Privatsphäre sei heute keine „soziale Norm“ mehr, meinte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg 2010 bei den Crunchie Awards in San Francisco. Laiensoziologie und Geschäftsinteressen gehen bei Technikpropheten gerne Hand in Hand. Jeremy Rifkin macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Der selbsternannte Visionär und Bestsellerautor (z.B. Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft und Der europäische Traum) berät als Präsident der „Third Industrial Revolution Consulting Group“ Regierungen, Städte und Firmen dabei, wie ihnen der Sprung ins Zeitalter der Nachhaltigkeit dank des „Internets der Dinge“ gelingen kann. Alles und jeden über ein Netzwerk miteinander zu verbinden sei „a bit scary“ aber gleichzeitig so „exciting and liberating“, dass es keinem schwer fallen sollte, auf Errungenschaften wie Privatsphäre und Datenschutz zu verzichten: „Connecting everyone and everything in a neutral network brings the human race out of the age of privacy, a defining characteristic of modernity, and into the era of transparency.“
Das Internet der Dinge umgibt uns bereits. Die Luxemburger Post hat vor Weihnachten Werbung für ein Tracking-System namens „Mother“ gemacht. Für 290 Euro gibt es die „Mutter“-Konsole mit vier „Bewegungs-Cookies“, keksförmigen Plastiksensoren, die an den verschiedensten Gegenständen angebracht werden können und ihre Messungen per Bluetooth an die Konsole senden. So lässt sich zum Beispiel nachvollziehen, wann ein Schulkind nach Hause kommt, wie oft der Kühlschrank geöffnet wurde, ob alle Familienmitglieder sich die Zähne geputzt haben, oder wer unruhig geschlafen hat. Alle Daten werden verarbeitet und können auf dem Mobiltelefon oder dem Computer visualisiert werden. Bezeichnend für diese Geschäftsidee ist der orwellsche Slogan, mit dem der französische Entwickler „sen.se“ das Produkt vermarktet: „mother knows everything.“ Wem die Daten gehören und wie sicher das System gegen Hacker-Angriffe ist, geht aus den sehr allgemein gehaltenen Geschäftsbedingungen übrigens nicht hervor.
Ebenso invasiv ist Microsofts Medienkonsole „Xbox One“, die mit Internetanschluss, Mikrofon und einer hochauflösenden Kamera angeboten wird: Geräusche und Bewegungen in einem Raum können somit präzise verfolgt und Profile von den verschiedenen Nutzern erstellt werden. Verizon, Google, Comcast und Intel testen ähnliche Produkte bzw. Anwendungen, die für gezielte Werbung eingesetzt werden können. Um aus Öberwachungsbildern Rückschlüsse auf die Gemütslage der Kunden zu erlauben, ist die „Emotion Economy“ auf spezialisierte Software angewiesen. Und der Datenhunger der Entwickler ist unbegrenzt: „Somehow we figure out a way where people don’t mind or don’t care, so that every time you go on YouTube your camera turns on, and as you are watching, it is collecting this data. It is like a cookie.”1 Das dominante Geschäftsmodell bleibt im Zeitalter des Internets der Dinge womöglich dasselbe, mit dem Mail-Anbieter bereits das Briefgeheimnis de facto abgeschafft haben: gratis Nutzung zum Preis der persönlichen Daten.
