Armut macht krank – Krankheit macht arm

Was heißt es eigentlich, im reichen Luxemburg „arm“ zu sein? Armut wird noch immer größtenteils als monetäres und materielles Phänomen angesehen. Arm ist demnach ein Mensch, der mit seinem Einkommen oder Konsum unter einem definierten Grenzwert liegt. Wie aber hängt Gesundheit mit Armutsindikatoren zusammen? Dies ist eine wichtige Frage, die in Luxemburg bislang kaum behandelt wurde. Eine genauere Betrachtung zeigt dabei mehr als deutlich: Armut ist ein Gesundheitsrisiko, und Krankheit ist ein Armutsrisiko. Armut und Krankheit treten oft zusammen auf, die Gründe hierfür werden nur ungern gesehen. Dass die Gesellschaft hinsehen und diesen Zusammenhang offen thematisieren muss, versteht sich von selbst. Er betrifft die gesamte Gesellschaft und kann nur durch eine (tiefgreifende) gesamtgesellschaftliche Anstrengung gelöst werden.Die Rolle der Politik muss es sein, die nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit es möglich wird, wichtige Veränderungen einleiten zu können.

Ein Teufelskreis

Der Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit hat sowohl strukturelle als auch individuelle Ursachen. Das Gesundheitsverhalten und der Lebensstil des Einzelnen werden durch materielle und psychosoziale Rahmenbedingungen geprägt. Die Koppelung „Armut und Krankheit“ ist daher Resultat der soziopolitischen Landschaft, in der wir leben und aufwachsen, und könnte durchaus eine andere sein, wenn die Bedingungen andere wären. 

Armutsbetroffene sind häufiger in prekären Arbeitsverhältnissen, arbeiten in Teilzeit und in körperlich und psychisch belastenden Berufen.

Wer in finanziell belasteten Verhältnissen lebt, läuft Gefahr, einer permanenten existenziellen Stresssituation ausgesetzt zu sein. Sorgen um Wohnen, Heizen, Essen und die Zukunft befördern Ängste, Depressionen und Isolation. Eine prekäre Situation verengt allein durch die Notwendigkeit, sich mit existentiellen Bedrohungen auseinanderzusetzen, die Perspektive auf das eigene Leben und raubt Entscheidungsspielräume. Menschen, die in Armut leben, haben oft Schwierigkeiten, sich auf Dauer gesund zu ernähren. Auch fehlt nicht selten das Geld für gesunden Lebensraum: schlecht isolierte, feuchte und schimmelbelastete Wohnungen an lauten Straßen und mit wenig Grünflächen sind wegen der hohen Mietpreise im Land oft die einzige Möglichkeit, die armen Menschen bleibt. Grundlegende Bedürfnisse kommen zu kurz, aber auch soziale Bedürfnisse sind eingeschränkt: Durch Armut werden Kontakte minimiert, Anerkennung und Wertschätzung bleiben aus. Das gemeinsame Tanzen, die geteilte Freizeit und weitere Entspannungsmöglichkeiten, die zu einer besseren Gesundheit beitragen können, sind oft keine Option. 

Es wird deutlich, dass die Probleme nicht nur individueller Natur sind, sondern auch systemisch: Armutsbetroffene sind häufiger in prekären Arbeitsverhältnissen, arbeiten in Teilzeit und in körperlich und psychisch belastenden Berufen, wobei im Umkehrschluss gesundheitliche Beschränkungen das Armuts- und Arbeitsunfähigkeitsrisiko noch verstärken. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erfolgt aber nicht nur über die Arbeit: Soziale Integration als solche ist für die Gesundheit ebenso erforderlich wie medizinische Versorgung. Randgruppen und einkommensschwache Personen haben aber auch in dieser Hinsicht mit Benachteiligungen zu kämpfen.

Jemandes Gesundheit ist am stärksten gefährdet, wenn Risiken kumulieren. Geldmangel und psychische Erkrankungen treten z. B. häufig gemeinsam auf. Menschen mit tieferem sozioökonomischen Status haben statistisch gesehen ein erhöhtes Risiko, Angststörungen, Depressionen oder Suchterkrankungen zu entwickeln. Wenn die Psyche leidet, ist der Gelderwerb sehr beschwerlich. Die wenigen verfügbaren Zahlen zeigen: Bei 54,7 % der Obdachlosen, die von Médecins du monde behandelt worden sind, wurde eine chronische Erkrankung diagnostiziert, und 73,1 % benötigen eine regelmäßige Behandlung oder Überwachung. „Am Anfang steht oft eine psychologische oder psychiatrische Erkrankung“1, stellt Médecins du monde fest. 

Verschlechterte Startmöglichkeiten? 

