn also Heimat als Zeit entsteht, dann restauriert die Nostalgie diese Oberfläche und schließt die Risse, lässt die blassen Farben eindrücklicher leuchten, als sie es je taten. Wie viel von dem, was wir Heimat nennen, ist nostalgisch überhöhte Banalität? Wenn ich heute an die Herbsttage zurückdenke, in denen wir in der Nähe des Adlermonuments an der Hauptstraße Kastanien sammelten, um daraus mit Zahnstochern Figuren zu basteln, dann wärmt mich die Vorstellung wie ein Laubfeuer. In Wahrheit war ich wohl genervt davon, hinaus in die Kälte zu müssen und im feuchten Luxemburger Herbst unter Blättern und bei vorbeirasenden Autos nach diesen braunen, harten Knollen zu suchen, von denen die meisten zuhause in irgendeiner Plastiktüte verschrumpelten und vergammelten. Aber daran erinnere ich mich nicht. Davor schützt einen wohl das eigene Gehirn.
In Wahrheit habe ich glückliche Erinnerungen an diese Zeit, zwischen Kastanien, Radtouren, Walderkundungen und Nintendo-Turnieren, an Leroy, Eric, Paul, Yannick und Gilles, aber manchmal fühlt es sich an, als wären diese Erinnerungen nur geliehen, als wäre die Zeit, die andere Heimat nennen, genauso verloren wie die kleinen Kassetten aus der Sony-Handkamera. Die Vergangenheit in der luxemburgischen Provinz ist kein Sehnsuchtsort für mich und ich komme nicht umhin, die Freunde von damals zu bewundern, die heute noch immer oder auch wieder in Dalheim leben, deren Leben so nahtlos an den Raum ihrer Kindheit anknüpfen. Ich laufe immer noch davon, den Bauch voller kindlicher Wut und den Rucksack voll mit unnötigem Zeug. Und vermutlich warte ich irgendwie auf diesen blöden Vandivinit-Bus, der mich nach Hause bringt. Aber die Haltestelle, die finde ich einfach nicht.
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