Gaza 2025 – ein Rückblick auf die Zukunft

Im September 2005 verließ der letzte israelische Militärkonvoi den Gazastreifen. Nach diesem vollständigen Abzug erlangte erstmals ein Teil der palästinensischen Bevölkerung die uneingeschränkte Souveränität über ein geschlossenes Territorium. In einer Welt des Konjunktives hätten die Bewohner und Bewohnerinnen Gazas, geführt von ihrer gewählten Autonomiebehörde, der Welt und Israel demonstrieren können, dass eine friedliche Koexistenz mit dem israelischen Nachbarn möglich und eine Zwei-Staatenlösungi tatsächlich die „Erlösung“ aus dem Teufelskreis des Nahostkonfliktes bringen könnte. Zwanzig Jahre waren dafür Zeit gewesen. In diesen Jahren wuchs dies- und jenseits der Grenzen eine neue Generation heran, die ein gleiches Recht auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit miteinander teilt. Es kam anders. Dazu ein Rückblick.

Gaza zwischen Kriegen und ohne Frieden

Das Küstengebiet von Gaza stand seit dem Sechstagekrieg von 1967 unter der Kontrolle Israels. Nach 38 Jahren Besatzung setzte Ministerpräsident Scharon, auch bedrängt von der zweiten Intifada, im Gazastreifen die Zwangsevakuierung aller israelischen Siedlungen mit rund 8 000 Bewohnern noch vor dem militärischen Abzugsjahr 2005 durch. Dieser stufenweise zivil-militärische Rückzug bildete nur eine Etappe des von Israel einseitig eingeleiteten Abkopplungsplanes (Scharon-Plan), der auch die Aufgabe weiterer, tief in von Palästinensern reklamierten Gebieten gelegenen jüdischen Siedlungen im Westjordanland umfasste. Ausgerechnet Ariel Scharon (1928-2014): ein letzter Veteran aller Kriege und Konflikte seit der britischen Mandatszeit über Palästina (1922-1947); ein politischer Hardliner, militärischer Falke und Auslöser der Zweiten Intifada (2000-2005), unter dessen Leitung als damaliger Chef des Armee-Südkommandos der Gazastreifen erst an Israel angeschlossen wurde, kapitulierte vor der Realität und änderte die Strategie. Ausschlaggebend für ihn waren die Verluste an jüdischem Leben und die Sicherheitskosten für seinen Staat – zuletzt auch die Motivation, ein unmissverständliches Zeichen für eine arabisch-jüdische Koexistenz außerhalb und mit Israel zu setzen.ii Trotz des Auseinanderbrechens seiner Regierungskoalition besaß Scharon noch die Autorität und das Charisma eines „Staatsgründers in zweiter Reihe“, den Rückzug auch innenpolitisch durchzusetzen, unter anderem gegen seinen jüngeren Konkurrenten im Likud, Benjamin Netanjahu. Scharons Strategie wurde auch weiterverfolgt, als dieser Anfang 2006 in ein Wachkoma fiel. Ehud Olmert als Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten bis 2008 unterbreitete in Zuge dessen den sogenannten Konvergenzplan, der das Ende der zionistischen Idee von der Wiedererrichtung eines „Großisraels“ in den wah(r/n)haft biblischen Ausmaßen eines vorgeblichen Reiches König Davids vor 1 000 Jahren bedeutete. Im Grunde beinhaltete dieser erweiterte Friedensplan den Rückzug aller israelischen Siedlungsaktivitäten hinter die ungefähren Grenzen vor dem Sechstagekrieg. Das hätte auch das Ende der systematischen Einschränkung der Souveränität aller Autonomiegebiete der Palästinenser durch Israel nach sich gezogen. Vom Plan ausgenommen blieb der Siedlungsring um Jerusalem als ungeteilte Hauptstadt Israels und einige Siedlungskorridore im Westjordanland. Diese vom UN-Teilungsplan von 1947 deutlich abweichenden Gebietsverschiebungen wären von Seiten Israels mit territorialen Kompensationen ausgeglichen worden (siehe Planbeilage). Gewiss: Mit Mauerbau und Sperranlagen schufen die Israelis vollendete Tatsachen, gleichzeitig aber auch die Grundlage für einen angemessenen Kompromiss. Denn: Nach drei von den arabischen Nachbarn geplanten Angriffskriegen (1948, 1967, 1973), welche alle die Vernichtung des israelischen Staates und Vertreibung seiner Bewohner zum unverhohlen erklärten Ziel hatten, bot die Scharon/Olmert-Initiative einen Mittelweg zwischen Maximalforderungen. Nicht nur „die Zionisten“, auch die arabischen Anrainer Israels fühlten sich in ihrem „Scramble for Palestine“ keineswegs an den UN-Plan für Palästina gebunden.iii Diese Nachbarstaaten Israels beriefen sich immer nur dann auf den Teilungsplan – auch im Namen der Palästinenser – wenn sie eine militärische Niederlage hatten einstecken müssen. Nachdem Israel militärisch nicht zu besiegen war, gingen seine Gegner zu einer hybriden Kriegsführung über: Als informaler Stellvertreterkrieg sollten staatlich geförderter Terrorismus und lokale Terrorgruppen dem zionistischen Feind nicht nur direkt Schaden zufügen. Es wurde auch und insbesondere versucht, Israels Gesellschaft, aber auch die der palästinensischen Nation, zu destabilisieren und letztere für ihre Zwecke einzuspannen. Das Hin und Her von Gegenschlag und Vergeltung endet fast zwangsläufig mit fatalen Konsequenzen für die palästinensische Gesamtbevölkerung. Die Zahlen sind hier eindeutig und ihr Missverhältnis erschütternd.iv