Auch der Staat umarmt die smarte neue Welt der intelligenten Gegenstände: Ab 2016 und bis spätestens 2020 soll qua Gesetz in allen Luxemburger Haushalten ein „intelligenter Stromzähler“ installiert werden, der „im Viertelstundentakt den Stromverbrauch und im Stundentakt den Gasverbrauch an eine gemeinsame Datenzentrale der fünf Stromnetz- und der drei Gasnetzbetreiber“ übermittelt.2 Je mehr Geräte — von der Kaffee- zur Waschmaschine — mit Chips ausgestattet sind und Informationen mit dem Ener-
gienetz darüber austauschen, wann sie ihre Arbeit erledigen, desto effizienter und billiger lässt sich in Zukunft leben, so die Verheißung. Die Datenschutzkommission hat in ihrer Stellungnahme eine Vorratsdatenspeicherung von höchstens sechs Monaten angeraten: „Les compteurs […] génèrent une masse de données dont on peut déduire des informations très personnelles sur les habitudes des usagers.“3 Das entsprechende großherzogliche Reglement erlaubt trotzdem eine Speicherdauer von 15 Jahren.4
Noch ein Beispiel: In der EU müssen voraussichtlich ab 2018 alle neuen Autos mit einem Notruf-System ausgestattet sein. Der eCall-Chip soll bei einem Unfall dafür sorgen, dass Rettungsdienste automatisch benachrichtigt werden. Es können auf dem Chip aber auch andere Funktionen installiert werden. Bis Versicherungsgesellschaften reduzierte Prämien anbieten für Autofahrer, die sich tracken lassen, dauert es wohl nicht mehr lange. Ähnlich könnten bald „intelligente“ Zahnbürsten und Medizinarmbänder eine Rolle im öffentlichen Gesundheitswesen spielen. Jeremy Rifkin ist von derartigen Entwicklungen begeistert: „Big Data feedback, advanced analytics, predictive algorithms, and automation systems could cut the cost in the global health-care sector by 25 precent according to the G[eneral] E[lectric] study“.
Die möglichen Risiken des Vernetzungswahns, wie die exponentiell wachsende Vulnerabilität bei Hacker-oder Terrorattacken, spricht Jeremy Rifkin nur flüchtig an. Kurz wird erwähnt, dass die amerikanische Armee kleine, unabhängige Notfall-Netzwerke für ihre Stromversorgung und ihren Informationsaustausch einrichtet.
Sharing Economy oder Plattform-Kapitalismus?
Effizienz, wissenschaftlicher Fortschritt, verbesserte Dienstleistungen — das sind die gängigen Argumente für das Internet der Dinge. Jeremy Rifkin hat noch ein zusätzliches Schlagwort zu bieten: Nachhaltigkeit, deren Zeitalter durch die Verbindung von Energie-, Kommunikations- und Logistiknetzwerken nun endlich anbreche. Um diese These zu untermauern, greift er auf die Grenzkostenfunktion aus der Betriebswirtschaftslehre zurück. Rifkin ist überzeugt, dass die Marginalkosten (die Kosten für die Produktion einer zusätzlichen Einheit der Ware X) in quasi allen Wirtschaftsbereichen bald gegen Null tendieren. Tatsächlich kennen digitale Waren dieses Phänomen: Ist ein Zeitungsartikel einmal geschrieben, ein Musikstück aufgenommen, ein Film gedreht, kann das Produkt im Internet (abgesehen von Infrastruktur- und Stromkosten) kostenfrei verbreitet werden. Für den jeweils nächsten Kunden entstehen keine zusätzlichen Produktions- oder Vertriebskosten.
Wie Rifkin richtig bemerkt, stellt dieses Phänomen die betroffenen Märkte auf den Kopf: die Profitmargen schrumpfen, wenn Musik und Filme im Netz gratis unter den Nutzern geteilt werden. Daraus zieht er den Schluss, dass der auf Profit angewiesene Kapitalismus einer Sharing Economy weichen wird. Produkte werden also geteilt, oder von Non-Profit-Unternehmen verkauft.
Diese verallgemeinerte Darstellung ist jedoch schwer nachvollziehbar. Erstens lässt Rifkin außer Acht, dass die Null-Marginalkosten-These nur auf sogenannte nicht-rivalisierende Güter zutrifft. Wer ein Youtube-Video anschaut, beeinträchtigt dadurch nicht den Konsum von anderen Personen. Ein Kilowatt Sonnenstrom kann jedoch nur einmal verbraucht werden, und das obwohl die Sonne gratis scheint. Der Publizist Evgeny Morozov meinte dazu am 2. Oktober 2014 auf Twitter treffend: „Jeremy Rifkin walks into a bar, orders a beer, fails to explain the zero marginal cost society to the bouncer.“
Weshalb das Internet der Dinge ein Zeitalter des nachhaltigen Füllhorns („the sustainable cornucopia“) begründen würde, bleibt komplett schleierhaft: Nur weil die Marginalkosten beim digitalen Vertrieb gegen Null tendieren, sagt dies nichts über die Produktionskosten aus. Daran dass quasi alle natürlichen Ressourcen, mit Ausnahme der Sonnenenergie, begrenzt verfügbar sind, werden weder das Internet noch der 3D-Printer etwas ändern. Und obwohl Rifkin es glauben machen will, war bisher niemand auf das Internet der Dinge angewiesen, um nachhaltige Gemeinschaftsgärtnerei zu betreiben.
