Ich dachte eigentlich das Thema Identität sei abgeschlossen, aber 2017 wurde ich gleich fünfmal zu Gesprächsrunden und Konferenzen zu dem Thema eingeladen.Die Anfragen kamen aus den unterschiedlichsten Ecken: Zentrum für politische Bildung, CSV-Dräikinnegsdag, Déi Lénk, Journées Sociales du Luxembourg und Commission luxembourgeoise pour la coopération avec l’UNESCO. Oft wurde kontrovers diskutiert, meist ging es um die Frage: Was hält uns denn jetzt (noch) zusammen? Jetzt, wenn die Spracherziehung ‚differenziert‘ wird? Jetzt, wenn Ansässige ohne Luxemburger Pass 47% der Bevölkerung ausmachen, in manchen Orten wie der Hauptstadt klar die Mehrheit darstellen? Was verbindet „uns“ Ansässige? Ist es die luxemburgische Sprache, die Mehrsprachigkeit, die Geschichte, das Kulturgut, die Erziehung, der Werteunterricht? Oder hält „uns“ nur zusammen, dass wir anders sind als die „Frontaliers“, mit denen wir zusammenarbeiten und den größten Teil unseres Wachzustandes verbringen? Wie kann man das Gemeinschaftsgefühl auch mit den Grenzpendlern stärken? Vielleicht durch „nation branding“ oder durch Kulturpolitik?

Von der forum-Redaktion kam die Idee, dem „Abenteuer“ Identitätsforschung nachzugehen, in das ich 2004 hineingeschlittert war: Wie gehen Wissenschaftler mit diesen Fragen um? Warum interessieren sie sich überhaupt dafür? Welche Erwartungen haben die Geldgeber (d.h. der Staat, in Form der Forschungsförderung FNR und der Universität Luxemburg) und was erwartet sich die Öffentlichkeit? Wurden sie enttäuscht?

Das soll keine Nabelschau sein, aber eine subjektive Sichtweise lässt sich nicht verhindern: meine Kollegen mögen es anders erlebt haben und meine Erinnerung mag mich trügen. Das Presseecho wurde nicht systematisch gesammelt. Es gibt nur vereinzelte publizierte Selbstreflexionen1 und Außendarstellungen.2

Als „Abenteuer“ würde ich meine Teilnahme an diversen Forschungsprojekten (HMI, IDENT, IDENT2, LUXID, LUXFUT, PARTIZIP) und als Kuratorin der ersten Zeitausstellung iLUX – Identitäten in Luxemburg des Festungsmuseums nicht bezeichnen, jedenfalls nicht im Sinne eines Indiana Jones. Nichtsdestotrotz hatte ich oft den Eindruck, mich auf einem Minenfeld zu bewegen und manche Schätze zu heben. Anfang der 2000er Jahre standen viele Luxemburger der Gründung der Uni skeptisch gegenüber. Ein Hauptargument war, eine Universität in Luxemburg würde den hiesigen Studenten eine Horizonterweiterung durch Auslandaufenthalte verwehren. Übersehen wurde dabei, dass Luxemburg eine der niedrigsten Universitätsabschlussraten europaweit hatte und nur wenige es sich leisten konnten, im Ausland zu studieren. Konkurrenzängste und die finanzielle Belastung des Staatshaushaltes spielten auch eine Rolle.3

Hinzu kamen zwei – in sich widersprüchliche – ideologische Befürchtungen. Die Universität wurde entweder als staatstragende Denkfabrik angesehen, die Auftragsarbeit für Regierung und Industrie mache, oder aber als subversive Querulantenecke. Beiden Vorwürfen war auch unsere Forschung regelmäßig ausgesetzt.

Ob die Universität auch Geistes- und Sozialwissenschaften umfassen sollte, war umstritten. Eine Hilfestellung leistete der 1999 gegründete Fonds national de la recherche (FNR), der Forschung von Luxemburgern im Ausland sowie technologische Forschung und Entwicklung unterstützte. Seit 2002 bot der FNR auch ein Förderprogramm in unserem Bereich an: VIVRE demain au Luxembourg. Es bot die Gelegenheit zu zeigen, dass auch die Humanwissenschaften sogenannte Drittmittel anziehen können. VIVRE gab keine Inhalte vor, allerdings mögliche „Forschungsachsen“. Die erste lautete (damals noch auf Französisch): „Pour le Luxembourg plus encore que pour d’autres pays d’Europe occidentale, trouver une solution à la question de la définition d’une identité collective à la fois fédératrice dans le présent (ralliée p.ex. à la monarchie, la constitution, une éthique partagée) et ouverte sur le futur, constituera une nécessité absolue en termes de cohésion sociale.“ Das Programm VIVRE gibt es nicht mehr, aber ein Überbleibsel ist das FNR-Kürzel „ID“ (Identity and Diversity) für das Forschungsfeld der „Humanities and Social Sciences“.