Im neuen Millennium gingen nun die Israelis mit ihrer Friedensinitiative voran und in ihren Zugeständnissen so weit wie nie zuvor. Die palästinensische Seite lehnte diese Schlichtung und historische Chance aber rundweg ab. Beide Parteien scherten von der 2003 vorgeschlagenen, so genannten Roadmap aus, die schließlich 2014 in eine Sackgasse führte, als Israel die Friedensgespräche mit der Palästinenservertretung nach dem fortgesetzten Raketenbeschuss aus Gaza beendete. Warum war der Plan gescheitert? Ein dritter „kollektiver Spieler“ hatte sich zwischenzeitlich etabliert, die Hamas in Gaza. Deren Ziel war klar: ein einziger Staat, ein freies Palästina „from the river to the sea“v, d. h. die Zerschlagung des israelischen Staates, die ethnische Säuberung in Form eines Bevölkerungsaustausches, begründet durch das sogenannte „Recht auf Rückkehr“ von Millionen Palästinenser und Palästinenserinnen.

Gaza: die Entstehung eines palästinensischen Defacto-Staates

Was war nun dieser Küstenstreifen Gaza zurzeit des Massakers 2023 an israelischen Zivilisten und Zivilistinnen vom 7. Oktober? Den 1988 von der PLO ausgerufenen Staat Palästina erkennen heute 146 von 193 UNO-Mitgliedsstaaten an. Völkerrechtlich-formal bildet der Gazastreifen ein Teilgebiet dieses Staates. Der Bruderkrieg/Machtkampf zwischen Hamas und der Fatah/PLO hatte dieses Territorium nach den Parlamentswahlen von 2006 in einen De-Facto-Staat transformiert, d. h. de facto existent als subnationale Einheit, über dessen Territorium die Zentralregierung in Ramallah im Westjordanland aber keine Kontrolle mehr ausübte.vi De jure wurde der Gazastreifen deshalb aber nicht unabhängig, denn dessen „Exil“-Regierung forderte für Gaza ja keine Selbstständigkeit oder Sezession. Im Gegenteil, die Hamas beanspruchte von Gaza aus für sich weiterhin das Recht auf die Regierungsmacht mit Sitz in Ramallah und über den ganzen Palästinenserstaat. Dieser Anspruch war auch legitim und in einem freien Votum gewonnen, wie unabhängige Wahlbeobachtung bestätigt hat. In diesen Autonomierats- und Gemeinderats-Wahlen im Zeitraum 2004-2006 hatte die Hamas einen Erdrutschsieg erzielt; allein in Gaza gewann sie sieben von zehn Wahlbezirken. Die Fatah erlebte an den Wahlurnen ein Debakel und verweigerte den friedlichen Machtwechsel durch allerlei Verzögerungstaktiken. Der Konflikt zwischen den wahlwerbenden Parteien eskalierte zu einem „Partisanenkrieg“, damit ist gemeint, dass sich hauptsächlich die gegnerischen Parteigänger und ihre Milizen blutig bekriegten, ohne dass es zu einem „vollen“ Bürgerkrieg gekommen wäre. Unter der palästinensischen Zivilbevölkerung führte das in hundertfacher Weise zu „Kollateralschäden“ an Menschenleben. Eine Situation war entstanden, die an den Libanon mit seinen Interessenszonen und seiner sich perpetuierenden Bürgerkriegsökonomie mit Warlords und Freischärlern erinnert. Wahlen für eine dritte Legislaturperiode zum Palästinensischen Legislativrat wurden zwar wiederholt angekündigt, blieben aber bis heute auf unbestimmte Zeit verschoben. Es ist davon auszugehen, dass sie auch keine grundsätzliche Änderung an der Situation gebracht hätten, denn dafür war die Hamas zu populär. Die Hamas hätte sich auch nicht mehr aus den Sattel heben lassen. Der Pakt mit dem Teufel blieb – gewollt oder ungewollt – bestehen.

