Aneignung des öffentlichen Raumes: Um was geht es eigentlich?
Aneignung und öffentlicher Raum — zwei alltägliche Begriffe? Bei näherer Betrachtung scheint weder klar zu sein, was Aneignung beabsichtigt noch was den öffentlichen Raum definiert. Wir wollen hier einen Versuch starten und bedienen uns dabei unserer täglichen Praxis. Als unabhängiger sozio-kultureller Bildungsakteur hat 4motion langjährige Erfahrung in der Gestaltung und Begleitung von „Aneignungsprozessen im öffentlichen Raum“. Vor allem im Jugendbereich haben wir viele unterschiedliche Prozesse initiiert und begleitet. Diese erlaubten uns, Menschen unterschiedlicher Herkunft bei der Aneignung des öffentlichen Raums zu beobachten und daraus (politische) Handlungsalternativen abzuleiten.
Anhand von zwei Projekten wollen wir unsere Erkenntnisse in diesem Bereich darlegen. Es handelt sich einerseits um ein Projekt der Bürgerbeteiligung im Rahmen der vorbereitenden Studie des Flächennutzungsplans (PAG) in einer Südgemeinde des Landes. Andererseits wollen wir auf eine aktuelle Bewegung im Bereich des „Urban Gardening“ aufmerksam machen —
also der aktiven Aneignung von Grünflächen als solidarisches Projekt.
„Man kann nicht nicht aneignen“
Wenn Paul Watzlawik für die Kommunikation in zwischenmenschlichen Beziehungen die Formel „Man kann nicht nicht kommunizieren“ geprägt hat, so vertreten wir die These in Bezug auf den öffentlichen Raum: „Man kann nicht nicht aneignen“. Doch was versteckt sich hinter dieser Annahme?
Aneignung beschreibt die ständige Auseinandersetzung des Menschen mit einer sich immerfort verändernden Umwelt. Dieses Konzept findet seinen Ursprung in der materialistischen Aneignungstheorie des russischen Psychologen A.N. Leontjew. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung stehen Gegenstände. Er verstand die Entwicklung des Menschen als ständige Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und als Aneignung der gegenständlichen und symbolischen Kultur.1 Aneignung im Zusammenhang mit dem öffentlichen Raum versteht die direkte, aktive und dabei nicht immer konfliktfreie Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt. Mit dieser Definition arbeiten wir auch bei 4motion.
Öffentlicher Raum —
Ein Alltagsbegriff?
Vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts
haben sich Menschen mit dem Begriff „Raum“ auseinandergesetzt. In Fachdiskursen wird Raum abhängig davon, ob man ihn aus soziologischer, geographischer oder architektonischer Sicht betrachtet, anders definiert und benutzt.
In diesem Beitrag wird Raum v.a. als gesellschaftlicher Raum beschrieben, wobei ihm vier Dimensionen zugeschrieben werden: eine materielle, eine soziale, eine politische und eine symbolische. Was aber genau ist unter gesellschaftlichem Raum zu verstehen? Folgt man Dieter Läpple wird der gesellschaftliche Raum als gesellschaftlich produzierter Raum bezeichnet. Seinen gesellschaftlichen Charakter entfaltet er erst durch die Praxis der Menschen, die in ihm leben, ihn nutzen und reproduzieren.2 Man kann also festhalten, dass Raum etwas (von und durch Menschen) „Produziertes“ ist. Simmel und Durkheim dagegen verstehen Raum eher als Behälter oder leere Hülle, die allmählich gefüllt werden muss. Mit Bourdieu und Lefebvre weitete sich jedoch das Raumverständnis allmählich aus. So beschreibt Lefebvre den Raum als Produkt: „(Social) space is a (social) product“.3 Mit Bourdieu kommt dem Raum ein weiteres Element hinzu: Er versteht ihn nämlich als eher „physischen Raum“. Raum ist für ihn der Ort, an dem sich Menschen begegnen und der an ein Machtfeld gebunden ist. Bourdieu denkt und beschreibt den Raum immer in seinen Abhängigkeiten von physischem, sozialem und somit angeeignetem Raum. Er geht von den Möglichkeiten der Menschen als „Raumbesetzer“ aus.4 Der öffentliche Raum wird demnach nicht mehr als reine Hülle verstanden, die gegeben ist und in der Menschen leben (müssen). Diese Ansicht von „öffentlichem Raum“ vertritt auch Martina Löw, die von einem „relationalen Raum“ spricht in dem und durch den Menschen eine handelnde Rolle zugeschrieben wird. Dies fördert politische und gesellschaftliche Entwicklungen und einen qualitativen Wandel öffentlicher Räume.5
Und das „öffentliche“ am Raum? Nach den oben erwähnten Beschreibungen, wird der öffentliche Raum sehr verschieden beschrieben und je nach Betrachtungsort anders typisiert. Bibliotheken, Museen, Spielplätze, Terrassen, Bürgersteige oder Einkaufszentren werden je nach Setting in unterschiedliche Kategorien eingeordnet, als öffentliche bis halb- öffentliche Räume. Der Begriff „öffentlicher Raum“ steht für einen Oberbegriff der sich differenzieren lässt in konkrete öffentliche Räume, in denen face-to-face Interaktionen stattfinden, elektronische öffentliche Räume, wie Facebook oder ähnliche elektronische Plattformen, medienerweiterte öffentliche Räume wie das Fernsehen, Radio, Internet u.ä. und schließlich demokratische öffentliche Räume.6
Was bedeutet das nun in der Praxis?