Zweitens verallgemeinert Rifkin die These, dass die Existenz von sozialen Internetplattformen dem Kapitalismus ein Ende bereiten wird: „In the coming era, both capitalism and socialism will lose their once-dominant hold over society, as a new generation
increasingly identifies with Collaboratism. The young collaboratists are borrowing the principle virtues of both the capitalists and socialists, while eliminating the centralizing nature of both the free market and the bureaucratic state“. Aber wie ernst meint Rifkin es mit dem Ende des Kapitalismus, wenn er AirBnB und Uber als Audruck einer kollaborativen Sharing-Wirtschaft begreift? Anstelle den Warenaustausch aus der kapitalistischen Logik auszuklinken sorgen diese Plattformen dafür, dass neue Bereiche (die Privatwohnung respektive das eigene Auto oder die eigene Freizeit) überhaupt erst als Markt erschlossen werden. Wenn keiner mehr an Profit interessiert wäre und alle nur noch unentgeltlich teilen wollten, weshalb gibt es mittlerweile sogar einen Markt für „Professional Hugging“, also für Schmusen gegen Bezahlung?
Das im Untertitel des Buches angekündigte „Ende des Kapitalismus“ steht wohl noch nicht vor der Tür. Rifkins eigentliche Position weicht dann auch stark von dem ostentativen Liebäugeln mit dem Charme einer post-kapitalistischen Gesellschaftsidylle ab. Ob man mit den sozialen Internetplattformen Geld verdienen will oder nicht, sei jedem selber überlassen: „The new initiatives we are engaged in to help communities build out IoT infrastructure are collaborative arrangements in which markets and Commons operate on parallel tracks, provision each other, or collaborate in joint management structures“. Unter welchen Voraussetzungen kollaborative Plattformen sich überhaupt gegenüber profit-orientierten Akteuren behaupten können, problematisiert Rifkin nicht. Dadurch unterscheidet er sich zum Beispiel von Murray Bookchin, der Anfang der 70er Jahre mit seinem Aufsatz zum „Post-Scarcity Anarchism“ ähnliche Thesen über den technologischen Fortschritt und seine Konsequenzen für Nachhaltigkeit, Staat und Markt formuliert hat. Der linke Theoretiker und Aktivist hat diese Utopie jedoch an konkrete Vorschläge für anarchistisch-kollaborative Selbstverwaltungsmethoden geknüpft.5
Datenschutz im Zeitalter des „Internet of Everything“
Das „Ende des Kapitalismus“ dient einer zentralen Argumentationslinie Rifkins, einer Art deduktivem Schweinsgalopp: Ohne Kapitalismus gibt es keine Bourgeoisie, und ohne Bourgeoisie ist kein Datenschutz mehr nötig. Der Schutz der Privatsphäre, aus dem sich das Datenschutzrecht ableitet, ist für Rifkin eine Erfindung der verklemmten Bourgeoisie des späten 19. Jahrunderts: „It wasn’t until the capitalist era that people began to retreat behind locked doors. The bourgeois life was a private affair.“ Vorher habe die „sozialste Spezies auf Erden“ ein offeneres Leben geführt: „In virtually every society that we know of before the modern era, people bathed together in public, often urinated and defecated in public, ate at communal tables, frequently engaged in sexual intimacy in public, and slept huddled together en masse.“