Wenn die Kopplung von Armut und Krankheit systematisch auftritt, muss es in der Gesellschaft Bedingungen geben, die dieses Phänomen befördern. Die Frage lautet daher: Sind in Armut Geborene dem Gesundheitsrisiko tatsächlich näher? Ein erhöhtes Maß an Kinderarmut hat nachweislich direkte negative emotionale, soziale, kognitive und entwicklungsbezogene Folgen. Studien legen nahe, dass der negative Einfluss schon vor der Geburt beginnt: Kinder von Müttern, die während ihrer Schwangerschaft vermehrt mit alltäglichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, entwickeln sich in den ersten Lebensjahren mitunter langsamer.2 Es ist bewiesen, dass in Armut geborene Kinder auch häufiger an chronischen Krankheiten wie Asthma sowie an ernährungsbedingten Problemen wie Karies, Diabetes und Fettleibigkeit leiden. In Luxemburg läuft jedes vierte Kind Gefahr, in prekären Verhältnissen zu leben,3 das sind etwa 22.000 Kinder.

Wenn man von Kinderarmut spricht, ist es wichtig, auch die direkten Verbindungen, die zu emotionaler Benachteiligung führen, zu berücksichtigen. Geborgenheit, Vertrauen und soziale Netzwerke – zu Hause wie in der Schule – sind Faktoren, die am Ende für die Gesundheit der Heranwachsenden wichtiger sind als das Einkommen der Eltern.4 Studien zeigen, dass sich ein hohes Sozialkapital sich positiv auf die Gesundheit auswirkt; und zwar unabhängig von der Wohlstandssituation des Elternhauses.5 

Zugang zur Gesundheitsversorgung

Gesundheit ist nach der Definition der World Health Organization (WHO) der „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ sowie ein in den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten verankertes Grundrecht. Das luxemburgische Gesundheitssystem ist eines der besten der Welt und sichert, zumindest in der Theorie, „einen gleichen Zugang für alle zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung, und zwar im Rahmen eines abgestimmten medizinischen Betreuungsprozesses, der den Bedürfnissen des Patienten Rechnung trägt und dabei die Entscheidungsfreiheit des Patienten und die Therapiefreiheit des Leistungserbringers gewährleistet.“6 Immer mehr Menschen am Rande der Gesellschaft – auch hier in Luxemburg – haben allerdings vermehrt Schwierigkeiten, ihr Grundrecht auf Gesundheit wahrzunehmen. 

Einer der Gründe dafür ist, dass der Zugang zum Gesundheitssystem und zum Sozialschutz in Luxemburg direkt mit der Wohnadresse des Patienten verbunden ist. Mit anderen Worten: Wenn eine Person nicht bei der Gemeinde angemeldet ist, kann sie keinen Sozialschutz beantragen. Keinen regulären Zugang zum Gesundheitswesen haben Menschen ohne Papiere und obdachlose Personen. Médecins du monde hat festgestellt, dass in 84 % der Fälle Obdachlose, die von ihnen behandelt wurden, nicht vom Gesundheitssystem versorgt wurden und medizinische Kosten selbst tragen mussten.7

Auch Menschen mit einem Dach über dem Kopf und einer offiziellen Adresse, die aber aus diversen Gründen sogenannte „soziale Aussteiger“ (décrochage social) sind, sind betroffen; wie auch Mitbürger in sehr prekären Situationen, die trotz einer CNS-Karte nicht in der Lage sind, den Patientenanteil des Arzthonorars bei einem Arztbesuch zu bezahlen oder Medikamente zu kaufen. Genaue Zahlen und Studien, wie viele Menschen ohne Zugang zur Gesundheitsversorgung in Luxemburg leben, hat man keine. 

© Carlo Schmitz

Es gibt in Luxemburg verschiedene Wege, wie Menschen, die in großer Prekarität oder Armut leben, Zugang zur Gesundheitsversorgung bekommen können. Der tiers payant social (TPS) hat zum Ziel, dass die Person ihre Ausgaben für die Gesundheitspflege nicht mehr vorstrecken muss, sondern die ärztlichen und zahnärztlichen Leistungen direkt von der nationalen Gesundheitskasse (CNS) übernommen werden. Die betroffene Person muss allerdings den Antrag beim zuständigen Sozial­amt der Gemeinde selbst stellen. Dies kann eine Hürde für Personen bedeuten, die sich nicht trauen, einen Antrag zu stellen oder die schlecht informiert sind. Da­rüber hinaus ist der TPS zeitlich begrenzt.

Für Antragsteller auf internationalen Schutz gibt es ein anderes System. Ab dem Zeitpunkt der Mitgliedschaft beim CNS (drei Monate nach Antragstellung8) muss der Schutzsuchende seine Arztrechnungen und Medikamente selbst begleichen. Die Person erhält vom ONA eine finanzielle Unterstützung für diese Kosten. Allerdings sind viele administrative Schritte zu bewältigen, für den Antragsteller sowie das betreuende Personal, besonders, wenn eine Verlängerung beantragt wird. Da die Rechnungen dennoch oft unbezahlt bleiben, weigern sich Ärzte teilweise, solche Patienten anzunehmen. 