Wenn wir „Aneignung des öffentlichen Raumes“ aus der Sicht der Praxis betrachten, geht es uns in erster Linie darum, die tatsächliche hier stattfindende Praxis zu erfassen, zu begreifen und zu übersetzen. Doch was ist damit gemeint? Nehmen wir das Beispiel Flächennutzungsplan (PAG).
Der Flächennutzungsplan ist ein Planungsinstrument, das den Raum als architektonische „Hülle“7 versteht, die es gilt mitzugestalten. Abstrakt gesprochen geht es um Planung auf dem Reißbrett. Der Mouvement Ecologique hat sich dafür eingesetzt und ausgesprochen, dass im Rahmen des PAG die Perspektive vom öffentlichen Raum als „architektonischer Hülle“ dahingehend wechselt, dass dieser als „relationaler Raum“ verstanden wird. Auch wenn der PAG ein sehr technisches Dokument ist und bleiben soll, können im Rahmen der Erstellung des PAG die Sicht der Menschen auf ihren (angeeigneten) Raum und ihre Bedürfnisse aufgegriffen werden. Im Rahmen der vorbereitenden Studie des Flächennutzungsplanes hat sich die Stadt Differdingen dafür entschieden, mit den Bürgern in einen Dialog zu treten und ist an 4motion herangetreten, um einen „Bürgerbeteiligungsprozess“ zu initiieren, mit dem Ziel zu erfahren, wie Menschen ihre gebaute Umwelt wahrnehmen.
Aneignungsprozesse: Top-down oder bottom-up?
Sowohl als auch, denn Aneignungsprozesse sind vielfältig. Aneignung passiert, ob wir wollen oder nicht. Wenn dieser Prozess gesteuert ist, so kann das sowohl „top-down“ als auch „bottom-up“ geschehen. Typische „top-down“ Prozesse sind meist direkt gesteuert, durch das Anwenden bestimmter Methoden, wie dem Erlassen von Gesetzen, die es erlauben, die Bedürfnisse der Menschen im öffentlichen Raum zu erfassen.
Ableitend aus den Begriffsklärungen spielen Beziehungen zwischen Menschen und dem Raum sowie die Auseinandersetzungen, die in dieser Interaktion stattfinden, eine wichtige Rolle. Wollen gesellschaftliche Akteure, ob das die öffentliche Hand oder die Zivilgesellschaft ist, diese Aneignung fördern, verändern und/oder gestalten, dann sollten dahingehende Interventionen diese Aspekte berücksichtigen. Interveniert wird jedoch meist nur, wenn Bedarf für Intervention gesehen wird, also aufgrund von Problemen, die identifiziert wurden. Wünschenswert wäre ein proaktiveres politisches Handeln, womit das Entstehen von Problemen verhindert würde.
Zum Beispiel: Flächennutzungsplan
Die Gemeinde Differdingen befindet sich in einem strukturellen Wandel. Dieser ist bedingt durch den Abbau der Stahlindus-
trie und wird von der aktuellen déi gréng-LSAP-CSV Koalition durch offensive Kommunikation angegangen. Teil dieser Kommunikation ist der Wunsch, mit den BürgerInnen in Dialog zu treten. Ziel ist es, die Wahrnehmung von Differdingen als Gemeinde zu verändern und zu verbessern. Die Aneignung des öffentlichen Raumes soll hier also gesteuert werden, um diesem Ziel zu entsprechen und dafür bedarf es in der Folge neuer Beziehungen: Einerseits zwischen den Menschen, die die Stadt konstituieren (BürgerInnen in all ihrer Verschiedenheit, Gemeindeangestellte- und beamte, Politiker) und andererseits zwischen eben diesen Menschen und den verschiedenen Räumen.
