Terre Rouge. Topographie du poète

Einladung in die mystische Welt der roten Erde von Gaston Rollinger

Auf dem LuxFilmFest feierte Terre Rouge. Topographie du poète seine Premiere. Nun ist der Dokumentarfilm regulär in den Luxemburger Kinos angelaufen und lädt dazu ein, Geschichte, Landschaft und Transformation der Minettregion mittels des ganz persönlichen Blicks des Poeten Gast Rollinger (neu) zu entdecken.

Mit Terre Rouge setzt Regisseur Fränz Hausemer dem Escher Filmemacher und Deutschlehrer Gast Rollinger ein filmisches Denkmal – und ein absolut sehenswertes dazu. Dies sei vorweggenommen. Rollinger gehörte in den 1980er Jahren mit Marc Olinger und Menn Bodson und neben den Akteuren der AFO-Film mit zu den Pionieren des luxemburgischsprachigen Spielfilms. Zudem produzierte er teils einfühlsam-poetische Reportagen und Kurzfilme als Beiträge bei Hei elei Kuck elei (RTL, 1969-1991) – also in den Anfangsjahren der luxemburgischsprachigen TV-Produktion. Vor diesem Hintergrund fällt Hausemers Film dann leicht anders aus als man es zunächst hätte vermuten können.

(c) Jucam / Centre national de l‘audiovisuel

Terre Rouge widmet sich nicht Rollingers Mitarbeit an Klassikern des Luxemburger Kinos, wie Déi zwéi vum Bierg (1985) oder De falschen Hond (1989), sondern gezielt dem beim Publikum weniger bis gar nicht bekannten lyrischen Poeten und dessen Inspirationsquelle: das ehemalige Bergbau- und Industriegebiet Ellergronn und das Escher Arbeiterviertel Hiehl, an der französischen Grenze gelegen.  Das Luxemburger Autorenlexikon enthält noch keinen Eintrag über Rollinger als Dichter (Stand 29.03.25); er taucht eher als Fußnote bei anderen Autorinnen und Autoren auf, in seiner Rolle als Theaterkritiker, Filmemacher oder eben als Lehrer am Lycée de Garçons Esch. Fränz Hausemer aber hat sich bereits während der Pandemie intensiv mit Rollingers Texten auseinandergesetzt und 23 davon im Album Däischter Deeg (2024) vertont.

Der Dokumentarfilm wird nun ebenfalls durch Hausemers Gedichtvertonungen und durch Vorträge von Schauspieler Marco Lorenzini rhythmisiert. Die Texte werden durch Aufnahmen aus Rollingers Archiv (im Besitz des CNA) und durch kongeniale Bilder von Kameramann Nikos Welter ergänzt, der es versteht die verwunschene Atmosphäre dieser ehemaligen Industrielandschaft einzufangen, die sich die Natur wieder einverleibt.  

Und so taucht das Publikum ein in Rollingers poetische Welten oder eher in diesen Mikrokosmos bestehend aus Elternhaus, Hiehl, Ellergronn, Esch, das der zurückgezogene Poet bewohnt und sein Leben lang filmend und imaginierend durchstreift hat. Und das ihn nie losließ.

In Gesprächen mit Rollinger werden Schlüsselmomente seines Heranwachsens mit Texten und Archivaufnahmen verbunden. So wird eine Kindheit im Minett umrissen: das Herumstreunen in Natur- und Bergbaugebieten, die gefährlichen Mutproben der Heranwachsenden auf einer Zugbrücke und die jugendliche Abenteuerlust, die diesen Landstrich zwischen lärmenden Industrieanlagen, Schrebergärten und dunklem Wald in einen wild-romantischen Märchenpark verwandelten. Und früh schon prägen, ja man kann sagen, traumatisieren ihn die Warnungen der Erwachsenen vor “de Mann mam Messer”, der anscheinend Kindern im Wald auflauert. Ein Trick der Eltern, damit sich die Kinder nicht allzu weit von der Siedlung entfernen. Die Tatsache, dass dann tatsächlich eines nachmittags ein kleines Mädchen aus Frankreich genau dort im Wald ermordet wurde, wo Rollinger und seine Freunde spielten, löste einen Schock aus, an den sich wohl eine ganze Generation Escher Kinder erinnert. Rollinger schreibt später ein atmosphärisch düsteres Gedicht darüber und graut sich im Film selbst im hohen Alter noch vor den Geschehnissen. Ein Abgrund tat sich für den Jungen auf, dieser “fait divers” bildet ein einschneidendes Erlebnis und bedeutet auf gewisse Weise das Ende der kindlichen Unschuld und -über die Begegnung mit Verbrechen, Tod und Grauen- den Übergang zum Erwachsenenleben.

