„Das Trauma ist die Grundlage des europäischen Traums“

Interview mit Aleida Assmann

Am 10. Mai 2023 luden die Luxemburger Unesco-Kommission und das Institut Pierre Werner zu einer Begegnung mit der deutschen Literatur- und Kultur­wissenschaftlerin Aleida Assmann in der Abtei Neumünster ein. Die Veranstaltung fand im Rahmen der „Rendez-Vous de l’Unesco“ zum Thema Weltbürgerschaft statt – am Jahrestag des deutschen Einmarschs in Luxemburg 1940 und einen Tag nach dem Erinnerungstag an die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950. Im Bereich der Erinnerungsforschung sind Aleida Assmann und ihr Mann Jan unumgängliche Referenzen. Besonders bekannte Veröffentlichungen Aleida Assmanns sind neben ihren rezenten Überlegungen zu transnationalem und globalem Gedächtnis ihre Werke Erinnerungsräume (1999), Die langen Schatten der Vergangenheit (2006) sowie Die Wiedererfindung der Nation. Warum wir sie fürchten und warum wir sie brauchen (2020).

Im Interview mit forum reflektiert Assmann über die europäische Identität und erklärt, wie das historische Gedächtnis den Anfang der Europäischen Union  (EU) bildet. 

forum: Liebe Frau Assmann, in Luxemburg ist der 9. Mai seit 2019 ein gesetzlicher Feiertag, der Europatag. Auch Sie haben sich in den letzten Jahren Europa zugewandt und das Buch Der europäische Traum (2018) veröffentlicht. Wie kommt es dazu, dass Sie sich neben Erinnerungskulturen auch für Zukunftsvisionen interessieren?

Aleida Assmann: Ich habe mit diesem allgemeineren Thema schon 2013 mit dem Buch Ist die Zeit aus den Fugen? begonnen. Damals hatte ich gemerkt: Irgendwie hat sich die Welt verändert. Die Gegenwart ist mehr als nur der Umschlagspunkt von Zukunftserwartung in Vergangenheitserfahrung, wie Koselleck [Anm. d. Red.: der Historiker Reinhart Koselleck], das ausgedrückt hat. Wir dehnen Gegenwart aus, indem wir etwas aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein holen und uns eine Orientierung in die Zukunft verschaffen. Die Zeitstufen sind ineinander verschlungen. So funktioniert das Gedächtnis. Das wussten die Philosophen längst: Husserl [Anm. d. Red.: der Philosoph Edmund Husserl] sprach von Retention und Protension. Diese Begriffe waren schon da. Man musste sie nur aus der Individualpsychologie herausholen und auf die Gesellschaft anwenden: als Konzept und verbindliches Modell dafür, wo man sich in der Zeit befindet. 

Ist die Zeit aus den Fugen? ist ein Buch, das sich biografisch mit meiner Zeitbefindlichkeit beschäftigt. In einem längeren Kapitel über den amerikanischen Traum zeige ich, was es bedeutet, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ständigen Fortschritt von der Zukunft zu erwarten. Dann kam Der europäische Traum. Da war ich schon im Ruhestand und hatte die Lizenz, mich den Problemen meiner Gegenwart zuzuwenden. 

Eine Lizenz zum Schreiben?

Genau, eine Lizenz zum Schreiben und neu Nachdenken über Dinge, für die ich keine Spezialistenkompetenz hatte. Bei Europa war das so. Meine Schlüssel, um diese Tür zu öffnen, waren Zeit und Gedächtnis. Wie gehen die verschiedenen Nationen und Kulturen mit ihrer Vergangenheit um? Ich habe mir durch Zeitungslektüre ein großes Archiv von Daten zugelegt. Zum Beispiel hat mich interessiert, wie in den verschiedenen Nationen nach 100 Jahren der Erste Weltkrieg kommemoriert wurde. Eigentlich habe ich das Buch zunächst für mich selbst geschrieben, weil mir etwas fehlte: eine Sprache für Europa. Ich wollte verstehen, warum mir das so viel bedeutet, dass ich Europäerin bin. Das war ein neues Gefühl. Denn solange Europa gut funktioniert hat, konnte man das mitnehmen. Aber in dem Moment, wo Europa durch Renationalisierung so viel Gegenwind bekam und gleichzeitig eine sehr arrogante Form der „Euro-Skepsis“ herrschte – als hätte man damit sowieso nichts zu tun –, da hat sich bei mir der Widerstand geregt. Ich wollte mir das erst selbst erklären und meine eigene Sprache dafür finden.