2022 wurde ein Pilotprojekt für eine universelle Gesundheitsversorgung (CUSS) eingeführt. Sie soll den Zugang zur Krankenversicherung für Menschen, die in Luxemburg in wirtschaftlicher Not leben, ermöglichen und die Kosten für den Arztbesuch und die Apotheke für verschreibungspflichtige Medikamente decken. Alle Personen, die in Luxemburg leben, keine Einkommensquelle haben und keine Hilfe vom Sozialamt ihrer Gemeinde erhalten können, haben hierauf Anspruch. In der Regel handelt es sich also um Personen ohne offizielle Adresse oder ohne Aufenthaltsgenehmigung.9 Trotz der Bezeichnung „universell“ ist der Zugang zu dieser Krankenversicherung derzeit an eine Reihe von Bedingungen geknüpft, z. B. daran, dass man nicht in einem anderen Land sozialversichert ist, dass man sich bereits länger als drei Monate in Luxemburg aufhält, dass man einer sozialen Betreuung zustimmt, usw. Wichtig ist anzumerken, dass das Pilotprojekt CUSS noch keine legale Basis hat.

Den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen 

Die vorangegangenen Betrachtungen zeigen klar auf: Jemand, der in der Spirale von Armut und Krankheit gefangen ist, hat nicht nur Schwierigkeiten, sich um sich selbst und um seine Lebensqualität zu sorgen. Er hat auch Probleme, in einem Sozialsystem Fuß zu fassen, dass die grundlegende medizinische Versorgung garantieren könnte. Dieses System ist porös und schwerfällig – die Optimierung eine Herkulesaufgabe: Die psychische und physische Gesundheit der am stärksten gefährdeten Menschen in unserer Gesellschaft zu verbessern, bedeutet, ihre Lebensbedingungen zu verbessern und sie in die Lage zu versetzen, vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft zu sein. Dieses Anliegen kann nur mittels eines starken Sozialkapitals und mehr gesellschaftlicher Widerstandsfähigkeit erreicht werden. 

Unser Gesundheitssystem ist nicht darauf ausgerichtet, auf Menschen zuzugehen, die Hilfe benötigen.

Generell ist es wichtig, die Person hinter der Armut in den Mittelpunkt zu stellen und Zugänge zu vereinfachen. Unser Gesundheitssystem ist nicht darauf ausgerichtet, auf Menschen zuzugehen, die Hilfe benötigen. Es gibt viele Hilfen, man muss sie sich allerdings holen und wissen, wie, wo und wann man Anrecht auf etwas hat. In einem Alltag, der von Armut, Sorge und Krankheit bestimmt ist, ist genau das manchmal schwer: Unterstützung zu beantragen, kann an Verständnis- oder Bewältigungsschwierigkeiten scheitern. Ein Case Manager könnte hierbei eine gute Begleitperson sein. 

Das Ziel sollte ein universeller Zugang sein, der unabhängig vom sozialen Status der Person funktioniert. Ein Arzt sollte eine kranke Person behandeln können, ohne erst das Statut des Betroffenen klären zu müssen: Ist er ein Schutzsuchender, hat die Person Zugang zum tiers payant social oder der CUSS? Der Zugang muss universell sein, und eine engere Verknüpfung der sozialen und der medizinischen Welt ist erforderlich. Wir können nicht länger pauschale medizinische Lösungen anstreben, die je nach sozialem Status einer Person an Komplexität zunehmen. 

Die Probleme sind vielfältig und komplex, sie verlangen Bewusstseinsarbeit und Analyse. Hierzu will Caritas Luxemburg am 24. und 25. Mai das Thema in seiner ganzen Bandbreite diskutieren. Das 2023 ins Leben gerufene Caritas Forum ist die Fortsetzung des Sozialalmanachs, der 15 Jahre lang als Instrument für den Dialog zwischen politischen Entscheidungsträgern, der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft diente. Das Caritas Forum verfolgt das gleiche Ziel wie der Sozialalmanach, nämlich ein Thema aus verschiedenen Blickwinkeln zu behandeln und so einen Fundus an Überlegungen, Analysen, Erfahrungen und Beispielen zu bieten, aus dem Interessierte schöpfen können. Mehr Informationen auf: www.caritas.lu/caritasforum 

1 https://tinyurl.com/yckk9hxf (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 15. Februar 2023 aufgerufen). 

2 https://tinyurl.com/y4v5abvx

3 Ebd.

4 www.die-debatte.org/kinderarmut-gesundheit

5 Ebd.

6 https://tinyurl.com/8648d8vn

7 https://tinyurl.com/yckk9hxf

8 Ein anderes System besteht für die ersten drei Monate.

9 Es gibt drei Hauptbedingungen, um die CUSS zu erhalten: Man muss seine Identität nachweisen können, seit mindestens drei Monaten in Luxemburg leben und darf nicht Mitglied einer Krankenkasse sein (weder hier noch anderswo). Außerdem muss die Person eine enge soziale Betreuung akzeptieren, die sie dazu verpflichtet, jeden Monat zum Sozialarbeiter zu gehen.


Carole Reckinger studierte Internationales Recht (LLM), Internationale Politik (MSc) und Development Studies (BA) an der University of London und ist verantwortlich für die politische Arbeit bei Caritas Luxembourg. 

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