Es ist für Historiker immer eine Herausforderung, ihre Forschungsinteressen in so resolut zukunfts- und gesellschaftsorientierten Programmen wie VIVRE demain au Luxembourg einzubringen. Der Trend hat sich übrigens verstärkt. Auch für EU- Programme wie Horizon 2020 scheint Vergangenheit nur dann erforschenswert, wenn sie zu „best practice“ Tipps für „stakeholders“ (z.B. die Tourismusbranche) führt.

Wie dem auch sei, es war dem Mediävisten Michel Margue 2004 gelungen, ein FNR-gesponsertes Forschungsprojekt an Land zu ziehen mit dem Titel „Histoire, mémoire, identités“. Hier fand ich meine erste Anstellung, nach Abschluss meines Doktorats in England. Der Fokus war die Erinnerungs-, nicht die Identitätsforschung. In einer Weiterentwicklung der Imagologie der 1980er ging es um Repräsentationen: Geschichtsbilder und ihre Wirkmächtigkeit. Das gemeinsam mit Michel Margue, Benoît Majerus und Pit Péporté verfasste Buch Inventing Luxembourg. Representations of the Past, Space and Language from the Nineteenth to the Twenty-First Century (2010) ging manchen Lesern zu weit. So begrüßte Joseph Reisdoerfer zwar die Studie als wichtigen Schritt in der Erforschung der Nationsbildung, kritisierte aber den „konstruktivistisch-nominalistischen“ Ansatz: „Les auteurs paraissent ainsi suggérer que la nation luxembourgeoise est une construction voire une affabulation et son histoire une grossière falsification forgée à la seule fin de justifier son existence et son indépendance.“4 Die Nation als eine „vorgestellte Gemeinschaft“ zu untersuchen, stützte sich auf eine lange Forschungstradition, die von Max Weber über Benedict Anderson reichte. Die Ausklammerung der sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften des Nationalstaates machte uns allerdings angreifbar. Die schärfste Kritik in dem Zusammenhang kam von Vincent Artuso in Bezug auf den zweiten Band der Lieux de mémoire (2012): „la révolte des clercs contre l’État-nation (…) n’est pas une révolte contre les puissants – la puissance n’est plus du côté de la nation – mais une tentative de s’assurer des privilèges dans un nouvel ordre mondial en gestation. Il ne s’agit ni d’une stratégie mûrement réfléchie, encore moins d’un complot, mais d’une adaptation à une époque nouvelle. En dessous d’une nouvelle aristocratie défiant la souveraineté des nations, se forme un nouveau clergé, avec ses dogmes et ses concepts opaques réservés aux initiés. Sa mission principale n’est pas tant d’éclairer un Tiers État qui persiste à cultiver l’idolâtrie nationale – comme ces ouvriers de Rodange ou de Florange. Elle est de le rendre conscient de ses péchés pour que surtout, surtout, il ne vienne pas troubler l’ordre qui s’établit.“5

Da Michel Margue und Benoît Majerus explizit von dieser Kritik an dem zweiten Band der Lieux de mémoire au Luxembourg, den Pit Péporté und ich alleine herausgegeben hatten, ausgeklammert wurden, und Pit Péportés Constructing the Middle Ages von dem gleichen Rezensenten als Beispiel für Gelehrsamkeit, die nicht in dogmatische Abgründe abrutscht, gelobt wurde,6 blieb die Kritik des Volkstribuns an mir alleine hängen.

Der Rüffel kam aus der marxistisch inspirierten Politik- und Sozialgeschichte und verweist auf breitere historiographische Fronten. So übten auch Norbert Franz und Jean-Paul Lehners an dem „kulturalistischen“ Ansatz Kritik.7 Allerdings interessierten sie sich in der zweiten Phase des Projektes „Partizip“ auch zunehmend für Identitätsfragen. So kam es dazu, dass wir diesen Fragen gemeinsam nachgingen.8

Erinnerungsforschung – im Sinn einer Dekonstruktion von Narrationen an Stelle einer Rekonstruktion von Vergangenheit (auch z. B. mit Hinblick auf die Repräsentation von Arcelor-Mittal oder dem Finanzplatz) – wurde nicht nur von Wissenschaftlern misstrauisch beäugt. Ziel unserer Forschung war es aufzuzeigen, wie seit dem 19. Jahrhundert Narrationen über die Identität Luxemburgs – wenn nicht der Luxemburger – aufeinander aufbauen. Das Bild, das dabei entsteht, ist überhaupt nicht eintönig, und entspricht einem Palimpsest. Alte Erzählungen (wie jene der vermeintlichen Fremdherrschaften des 15.-19. Jahrhunderts) schimmern immer wieder durch, ob negativ (als Analogie zu Fremdbestimmung durch die E.U.) oder positiv (als europäische Vergangenheit des Landes). Da die Geschichte allerdings immer weniger bekannt ist, wird vermehrt die luxemburgische Sprache als Identitätsmerkmal eingesetzt. Das hat sich in den letzten Jahren bestätigt.