(c) Jucam / Centre national de l‘audiovisuel

Überhaupt sind Übergänge und eine damit verbundene Melancholie allgegenwärtig. Der Film beginnt mit der Fahrt eines Leichenwagens durch ein Feld mit der typischen roten Färbung des Minetts. Terre Rouge ist, das wird ab diesen ersten Bildern klar, ein Film über den Abschied. Abschied vom Filmemacher, Poeten und Lehrer Gast Rollinger, den am Ende eine Freundschaft mit Regisseur Fränz Hausemer verband und der Ende 2024 verstarb. Abschied vom Bild und Charakter eines Stadtviertels, das durch mehr als hundert Jahre Stahlindustrie und Immigration geprägt war – und dann zunehmend von Brachen und Ruinen. Abschied von einer Region mit ihrer Arbeiterschaft und dampfenden Schloten, die es so, wie Rollinger sie in seinen Videos festgehalten hat, lange nicht mehr gibt. Abschied von einer ganzen Generation vielleicht, die den Süden Luxemburgs noch so gekannt hat.

Parallel zur audiovisuellen Immersion in Rollingers Werk inszeniert Hausemer den Abschied des Poeten von dieser Welt. Das Elternhaus, in dem die Zeit schon vor 20 oder 30 Jahren stehengeblieben zu sein scheint. Versteinertes Leben. Aufgehoben in der Landschaft seiner Kindheit und Jugend, ja verhaftet in ihr, und eingegrenzt auf diesen kleinsten Kreis durch das körperliche Gebrechen des Alters, bleibt Rollinger nur die Vorstellungskraft und Literatur als letzter Abenteuerspielplatz. Die Welt, sie dringt nur noch über Geräusche an ihn heran.

Der Film zeigt einen alten, sichtlich gebrechlichen Mann, der zurückgezogen in seinem Elternhaus lebt und wie von der Zeit überholt und vergessen wirkt. Und vermittelt so ganz eindringlich ein Gefühl der Einsamkeit. Ist diese auf eine bewusste Abwendung von der Welt zurückzuführen, wie bei dem von Rollinger verehrten Autor Arno Schmidt? Man weiß es nicht. In einem Insert sieht man die Telefonnummern von ehemals engen Mitarbeitern und Freunden, sie verweisen für Eingeweihte auf seine Beziehung zu Luxemburgs TV- und Filmgeschichte. Wie einen schweren Berg ersteigt er die Treppen zu seinem privaten Tonstudio und Schneideraum. Oben angekommen kommt Rollinger zur bitteren Erkenntnis: Das Filmen hat sein Leben ganz ausgefüllt. Doch die Kamera, seine ständige Begleiterin – das RTL-Logo klebt noch an der Seite – kann er nicht mehr tragen. Um so tragischer, wenn man erfasst, wie wichtig sie ihm war, welchen Raum sie seit seiner Jugend in seinem Leben eingenommen hatte. Und das ist nun auch vorbei.

(c) Jucam / Centre national de l‘audiovisuel

Zu einem der stärksten und – zumindest bei den Zuschauern und Zuschauerinnen, mit denen ich auf dem Filmfestival gesprochen habe – streitbarsten Momenten gehört wohl jener, in denen Marco Lorenzini als Pan verkleidet dem Poeten am Küchentisch dessen eigenes Gedicht über Lebensabend und Todesahnung vorträgt. Rollinger selbst scheint gleichzeitig zutiefst gerührt und zutiefst traurig. Ich ertappte mich bei den Fragen: Muss das sein? Geht das einen Schritt zu weit? Oder soll das sein? Ist es morbide oder ist es sogar gerade deshalb gut, weil Rollinger ein glühender Verehrer schwarzromantischer, morbider und pessimistischer Poeten wie Edgar Alan Poe, Georg Trakl und Arno Schmidt war?  Was man von dieser emotional fordernden Szene hält, muss wohl jeder für sich ausmachen, kalt lässt sie einen nicht.

Man kann sich überhaupt fragen, ob es die wiederkehrenden Szenen mit dem Fabelwesen Pan braucht, um Rollingers Mythisierung der heimatlichen Landschaft zu illustrieren oder ob sie eher irritieren. Denn eigentlich sprechen die Texte und Naturaufnahmen schon für sich (vielleicht spricht da aber auch nur das Herz eines Minettsdapp, der fast jede Ecke wiedererkennt). Insgesamt aber besticht der Film durch einen ganz eigenen bildlichen und sprachlichen Zauber, der die Grenze zwischen Realität, Erinnerung und Fantasie verschwimmen lässt. Ein Zauber, der hoffentlich nicht nur im Minett Anklang findet und dazu einlädt, die Landschaft des Poeten mit seinen Augen neu zu sehen.

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