Schon vor ihrem Wahlsieg hatte die Hamas keine Zweifel offengelassen, was sie repräsentiert: eine radikal-islamistische und antisemitische Gruppierung, die als oberstes Ziel und raison d’être der Organisation die Vernichtung Israels/Befreiung Palästinas auf ihre Banner geschrieben hatte. Nicht allein das Versprechen, gegen die Korruption der Fatah vorzugehen und die miserable wirtschaftliche Lage zu verbessern, hatte die hearts and minds einer deutlichen Mehrheit der Palästinenser und Palästinenserinnen für die Sache der Hamas gewinnen können. Gerade das Ziel eines arabischen „Großpalästinas“ zur einfachen Parole und Lösung aller Probleme zu erheben, brachte die notwendigen Stimmen. Aber nur in Gaza gelang der Hamas die Machtergreifung; in Ramallah wurde sie von der Fatah weiterhin blockiert. Gaza agierte daraufhin autonom und ihre Regierung ging immer wieder zu „Offensiven“ über: 2008-2009 wurde Israel vom Gazastreifen aus mit Raketen und Mörser beschossen; Grenzanlagen von der Hamas gesprengt, Terroranschläge in Israel verübt – beschränkte Militärintervention und verschärfte Blockademaßnahmen waren die Reaktion aus Jerusalem. 2010-2013 wiederholte sich die Situation. Doch auch im (ersten) Gazakrieg von 2014 stand die palästinensische Bevölkerung im Küstenstreifen weiterhin fest hinter ihrer zwischenzeitlich zum Regime mutierten Regierung und für die Fortsetzung des blind auf israelische Siedlungen abgegebenen Bombardements.vii

Gaza – de facto ein palästinensischer Nationalstaat

Spätestens ab 2005 vereinte Gaza als De-Facto-Staat alle Kennzeichen der Drei-Elemente-Lehre eines Staatswesens: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt. 1) Das Staatsterritorium Gazas von etwa 365 Quadratkilometern ist fest umrissen. Wenn es immer wieder als „das größte Gefängnis der Welt“ beschrieben wird, liegt es nicht nur daran, dass Israel und Ägypten das Land zunehmend abgeriegelt haben, sondern die Hamas sich mit ihrem rigorosen Grenzregime als fähige Gefängniswärter bewiesen hat, um – wie beim Eisernen Vorhang – die Menschen drinnen und schädlichen Einfluss von außen draußen zu behalten. Zudem hielt sie dadurch das lukrative Monopol über die Schmugglertätigkeit mittels der grenzunterminierenden Tunnelsysteme aufrecht. Schutz- (für die Hamas-Elite) und Angriffsanlagen wurden ebenfalls gebaut. Später wurden hier Waffendepots, Folterverliese und Gefangenenzellen für israelische Geiseln eingerichtet.

