- Armut, Kultur
Dolles
Ein Denkmal fürs Nichtstun
Stellen Sie sich vor, Sie wohnen in einem 4.000-Seelen-Dorf, da lebt ein harmloser Landstreicher, und viele Jahre nach seinem Ableben errichtet man ihm ein Denkmal im Wert von 80.000 €. Einfach so! Könnten Sie das nachvollziehen? Eben solches geschah in Niederkorn 2011 auf Betreiben des Bautenschöffen Jean Lorgé (DP). Natürlich gab es im Gemeinderat Kritik von der Opposition, von CSV und ADR. Letztere meinte: „Das Geld für eine teure Gedenkstätte wäre da schon besser in eine Struktur investiert worden, die solchen Menschen wieder auf die Beine hilft und sie von der Tatenlosigkeit wieder zurück in ein geordnetes Leben führt, wo auch das Arbeiten dazu gehört.“1 Manche Niederkorner teilten diese Meinung im Privaten, eine größere Polemik entwickelte sich nicht. Im Gegenteil: „Dolles“ ist wahrscheinlich das meistfotografierte Monument in der ganzen Gemeinde Differdingen.
Mit richtigem Namen hieß er Pierre Adolphe Schockmel und wurde am 19. Februar 1896 geboren. Gearbeitet hat er nicht viel. Nur während des Krieges hatten die Nazis ihn gezwungen, auf der HADIR zu arbeiten, allerdings brachte er außer Kaffeekochen und Kehren nicht viel zustande. Familienangehörige waren nicht bekannt, einige Nachbarn kümmerten sich die letzten Jahre seines Lebens ein bisschen um ihn und pflegten später liebevoll sein Grab. Sein ganzes Leben schlief er in einem offenen Schuppen auf einem dicken Brett ohne Decke und ohne Schlafsack, nur bei eisiger Kälte zog er sich in die Nachbarscheune zurück. 1970 verstarb er im Niederkorner Spital, wo die Barmherzigen Brüder sich bis zuletzt sorgevoll um ihn kümmerten.
Aber wieso wurde diesem Eigenbrötler und Nichtstuer ein Monument errichtet? Im Rahmen von Straßenarbeiten entstand ein kleiner Dorfplatz, der verschönert werden sollte. Jean Lorgé kam auf die Idee, dem Dolles ein Denkmal zu errichten. Als dessen früherer Nachbar hatte er genau auf den offenen Schuppen geschaut, in dem Dolles immer schlief, und manchmal hatte dieser bei Lorgés Großvater als Tagelöhner gearbeitet. Irgendwie war Dolles dem Stadtschöffen ans Herz gewachsen, und so entschloss dieser sich, einen Künstler zu beauftragen, seine Idee umzusetzen. Will Lofy aus dem Luxemburger Grund war einverstanden und realisierte das Projekt: „Eine einfache Platte kommt nicht in Frage, eine Büste macht man für einen General. Der Dolles muss auf einer Bank sitzen wie im richtigen Leben“.

Unser Grundschullehrer Roby Fleischhauer hat einmal sehr treffend seinen Tageblatt-Artikel betitelt: „Denkmal fürs Nichtstun: Der Obdachlose ,Dolles‘ gehört(e) einfach zu Niederkorn“.2 Er war irgendwie ein sehr originelles Stück Niederkorn und Teil der Dorffolklore. Er brachte ein bisschen Farbe in den grauen Alltag. Zu seiner Zeit war er ganz bestimmt die einzige Person im Dorf, die jeder kannte und schon damals ein lebendes „Denk-mal“; eine Person, die ihre Mitmenschen zum Nachdenken und wahrscheinlich zum Mitfühlen inspirierte. Viele, die ihm damals begegneten, werden sich Fragen über seine Herkunft gestellt haben, wie er lebte und überlebte, warum er nicht arbeitete, ob er krank oder unglücklich war, ob er wohl Hilfe gebrauchen konnte – alles Fragen, auf die man keine Antworten gefunden hat. Für die meisten blieb er eine mysteriöse Figur, über die man nichts wusste. Erst lange nach seinem Tod, als das Denkmal geplant wurde, setzten Nachforschungen in den Gemeindearchiven ein. Endlich hat man dann seinen richtigen Namen und sein Geburtsdatum gefunden. Er wurde tatsächlich in Niederkorn geboren! Manchmal interessiert man sich erst für Menschen, wenn sie schon lange verstorben sind und wenn man sie vermisst.
Wenn Sie nächstens in Niederkorn sind, nehmen Sie sich ein bisschen Zeit, setzen Sie sich zu Dolles auf die Bank, und blicken Sie gemeinsam mit ihm dem Sonnenaufgang entgegen. Vergessen Sie ihren Alltagsstress, ihre (unnötigen) Sorgen, und lassen Sie sich anstecken von seinem Nichtstun, seiner Exotik und Freiheit. Vielleicht beginnen Sie zu sinnieren und fragen sich, wann Sie zuletzt auf einer Bank saßen – zusammen mit einem Obdachlosen, einem Nichtstuer … einem armen Mitmenschen.
1 https://www.wort.lu/de/lokales/polemik-um-dolles-4f61b3afe4b0860580a9cd91 (letzter Aufruf: 6. Januar 2023)
2 https://www.tageblatt.lu/headlines/denkmal-fuers-nichtstun-der-obdachlose-dolles-gehoerte-einfach-zu-niederkorn (letzter Aufruf: 6. Januar 2023)
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