Aufbauend auf der Prämisse, dass Bürger-
Innen sich verstärkt beteiligen können und Aneignung zur Partizipation beiträgt, sieht 4motion sich als Akteur, um solche Prozesse auf kommunaler Ebene zu gestalten, zu begleiten und umzusetzen. Im Falle von Differdingen geschieht dies durch unterschiedliche Zugänge zum öffentlichen Raum wie durch direkten Kontakt (konkret öffentliche Räume) oder über virtuelle öffentliche Räume (Internet) und medienerweiterte öffentliche Räume (Presse). Ob durch eine Ortsbegehung, Straßenbefragungen (Microtrottoir) oder E-Partizipation8 mittels einer interaktiven Karte im Netz wollen wir neue Perspektiven zum oftmals für die Bewohner „altbekannten“ öffentlichen Raum schaffen. Solche und ähnliche Methoden der Beteiligung erlauben zu verstehen, wie Menschen ihren Wohnraum, ihre Stadt erleben, und ermöglichen, dass Veränderungen in der Stadtplanung (und nicht nur hier) entstehen.
Zum Beispiel: Urban Gardening
Aneignungsprozesse des öffentlichen Raumes können jedoch auch bottom-up aus dem Zusammenspiel von globalem Bewusstsein und lokalen Gegebenheiten heraus entstehen. Innerhalb der Transition-Town-Bewegung sticht unter vielen möglichen Aktionsformen besonders eine ins Auge, da sie direkt im öffentlichen Raum präsent ist: die Rede ist vom städtischen Garten. Im Gegensatz zur traditionellen ökologischen Bewegung, bei der Fragen über Ökologie und Nachhaltigkeit im Vordergrund standen, kommt bei der aktuellen Transition-Bewegung die soziale Dimension verstärkt zum Tragen. So geht es hier nicht nur um den „Bio-Garten“, sondern um die gemeinschaftliche Kultivierung von Flächen im urbanen Raum.
Dabei geht es nicht nur mehr um die eigene Auseinandersetzung mit Fragen des ökologischen Fußabdrucks und der eigenen Ernährungswahl. Nachbarschaftliches Zusammenleben entsteht, wenn auf einmal ums Eck ein bunter Gemeinschaftsgarten heranwächst und die Straßenbeete mit Gemüse statt Geranien bepflanzt werden.
Am Beispiel des „öffentlichen Gartens“ wird die Auseinandersetzung der Menschen mit dem gebauten Raum sichtbar. Kleinste Räume werden umdefiniert und umgestaltet. Beziehungen entstehen und ein neues Zusammenleben wird geschaffen — wenngleich nicht immer konfliktfrei. Wir nehmen das Beispiel des Quartier-
gaarts in Esch-Alzette, der aktuell in seine zweite Saison geht. Im Breedewee (rue large) haben sich die Mitglieder von Transition Minett eine Grünfläche angeeignet. Neben dem gemeinsamen Garten finden hier auch weitere Aktivitäten statt: Gemüse-
verteilung, samstägliche Treffen, Grillen und gemeinsames Arbeiten. Es ist ein Raum der Begegnung und der gemeinsamen Arbeit. Ein Jahr ist zu kurz gegriffen, um die mittelfristige Wirkung einer solchen Initiative auf den öffentlichen Raum wie zum Beispiel die Nachbarschaft auszuwerten. Doch zeigt sich schon jetzt, was solche Projekte mit Aspekten der „luxemburgischen Kultur“ wie Zurückhaltung, ausgeprägtes Ordnungs- und Hygienebedürfnis bewirken. Kritik, Unverständnis Kopfschütteln aber auch Neugier haben sich mittlerweile abgeflacht. Es bleibt abzuwarten wie sich das Projekt weiterentwickeln wird. Spannend ist abermals die Bedeutung des Aneignungsprozesses, der hier (aktuell) stattfindet. Deutlich wird auch, dass sich neue Freundschaften in diesem Raum entwickeln. Zuletzt ist es ein schönes Beispiel dafür, wie Menschen sich den oft sehr funktionalen Raum wieder aneignen und damit für sich „lebbar“ machen.
Und genau das wollen Aneignungsprozesse im öffentlichen Raum: die ständige Auseinandersetzung des Menschen mit der von fremder Hand gebauten Hülle. Denn wie bereits geschrieben: Man kann nicht nicht aneignen. u
Vgl. Deinet 2005: 27.
Vgl. Läpple zit.na. Gestring, Jansen 2005: 161.
Lefêbvre 1974 zit. Nach Löw/ Sturm 2005; Doderer 2002.
Bourdieu 1991.
Vgl. Hunning2006: 13.
Vgl. Goodsell 2003 zit na. Hunning: 20.
Wir führen diesen Begriff im Zusammenhang des Artikels ein.
E-Partizipation beschreibt die Art der Beteiligung, welche über das Internet stattfindet. Am Beispiel der Stadt Differdingen findet E-Partizipation über eine kartographische Plattform „CARTICIPE®“ statt (www.differdangechange.lu).
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