Aleida Assmann © Philippe Reuter / forum

Ich glaube, die meisten Leute hatten keine Kenntnis davon, dass sich 1990 etwas in der Grund­struktur der EU geändert hat – von einer Wirtschafts­gemeinschaft hin zu einer Werte­gemeinschaft. Mir war wichtig, das herauszuarbeiten. Ich habe so viel dazugelernt. Zum Beispiel taucht René Cassin bei mir auf, weil ich einen sehr guten Freund und Kollegen habe, der eine Cassin-Biografie geschrieben hat: der amerikanische Historiker Jay Winter. In der Zeit ist auch das Buch Empört euch! von Stéphane Hessel erschienen. Er war ein enger Mitarbeiter von Cassin. Hessel hat Millionen Exemplare seines Buches verkauft und jungen Leuten direkt ins Gewissen gesprochen. Durch Hessel konnte ich noch den Kontakt zu den Ursprüngen dieser Geschichte finden. Ich fand das faszinierend. Das hat für mein Europabild entsprechend viel bedeutet. 

Inwiefern unterscheidet sich der europäische Traum vom amerikanischen Traum? Der amerikanische Traum ist eher individuell – vom Tellerwäscher zum Millionär –, der europäische hingegen etwas Kollektives?

Ich glaube, der amerikanische Traum ist auch etwas Kollektives und der europäische Traum auch etwas Individuelles. Der amerikanische Traum ist ein Versprechen in einer Einwanderungsgesellschaft: Man kommt an, lässt seine Vergangenheit hinter sich. Man legt die Herkunft gewissermaßen an der Garderobe ab. So betritt man dieses Land wie ein Neugeborener und kann eine neue Identität gewinnen. Das ist ein großartiges Angebot, das muss man anerkennen. Das Problem ist nur, dass einem mit dieser Befreiung von Herkunft manchmal auch zu viel weggenommen wird. Hinzu kommt: Diejenigen, die nicht eingewandert sind, wie die deportierten afrikanischen Sklaven, möchten auch Teil der amerikanischen Geschichte sein. Der Anspruch der schwarzen Bevölkerung ist immer der: „Erkennt unsere Geschichte an, wir haben eine andere Herkunft, für uns passt dieses Erfolgsschema nicht. Wir sind nicht nur auf Wettbewerb und individuellen Erfolg ausgerichtet, sondern haben einen viel stärkeren Gemeinschaftssinn. Wir haben auch einen viel stärkeren Sinn dafür, wo wir herkommen. Wir haben immer noch eine Verpflichtung unseren Ahnen gegenüber. Wir leben spirituell in einer anderen Welt.“ 

Diese Geschichte muss in den USA auch verankert werden dürfen, das ist eigentlich der Anspruch. Es geht darum, dass die Sklavengeschichte eine gemeinsame amerikanische Geschichte ist und nicht nur ein Problem der Nachkommen der Sklaven. Die Gemeinschaft als Nation wird so lange versagt, wie es nicht möglich ist, die unterschiedlichen Perspektiven auf diese Geschichte in eine gemeinsame Erzählung aufzunehmen.

Ist das in Europa nicht auch der Fall? 

Der europäische Traum ist anders, weil er nicht nur auf Zukunftserwartungen, sondern auch auf historische Erfahrung gegründet ist. Das historische Gedächtnis steht am Anfang der EU: Die Europäer dürfen nicht vergessen, was passierte. Nazideutschland als ultimativer Aggressor, der den Krieg ausgelöst und ihn bis zum vollständigen Ruin geführt hat, mit einer nie gekannten Destruktivität. Die Versklavung so vieler Nationen. Der Holocaust, die Ermordung der europäischen Juden und anderer Minderheiten. Die EU wurde auf dem blutigen Schlachtfeld des Zweiten Weltkriegs geschaffen, nach zwei Kriegen. Stefan Zweig wünschte sich nach dem Ersten Weltkrieg bereits eine „moralische Entgiftung Europas“. Seine Hoffnung richtete sich auf die junge Generation. Das war sein europäischer Traum. 

Traum und Trauma?