2) Für die Zugehörigkeit zum palästinensischen Staatsvolk gilt das Abstammungsprinzip. An dieses ius sanguinis ist – fast immer in männlicher Blutlinie – auch der Flüchtlingsstatus gekoppelt, der zwischenzeitlich in dritter und vierter Generation weitervererbt wird. Der „indigene Uranspruch“ leitet sich von einem exklusiven und ewigen arabischen Anrecht auf den Boden ganz Palästinas (ius soli) ab. Eine arabische Version von Blut-und-Boden-Ideologie bestimmt demnach, wer ein Recht auf Rückkehr hat – nicht nur nach Gaza und andere heute als palästinensisch anerkannte Gebiete, sondern für die historische Region Palästina insgesamt – inklusive dem israelischen Staatsgebiet. In seiner Identitätspolitik führt sich dieses Staatsvolk neuer Tradition auf rund 700 000 Araber und Araberinnen zurück, die im Palästinakrieg 1947-49 aktiv vertrieben wurden oder ihre Heimat freiwillig bzw. unter nötigenden Umständen verlassen haben.viii Die Mehrzahl ihrer rund sechs Millionen Nachkommen lebt heute in den Nachbarstaaten Israels, die dort teilweise schon in erster, dann in zweiter und dritter Generation für sich eine neue Existenz aufgebaut haben – und trotzdem weiter als „Flüchtlinge“ vom UN-Hilfswerk UNRWA geführt werden. Die Geburtenrate im Gazastreifen gehört zudem seit Jahren zu den höchsten der Welt, die einen „Youth Bulge“ (einen weit überproportionalen Jugendüberschuss) zur Folge hat. Eine Jugend mit besonders vielen jungen zornigen Männern, die in eine perspektivlose Zukunft hineinlebt. Die Bereitschaft speziell unter dieser Gruppe ist groß, ihre Zukunft auch mit Gewaltmitteln zu ihren (scheinbaren) Gunsten zu wenden. Gleichzeitig ist jeder registrierte Palästinenser und jede registrierte Palästinenserin eine Ressource: Mit rund 30 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen exklusive für und fast ausschließlich von Palästinensern gestellt, ist die UNRWA ein entscheidender Wirtschaftsfaktor in der Region.ix Internationale Flüchtlingshilfe (für humanitäre Hilfe) bildet neben den Subventionen islamischer Staaten (für Terror, Krieg, Regimepflege und Gewaltherrschaft) das wichtigste Herkunftsmittel dieser komplementären palästinensischen Bürgerkriegsökonomie.x Als Phänomen der Perpetuierung von Kriegen ist diese Mischung nicht nur aus dem Nahen Osten bekannt.xi

3) Staatsgewalt schließlich ist die Fähigkeit, Herrschaft nach innen wie nach außen auszuüben. In Gaza begründete die (ungeschriebene) islamistische Verfassung diese Macht, die sich auf eine höhere, in Koran und Scharia gründende Autorität, par la grâce de Dieu, beruft. Mit der Machtergreifung durch die Hamas wurde diese trotz Widerstände in Gaza auch weitestgehend umgesetzt; und als Machtprojektion Israel von Gaza aus kontinuierlich und seine Bewohner unterschiedslos attackiert. Letzteres stand als eine nach außen gerichtete Machtdemonstration zuerst im Zeichen eines niederschwelligen Konfliktes mit Ruhephasen und Eskalationen unterhalb der Grenze zu einer konventionellen Kriegsführung. Das änderte sich mit einem Schlag im Oktober letzten Jahres.

Staatsterror, Kriegsverbrechen und Hamas

In vollkommener Verzerrung der Tatsachen wird nun (nicht nur in der Luxemburger Presse) der Angriff aus Gaza auf israelisches Territorium am 7. Oktober 2023 als Terrorangriff bezeichnet. Zur Erinnerung: Insgesamt 2 500 Kombattanten, also uniformierte Kämpfer mit offener Waffenführung, haben als regulierte Paramilitärs (wie die Qassim-Brigade der Hamas) nach langer Planung und generalstabsmäßiger Durchführung die Grenzen mit nur einem Ziel überschritten, nämlich so viele israelische Zivilisten wie möglich zu töten oder als Geisel zu nehmen. Das war Staatsterrorismus und vorsätzlich begangene Kriegsverbrechen der De-Facto-Streitkräfte Gazas, aber kein terroristischer Anschlag aus dem Untergrund, durchgeführt von einer kleinen Gruppe als militant-letale Verschwörungsaktion. Sowohl das Kriegsvölkerrecht als auch die Definitionen aus der Terrorismusforschung sind hier eindeutig.xii Die Hamas sind auch keine Warlords, die nur den Sicherheitssektor eines Landesteils kontrollieren, welcher der Staatsmacht entglitten ist, denn sie sind die gewählte Regierungsmacht. Terroristen bilden keine Regierung, sie bekämpfen diese. Überdies betonte die Hamas-Regierung in Gaza stets, dass ihr bewaffneter Teil Freiheitskämpfer (Guerillas) und rechtlich gesehen Soldaten seien und entsprechend den internationalen Kombattantenschutz genießen sollten. Hier wird am Beispiel der Hamas auf besondere Weise mit dem Kippbild gespielt, dass diese für die einen Freiheitskämpfer und für den anderen Terroristen sind. Nun zu behaupten, dass die Hamas Israel terroristisch attackiert hat, nimmt sich dann aus, als ob 1939 die NSDAP Polen überfiel, um den Zweiten Weltkrieg zu beginnen, und „die“ Deutschen mit „der“ NSDAP nichts zu tun und zu schaffen gehabt hätten.