Zur Öffentlichkeitsarbeit gehörte auch eine Ausstellung. Mit Georges Calteux, dem damaligen Direktor des Services des Sites et Monuments, wurde eine Reihe von Ausstellungskonzepten diskutiert für das geplante Festungsmuseums auf Drei Eicheln. Als das Thema „Identitäten“ festgelegt wurde, war das Festungsmuseum aus anderen Gründen bereits zu einem Politikum geworden. Romain Hilgert wetterte im Land: „Nun leidet das Land seit bald 30 Jahren an diesem widerlichen Identitätswahn und eine Besserung ist nach der Eröffnung des million[en]teueren Unfugs auf Drei Eicheln nicht abzusehen.“9 Des öffentlichen Interesses wohl bewusst, haben wir uns in der Ausstellung iLux. Identitäten in Luxemburg dafür entschieden, nicht nur nationale und sprachliche Identität zu behandeln, sondern auch andere Eigenschaften, die dazu dienen, Andere und sich selbst zu identifizieren: soziales Milieu, Geschlecht und sexuelle Vorlieben, körperliche Verfasstheit (Alter und Gesundheit), Raumerfahrung und Ideologie.10 Ziel war es, die Vielfalt der Gesellschaft zu zeigen und statistisch erhobene Verhältnisse auf spielerische Weise zu vermitteln. Obschon – oder eher weil – sie nicht politisch Position bezog, kam die Ausstellung beim Publikum sehr gut an.

An der Universität Luxemburg ist Identitätsforschung auch weiterhin ein Thema, nicht nur in der Geschichtsforschung oder der Forschungseinheit IPSE (Identités. Politiques, Sociétés, Espaces), die Identitätsforschung als gesellschaftsrelevantes Thema sowohl zur Legitimation nach Außen, wie auch als gemeinsames Forschungsfeld zum internen Zusammenschluss nutzen konnte. Auch in der Psychologie und den Erziehungswissenschaften werden Identifikationsprozesse (Inklusion und Exklusion) untersucht.

Die Suche nach Identität (genauer: Identifikationen) als Forschungsobjekt kann mit jener von Indiana Jones nach der verschollenen Bundeslade verglichen werden.11 Was „uns“ im Kern zusammenhält, ist ebenso wenig zu ermitteln wie der Inhalt der geheimnisvollen Lade, deren Öffnung ein Inferno auslöst. Immerhin haben wir nicht wieder den Deckel draufgegeben und sie der Regierung versiegelt zugeschickt, damit diese sie an einem geheimen Ort zwischen zig ähnlichen Kisten stapeln kann. Der Deckel ist ab. Die Arbeit geht weiter.

 

1. Sonja Kmec, „Lieux de mémoire and the (de)construction of « identities »“, in : Hémecht. Revue d’histoire luxembourgeoise 58/1 (2006), S. 97-105.
2. Laurence Brasseur, Who are we? Searching for identities in Luxembourg: a comparative exhibition critique, Luxemburg: Fondation Robert Krieps / Éd. d’Letzeburger Land, 2015.
3. Siehe Henri Entringer, Les défis de l’Université du Luxembourg (Publications de l’Institut Grand-Ducal – Section des Sciences morales et politiques), Luxemburg 2010, S. 85-102 ; siehe auch die forum Hefte 227 (Juni 2003) und 333 (Okt. 2013).
4. J. Reisdoerfer, „Il faut fermer Luxembourg!“, in: d’Lëtzebuerger Land (19.8.2011), URL : http://www.land.lu/page/article/684/4684/FRE/index.html [Stand: 10.2.2018]
5. V. Artuso, Identité et Histoire (1): La révolte des clercs, in: woxx (17.8.2012), URL : http://www.woxx.lu/5821/ [Stand: 10.2.2018]
6. V. Artuso, „Identité et Histoire (3): Le passé a la vie dure“, in: woxx (31.8.2012), URL : http://www.woxx.lu/5846/ [Stand:10.2.2018]
7. N. Franz und J.-P. Lehners, Die Auseinandersetzung um Partizipation, in: Dies. (Hg.), Nationenbildung und Demokratie (Luxemburg-Studien, 2), Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2013, S. 11-29, hier: S. 17-18.
8. N. Franz und S. Kmec, „Identität und Teilhabe in Luxemburg“, in: N. Franz e.a. (Hg.), Identitätsbildung und Partizipation im 19. und 20. Jahrhundert (Luxemburg-Studien, 12), Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2016,  S. 13-33. Siehe auch: partizip.uni.lu [Stand: 10.2.2018].
9. R. Hilgert, Hans Adam, in d’Lëtzebuerger Land (24.8.2012), URL: http://www.land.lu/page/article/696/5696/FRE/index.html [consulté le 10.2.2018]
10. Als Basis – vor allem für die sozio-kulturellen Milieus – diente der Abschlussband des Forschungsprojektes IDENT, Doing Identity in Luxemburg. Subjektive Aneignungen – institutionelle Zuschreibungen – sozio-kulturelle Milieus (2010).
11. Raiders of the Lost Ark (Reg. Steven Spielberg, 1981)

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