Man kann die Ruinen der Vergangenheit nie wieder wegdenken. Das Trauma ist die Grundlage des europäischen Traums. In dem Fall muss man das genauso aufeinander beziehen. In Amerika gibt es dieses Trauma nicht. Das ist ein Neubeginn, ein Schlussstrich unter der Geschichte. In Europa und vor allem in Deutschland geht es aber nicht ohne Geschichte. Wir sind Erben einer Gewalterfahrung, die in die europäische Erinnerung eingeht, damit sie sich nie wiederholt. Man ist vom Schrecken tätowiert, wie Sloterdijk [Anm. d. Red.: der Philosoph Peter Sloterdijk] das ausgedrückt hat. Man hat eine Botschaft mitbekommen, die man nicht auslöschen kann. Also braucht man Präventivmaßnahmen: Man muss einen Verbund schließen, man muss die Solidarität zwischen den Menschen stärken. Wir müssen andere Menschenbilder schaffen und die Menschen anders bilden, damit sich all das nicht wiederholen kann. 

Dieses neue Menschenbild, ist das der europäische Gedanke? 

Das Problem ist, der europäische Gedanke wird oft sehr arrogant und exklusiv formuliert. Das konnten wir in Deutschland nach dem Jahr 2000 und dem neuen Einwanderungsgesetz erleben. Menschen, die in Deutschland geboren wurden, wurden damit automatisch zu Deutschen: ein wichtiger Schritt in Richtung Einwanderungsgesellschaft – wenn auch noch nicht zur Einbürgerungsgesellschaft. Die konservative Reaktion auf diese Öffnung hieß damals „Leitkultur“. Man baute Europa als eine Festung der Superlative auf – die Aufklärung, die griechische Demokratie, das römische Recht. Alles, was gut und teuer ist, wurde in die Leitkultur reingeschrieben und den Migranten als verbindliche Werte vorgeschrieben.

Was in dieser stolzen Ahnentafel nicht vorkam, war die Gewalt, die über die Jahrhunderte von Europa ausging: die Kolonialgeschichte, der Rassismus und der Antisemitismus, der auch schon vor der NS-Zeit grassierte. Hier sehen wir eine sehr selektive Form des Rückgriffs auf Vergangenheit, die nur zur Selbststeigerung oder zur Selbstmythisierung führt. Solange man dieses positive Selbstbild so exklusiv und selektiv verwaltet, kann man sich nicht in Beziehung setzen mit denen, die unter der europäischen Geschichte gelitten haben. Denn an die Dinge, die man in Europa vergisst, erinnern sich die Migranten aus den ehemaligen Kolonien sehr gut.

Die Notwendigkeit besteht darin, ihre Erinnerung ernst zu nehmen und anzuerkennen. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Erfahrung und Perspektive der Anderen ist eine wichtige Voraussetzung für die Anerkennung ihrer Identität. Erst auf dieser Grundlage kann man die Gewaltgeschichte neu vermessen und gemeinsam eine gerechtere Zukunft aufbauen. 

Sie haben in Ihrem Vortrag von Europa als einer Eidgenossenschaft gesprochen. Wie meinten Sie das? 

Dahinter steckt etwas sehr Persönliches. Ich wohne in Konstanz, die Stadt hat eine gemeinsame Grenze mit der Schweiz. Die Schweizer sind also Nachbarn, aber nicht in der EU – obwohl sie auch ein Modell für die EU sind. Es ist paradox: Die Schweiz ist, wenn man so will, ihre eigene EU. Sie hat ein Narrativ, eine Identität, verschiedene Sprachen und Kulturen. Ich erinnere mich an eine Wanderung mit meinem Vater im Tessin, als ich zwölf Jahre alt war. Er hat mir von Schillers Wilhelm Tell erzählt und den Rütlischwur zitiert: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, / in keiner Not uns trennen und Gefahr. / Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, / eher den Tod, als in der Knechtschaft leben. / Wir wollen trauen auf den höchsten Gott / und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.“ 

Das hat mich tief beeindruckt, dieser Freiheits­gedanke und die Einigung auf dem Rütli-Berg. So eine Eidgenossenschaft kann man unter anderen Umständen wiederholen. Das gilt auch für die EU: Wir leisten einen Eid auf die Werte, die wir gemeinsam festhalten und durchsetzen wollen. Wahrscheinlich habe ich die Idee damals auf der Wanderung im Tessin unbewusst als Keimzelle Europas in mir aufgenommen. Lange, bevor mich die EU interessiert hat.

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