Das Kalkül der Hamas-Regierung zeigt allerdings eine, aber entscheidende Überschneidung zwischen Terrorismus und ihren Kriegsverbrechen in Israel: In einem asymmetrischen Kräfteverhältnis soll die stärkere, hier die israelische Seite, zu einer Überreaktion verleitet werden, um beim „interessierten Dritten“ Sympathien für die zu erwartende größere Opferseite, hier die palästinensische, zu gewinnen. Das Narrativ zugunsten der palästinensischen Sache und gegen Israel zu kippen, war die primäre Absicht und eigentliches Kriegsziel. Was auch prompt eingetreten ist, weltweit, als Israel seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Hamas begann. Dass dabei der Schutz der Zivilbevölkerung von der Netanjahu-Regierung als nachrangig betrachtet wird, um ihrerseits das israelische Kriegsziel zu erreichen, wurde von der palästinensischen Führung erwartet und sogar unterstützt. Im Gegenteil: Je mehr Tote im Kampf gegen die Zionisten „fallen“, und dann als Märtyrer und „Blutzeugen“ (so die wortwörtliche Übersetzung von šahīd) gelten, desto besser. Was mit der palästinensischen Bevölkerung Gazas geschieht, war für ihre eigene Regierung, wieder einmal, nebensächlich. Das ist die eigentliche Tragik der Geschichte der Palästinenser. Das Ende von Jahia Sinwar, des Führers des Regierungsregimes in Gaza und Mastermind der Hamas inmitten der Ruinen Rafahs, darf hier als Sinnbild eines erweiterten Selbstmordesxiii als höchste Märtyrertat islamischer/islamistischer Auslegung gelten.

Palästinenser kehren nach der zwischen Hamas und Israel vereinbarten Waffenruhe in die Ruinen von Rafah zurück, 20. Januar 2025. (ashraf amra / ANADOLU / Anadolu via AFP)

Rückblick auf eine vergangene Zukunft mit Hanna Arendt

„Kaum ein Konflikt in der Weltgeschichte hat bei Außenstehenden derart viele Programme und Rezepte hervorgerufen, die jedoch allesamt den Beteiligten bislang nicht akzeptabel erscheinen. Jeder Vorschlag wurde, kaum war er bekannt geworden, von den Arabern als projüdisch und von den Juden als proarabisch denunziert“, das stellte Hannah Arendt bereits 1948 fest und in ihrer Analyse liest man weiter: „Diese völlig unwirkliche Situation ist nichts Neues. Mehr als fünfundzwanzig Jahre lang haben Juden und Araber absolut unvereinbare Forderungen erhoben“.xiv

Wie kann nun eine Zukunft des Konfliktes nach zwischenzeitlich mehr als hundert Jahren „unvereinbarer Forderungen“ aussehen? Oder soll jetzt gar eine weitere Generation von Palästinensern und Palästinenserinnen ohne Hoffnung heranwachsen? Die propagierte Zwei-Staaten-Lösung ist auf unabsehbare Zeit desavouiert worden. Damit hat die Hamas-Regierung Gazas ein weiteres Ziel erreicht. Als zynische Fußnote spielt die unversöhnliche Radikalisierung natürlich auch der derzeitigen Regierung in Jerusalem und ihren Plänen in die Hände. In den letzten Jahren war dieser Vorschlag ohnedies zu einer diplomatischen Scheinlösung rein rhetorischer Wirksamkeit abgeglitten, um wenigstens irgendeinen Lösungsweg der Weltöffentlichkeit präsentieren zu können. Denn: Für einen Palästinenserstaat fehlt bis heute jede materielle Grundlagexv, die über den bisherigen Pseudostaat hinausführen würde. Es existieren lediglich formale Erkennungsfaktoren – eine Flagge, eine Hymne, ein Gebiet (das lediglich durch Außengrenzen anderer zum „Staatsterritorium“ wird), ein selbsternanntes Regime und ein Regierungssitz – und über 100 diplomatisch-konsularische Vertretungen für die PLO/Fatah-Eliten und Sympathisanten. Der Palästinenserstaat war schon „gescheitert“ als er gegründet wurde. Unter den gegebenen Umständen wird er ein gescheiterter Staat (failed state) bleiben. Auch ein wohlgepflegter Gründungsmythos, der Selbstbestimmungsrechte fordert, in unserem Fall die Nakba und die PLO-Nationalcharta, machen noch lange keinen Staat.xvi Das Souveränitätsprofil des real-existierenden Palästinenserstaates muss deshalb als Chimäre, und, wie bereits aus einem anderen Forschungszusammenhang gegriffen, als quasi-state bezeichnet werden. Damit hat natürlich auch der von den Israelis ausgeübte Würgegriff auf das Westjordanland, eine Art „Halbbesetzung“, zu tun, der eine staatliche Ausbildung im Sinne von einer geschlossenen Verwaltung und Rechtsordnung positiver Staatsgewalt bisher unterlaufen hat. Das ist aber mehr die Konsequenz von zu keinem Zeitpunkt eingelösten Sicherheitsgarantien der Palästinenserseite – der Teufelskreis rotiert also weiter …