Aus einer Binsenwahrheit (was als privat oder intim empfunden wird, ändert sich im Laufe der Zeit) leitet Rifkin das soziologisch und psychologisch wenig fundierte Argument ab, dass der Mensch auf seine Privatsphäre verzichten kann. Er verliert kein Wort über die negativen Auswirkungen von Öberwachung auf das menschliche Verhalten. Dazu käme die Widersprüchlichkeit der Transparenz-Propheten selber: Schließlich hat Mark Zuckerberg Immobilien und Baugelände im Umkreis seines Wohnsitzes aufgekauft … zum Schutz seiner Privatsphäre.6 Kalifornische Handwerkerbetriebe müssen Geheimhaltungsvereinbarungen unterschreiben, meldet die New York Times: „These powerful documents, demanding the utmost secrecy, are being required of anyone associated with the homes of a small but growing number of tech executives, according to real estate agents, architects and contractors. Sometimes the houses themselves are bought through trusts or corporate entities so that the owners’ names are not on public deeds.“7
Um die Privatsphäre als ephemeres Phänomen zu stilisieren („While privacy has long been considered a fundamental right, it has never been an inherent right.“), stellt Rifkin zudem ihre Geschichte etwas verkürzt dar. Tatsächlich gilt in den USA ein Aufsatz aus dem Jahr 1890, in dem die beiden Juristen Samual Warren und Louis Brandeis das „right to be let alone“ beschreiben, als Geburtsstunde des Rechts auf Privatsphäre. Ihre historischen Wurzeln sind jedoch — zumindest auf konzeptioneller Ebene — bereits 500 v. Chr. bei den Griechen des perikleischen Athens zu finden, schreibt der Jurist Kai von Lewinski in einem Sammelband der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema „Datenschutz“.8 100 Jahre später gibt es mit dem Eid des Hippokrates bereits die Idee einer Schweigepflicht des Arztes. Der Datenschutz, wie man ihn heute versteht, entstand mit dem modernen Territorial- und Nationalstaat nach 1500 und der „Entdeckung des Individuums“ während der Aufklärung. Die bürokratische Datenmacht des modernen Staates stand fortan im Spannungsverhältnis zum Persönlichkeitsrecht der Bürger: „So ist etwa das Postgeheimnis seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bekannt, auch das Steuergeheimnis wurde vergleichsweise früh anerkannt.“
Bis heute gilt, so von Lewinski, dass die Unternehmen die bei ihnen gespeicherten personenbezogenen Daten — „immaterialgüterrechtlich auch nicht ganz zu Unrecht“ — als ihr Eigentum betrachten können. Dass eine „grundsätzliche Klärung des Verhältnisses zwischen dem Recht der Daten-„Besitzer“ und dem Anspruch auf „informationelle Selbstbestimmung“ der Betroffenen“ noch immer aussteht, ist der politische Hintergrund vor dem Rifkins Aussagen über das Ende der Privatsphäre verstanden werden müssen.
Eigentlich könnte das Internet der Dinge Anlass zu einer Verschärfung der Gesetzgebung sein. Schließlich, so von Lewinski, sei Datenschutz „nicht allein eine Frage der Grundrechte und damit ein individuelles Persönlichkeits- und Abwehrrecht gegenüber dem Staat“, sondern verfolge „auch ein über-individuelles, strukturelles Ziel […]: die Begrenzung jener Machtungleichgewichte, die durch die Informationsballung bei einzelnen Akteuren bestehen.“
Die politischen Entwicklungen zeigen jedoch in eine andere Richtung, auch in der Europäischen Union (die sich regelmäßig von Jeremy Rifkin beraten lässt). Mitte März war die 6. Europäische Jahreskonferenz zum Internet der Dinge. Dort wurde unter anderem über die Frage diskutiert, ob denn das europäische Datenschutzrecht ausreichend „future proof“ sei, um der technischen Entwicklung nicht im Wege zu stehen. Fast zeitgleich, am 13. März, haben die EU-Justizminister sich grundsätzlich darauf geeinigt, dass für die Weiterverwertung von persönlichen Daten weniger strenge Vorgaben gelten sollen. In Anlehnung an einen Wahlkampfspot des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker könnte man dazu sagen: „You don’t have to be a techie … to believe in the end of privacy“.10
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