Der Staat Israel dagegen ist eine Realität und Heim für beinahe zehn Millionen Einwohner und Einwohnerinnen, davon 74 Prozent jüdische Israelis. Israel ist seit 1948, und gemessen am Bruttosozialprodukt/Kopf, zur stärksten Wirtschafts- und Wissenschaftsmacht im Nahen Osten aufgestiegen. Medinat Jisra’el – der Staat Israel unterhält dort auch die stärkste Militärmacht. Als einzige parlamentarische Demokratie (mit einigen Defiziten) dieser Region war und ist Israel auch Garant für friedvolle Regierungswechsel, und das in alle politische Richtungen. Israel ist ein Staat, der auch seine Streitmacht unter Kontrolle zu halten – oder von der Leine zu lassen – vermag. Ein Palästinenserstaat kann diese letzte, zugleich wichtigste Voraussetzung für ein Friedensabkommen nicht garantieren, nämlich Frieden längere Zeit einzuhalten.

Arendt und der Lösungsvorschlag des Institute for Mediterranean Affairs

1957-58 beteiligte sich die Philosophin an einer von der New York State University ins Leben gerufenen Kommission, um eine praktikable Lösung für den Nahostkonflikt zu finden.xvii Ziehen wir hier nun Hannah Arendt zu Rate, was Eckpunkte einer verhinderten Lösung vor 70 Jahren gewesen wären. Die Frage einer Ein-, Zwei- oder Drittstaatenlösung spielte hier nur eine untergeordnete Rolle. Diese galt als bloße Option und „Krönung“ nach der Lösung des Hauptproblems: der Flüchtlingsfrage. Das uneingeschränkte Rückkehrrecht der Palästinenser wurde von den Kommissionsmitgliedern schon damals als höchst problematisch eingestuft und dazu einige Vergleiche mit zeitnahen Krisen wie dem millionenfachen Bevölkerungsaustausch zwischen Indien und Pakistan oder der ethnischen Säuberung von „Deutschen“ im Ostblock hergestellt. Auch Wiederaufbaumaßnahmen, wie in Südkorea, kamen zur Sprache. Das Flüchtlingsproblem in der Levante sollte, so der alles andere unterordnende Leitgedanke, mittels Kompensation die Palästinenserfrage lösen: Wenn schon nicht als allgemeines Rückkehrrecht, dann auf Basis einer fairen materiellen Grundlage, um die Existenz der Palästinenser zu sichern. Zur Umsetzung wurde ein zweiter wichtiger Vorschlag unter den 23 Punkten hierfür als erster gelistet: die Einrichtung einer UN-Sonderkommission. Diese zwei zentralen Lösungsvorschläge ließen sich mit leichter Adaptation bis heute wie folgt umsetzen: Eine mit robustem Mandat ausgestattete UN-Mission, inklusive Exekutivmonopol, löst die UNRWA ab und übernimmt die Zwangsverwaltung des gesamten Palästinensergebietes; führt mit UN-Truppen die Entwaffnung und Pazifizierung durch und verhindert, so weit wie möglich, Übergriffe auf Israel. Israel hält im Gegenzug während dieser Transformations- und Bewährungsprobe still. Dass einzelne Terrorattacken in Israel nicht gleich zu einer Militärintervention führen mussten, wurde schon hinlänglich bewiesen. Gleichzeitig wird diese internationale Mission entsprechend dotiert und dafür gesorgt, dass die Hilfe tatsächlich dort ankommt, wo sie gebraucht wird. In diesen Wiederaufbaufonds zahlt auch Israel seinen historischen Entschädigungsbeitrag ein – die Zahlen dazu lagen schon zu Arendts Zeiten vor. Dieser Fonds wird aber allgemein verteilt, denn hier nur die individuell „erbberechtigten Nachfahren“ zu ermitteln ist genauso absurd wie alle Palästinenser und Palästinenserinnen und ihre aus Beton, Ziegel und Glas erbauten Städte als Flüchtlinge und „Flüchtlingslager“ zu bezeichnen. Wie sich diese Mission zusammensetzt, dass sie von beiden Seiten akzeptiert wird, ist sicherlich eine delikate, aber lösbare Frage, die sich etwa bei der Aufstellung und dem Kommando der Friedenstruppe stellt (wo sich besonders Einheiten aus muslimischen Staaten, die wie Indonesien keine Anrainer sind, eignen würden). Damit wäre man einer dauerhaften Befriedung einen Schritt nähergekommen. Weitere Investitionen könnten dann endlich nachhaltig wirken, und nicht immer wieder als Infrastruktur, zumeist von israelischer Seite, bzw. keimendes Vertrauen, zumeist von arabischer Seite, zerstört werden. Diese Transformationsphase muss mindestens für eine Generation anberaumt werden, also rund 30 Jahre – für die Palästinenser und Palästinenserinnen aber ein lohnendes Ende in Sicht bleiben.

In einer Welt des Konjunktives wäre dann in Folge die „Option Drei“, d. h. die Drittstaatenlösung als völkerrechtliche Rückgabe der Palästinensergebiete an Jordanien und Ägypten als UN-Mission, begleitet von einem „Marshallplan für Palästina“, die probabelste Idee. Diese zwei Nachbarn Israels könnten schon aus Eigeninteresse gegen innere Widerstände und im Interesse aller, und gerade auch für „ihre“ Palästinenser, die friedlichen Beziehungen zum Staat Israel aufrechterhalten; die sozial-ökonomische Misere aller Palästinenser und Palästinenserinnen lindern, beenden, sie eine Zukunft beginnen lassen. Das ist natürlich eine top-down und autoritäre Lösung, entspricht aber dem gesellschaftspolitischen Normalfall der arabischen Welt besser als irgendein oktroyiertes demokratisches Experiment zur Schaffung eines Pseudostaates. Ein bekannter Beispielfall ist hier die Beendung des Bürgerkriegs in Kambodscha als ein „Besser ein Ende mit Schrecken als gar kein Ende“. Für die Entwicklung einer funktionierenden Demokratie und eines liberalen Rechtsstaats braucht es eine Bewegung von unten – dafür können und müssen sich die Palästinenser und Palästinenserinnen autonom selbst einsetzen. Aber … wir leben in einer anderen Realität und nicht in der wahrscheinlich besten aller Möglichkeitsformen. Es gibt ja leider weiterhin zu viele interessierte Dritte, die zur Pflege ihrer Ressentiments und politischen Interessen den Konflikt als Stellvertreterkrieg im Grunde weiterlaufen sehen wollen.

Allgemeine Literaturempfehlungen, die durch ihre ausgewogene Analyse hervorzuheben sind: Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, München6, 2015; Joseph Croitoru, Die Hamas. Herrschaft über Gaza – Krieg gegen Israel, München, 2024.

i Seit der Rede Arafats vor der UN-Vollversammlung am 13. Dezember 1988 ist das die offizielle PLO/Fatah-Doktrin.

ii 20 % der Bevölkerung Israels (ca. 1,3 Mio.) sind arabische Israelis; Probleme ungleicher Behandlung werden auf friedliche Weise und in Rechtswegen eines demokratischen Rechtsstaates angegangen.

iii 1949 besetzte das Königreich Ägypten den Gazastreifen und das autonome Emirat Transjordanien (ab 1946 Königreich) annektierte das Westjordanland mit Ostjerusalem; ein eigenes palästinensisch-arabisches Gebiet existierte nicht. 1950 annektierte Transjordanien offiziell die Westbank (Westjordanland, Cisjordanien), gewährte dort nur den arabischen Einwohnern die Staatsbürgerschaft und benannte sich in Jordanien um. Andererseits versuchte Israel im Suez-Krieg 1956 (vergeblich) den Sinai zu okkupieren.

iv 6 680:314 ist laut UNOCHA das Verhältnis zwischen israelischen und palästinensischen Todesopfern in den Jahren 2008-2023; diese Zahlen vor dem Massaker vom 7.10.2023, https://www.ochaopt.org/data/casualties (letzter Aufruf: 5. Januar 2025).

v Die Herkunft und wechselvolle Geschichte dieses Slogans und seiner Variationen ist umstritten. Ein plausibler Erklärungsstrang verweist sogar auf die Umkehrung einer ursprünglich zionistischen Parole in eine pro-palästinensische, wobei die Radikalität der Forderung aber erhalten blieb. In diesem Sinne verwende ich es als anti-israelisches Schlagwort.

vi De-Facto-Staaten oder quasi-states sind in der Politikwissenschaft und in der völkerrechtlichen Diskussion gebräuchliche Ist-Zustände von Staatlichkeit, siehe: Robert H. Jackson, Quasi-states: Sovereignty, International Relations and the Third World, Cambridge, Cambridge University Press, 1990 und Tozun Bhcheli u. a. (Hg.), De Facto States. The Quest for Sovereignty, New York, Routledge, 2016.

vii Nach Croitroru (2024, S. 209) 72 % Pro-Stimmen.

viii Demgegenüber stehen rund 800 000 Mizrachim (Juden aus arabischen Ländern), die mit dem Zweiten Weltkrieg beginnend, bis in die 1980er-Jahre nach Israel flüchteten/auswanderten, siehe Georges Bensoussan, Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage, Berlin-Leipzig, Hentrich und Hentrich Verlag, 2019.

ix UNRWA für United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees, ein Provisorium, das seit 1949 immer wieder verlängert wurde. Für den „Rest der Welt“ ist das Weltflüchtlingshilfswerk der UNO (UNHCR) mit einem nur rund 20 000 Köpfe zählenden Mitarbeiterstab zuständig. Die Zahlenangaben schwanken, je nach Quelle.

x Zur Einführung: Michael Ehrke, „Zur politischen Ökonomie post-nationalstaatlicher Konflikte“, in: Journal für Internationale Politik 3 (2002), S. 135-163, hier S. 138: „Dieser Konflikt ist keine kurzfristige Unterbrechung eines Normalzustandes, der durch einen anderen Normalzustand ersetzt wird, er ist langdauernd und beeinflusst damit notwendig die Ökonomie, die alltäglichen Entscheidungen über den Einsatz knapper Ressourcen, während umgekehrt seine Ökonomisierung erst seine lange Dauer möglich macht.“

xi Katharina Inhetveen, Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers. Akteure – Macht – Organisation. Eine Ethnographie im Südlichen Afrika, Bielefeld, Transcript Verlag, 2010; François Jean/Jean-Christophe Rufin (Hg.), Ökonomie der Bürgerkriege, Hamburg, Hamburger Edition, 1999.

xii Thomas Kolnberger, „Terror, Terrorismus und der Staat. Eine historische Einordnung“, in: Thomas Kolnberger/Clemens Six (Hg.), Fundamentalismus und Terrorismus, Essen, Magnus, 2007, S. 17-42.

xiii Der „Suizid“ als vorbildhafte Rolle garantiert nach dem Tod Privilegien im kommemorativen Nachleben; der „Homizid“ das Masse-und-Macht-Gefühl der arrangierten Selbstvernichtung. Dafür hatte die Hamas zwar kein Mandat, es wurde aber von der palästinensischen Bevölkerung zugelassen.

xiv Hannah Arendt, „Frieden oder Waffenstillstand im Nahen Osten?“, in: Hannah Arendt, Israel, Palästina und der Antisemitismus, Aufsätze hrsg. v. Eike Geisel und Klaus Bittermann (aus dem Amerikanischen übersetzt), Berlin, Wagenbach, 1991, S. 39-76 (hier S. 45 u. 48). Arendt beginnt ihre Zeitrechnung mit dem arabischen Aufstand von 1921 und dem Pogrom von 1929 gegen jüdische Flüchtlinge und Einwanderer bzw. den von NS-Deutschland unterstützten Unruhen im Mandatsgebiet von 1936-39.

xv Dazu zählt v. a. die fehlende ökonomische Grundlage; systembestimmende Korruption; fehlendes Steuersystem, fortlaufende Militärinterventionen von außen und von innen, kein friedvoller Machtwechsel möglich usw. – also allgemeiner ausgedrückt: fatale staatliche Dysfunktionalität hinsichtlich der materiellen Grundaufgaben, also nicht der ideellen Forderungen und symbolischen Fiktion.

xvi Nakba bedeutet „Katastrophe“; als Gedenktag erinnert man seit 2004 alljährlich an die Flucht und Vertreibung von 1947-49.

xvii Zum Institut für Mediterranean Affairs (USA, 1940-1980), siehe: https://archives.yale.edu/repositories/12/resources/3483 vgl. Hanna Arendt, Über Palästina, hrsg. v. Thomas Meyer, München, Piper Verlag, 2024, darin „Das Palästinensischer Flüchtlingsproblem. Ein neuer Ansatz und ein Plan für eine Lösung“, verfasst vom Institute for Mediterranean Affairs (1958) in dt. Übersetzung.


Thomas Kolnberger ist Historiker am Institut für Geschichte der Universität Luxemburg. Militär- und Globalgeschichte, Staatsbildung und die Geschichte kleiner Staaten (small states) gehören zu seinen Interessensgebieten.

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