- Politik
Auf der Suche nach dem verlorenen Zeug
Über Geschichte und Zukunft im politischen Diskurs
Wer in den letzten Monaten in Luxemburg unterwegs war, konnte sich davon überzeugen, dass und in welchem Ausmaß der Diskurs um Identität und kulturelle Zugehörigkeit auch hier Fuß gefasst hat. Augenfälliges Kennzeichen für diese Entwicklung waren etwa die zahlreichen Plakate im Vorfeld der Chamberwahlen, von denen viele einen direkten Bezug zu identitätsbezogenen Themen aufwiesen, sei es die populistische Kampagne „Zukunft op Lëtzebuergesch“ der DP oder der patriotisch grundierte Slogan der Grünen („Well mir eist Land gär hunn“). Aber auch darüber hinaus scheint sich im politischen Diskurs des Landes eine Entwicklung abzuzeichnen, die sich als luxemburgische Variante einer populistischen Strömung in Politik und Medien lesen lässt und die den Diskurs auf absehbare Zeit prägen könnte. Dass Sprache und besonders das Luxemburgische dabei bislang eine so prominente Rolle gespielt haben, lässt sich aus der Debatte rund um die komplexe Mehrsprachigkeit (im Nachgang des Referendums von 2015 über das Ausländerwahlrecht) sowie aus dem Umstand erklären, dass wir es hierbei mit einem Stellvertreterdiskurs zu tun haben, in dem latente gesellschaftliche Sollbruchstellen wie demographische und ökonomische Entwicklung gebunden, aber nur bedingt sichtbar sind. Man spricht über Sprache und Identität statt über soziale Gerechtigkeit, Mobilitätskonzepte oder bezahlbaren Wohnraum.1
Über diese Entwicklungen ist in den Medien bereits einiges geschrieben worden, auch und vor allem über die politische Instrumentalisierung der Sprachenfrage sowie populistische Tendenzen im Wahlkampf. Zuletzt hat etwa Michel Pauly hier im forum Nr. 388 das Thema aufgegriffen und eine ernsthafte Diskussion über Identität ebenso wie ein neues gesellschaftliches Narrativ eingefordert. Von ähnlicher Warte aus – aber mit anderen Schlussfolgerungen – tritt der Politologe Francis Fukuyama in einem aktuellen Essay für „nationale Bekenntnisidentitäten“ ein, die als politisch gelenkte, wertegebundene Gesellschafts-entwürfe der gesellschaftlichen Zersplitterung und fehlgeleiteten Identitätspolitik in Europa entgegenwirken sollen; dabei verbindet er seinen Vorschlag mit einer normativen Vorstellung kultureller Assimilation für Zugewanderte.2 Wenig geschrieben wurde bislang hingegen darüber, dass es sich bei der Sprachenfrage nicht nur um einen Stellvertreterdiskurs, sondern zudem um eine Scheindebatte handelt, die von Medien und Wee2050 künstlich aufgebauscht wurde, um News zu produzieren und identitäre Themen im Diskurs zu verankern.3 Dass die Mehrheit der Bevölkerung demgegenüber ganz andere Sorgen und konkrete Anliegen hat (eben z.B. Wohnraum, Mobilität oder Erziehung), aber weniger Mittel, ihnen Gehör zu verschaffen, trägt wesentlich zur Verzerrung des Diskurses bei.
Mittel und Motive populistischer Politik
Zwar erscheint die Identitätsdebatte in Luxemburg im Vergleich mit den teils offen fremdenfeindlichen Positionierungen in anderen europäischen Ländern noch vergleichsweise harmlos – auch und vor allem, weil Migration hier bislang weniger als Masseneinwanderung in die Sozialsysteme denn als grenzüberschreitende Grundlage der prosperierenden Wirtschaft legitimiert wird –, dennoch sind auch dem hiesigen Diskurs bereits ähnliche Motive eingeschrieben, wie sie in Deutschland von der AfD oder in Frankreich vom Rassemblement National erfolgreich instrumentalisiert werden. Dazu gehören die Angst vor einer Überfremdung, der drohende Verlust der eigenen kulturellen Identität, das Beschwören einer romantisierten Vergangenheit oder der Wunsch nach nationaler Abgrenzung in einer globalisierten Welt.
Deutlich wurde dies beispielsweise in einem Interview, das Fernand Kartheiser von der rechtskonservativen ADR der Zeitung L‘Essentiel im Wahlkampf gab und das man als eine Art Blaupause für die Ver-schiebung des politischen Diskurses im Land lesen kann.4 Kartheiser bringt in diesem Interview in kon-densierter Form die zentralen Motive und Mechanismen einer Popularisierung identitärer Themen in der Öffentlichkeit zum Ausdruck: Sprachenpolitik als Chiffre für nationale Abgrenzung, kulturelle Hierarchisierung als Gegenbild zur Multikulturalität sowie die Forderung nach kultureller Assimilation anstelle von gesellschaftlicher Integration, zudem verbunden mit der Idee einer besseren Vergangenheit (hier in Bezug auf die schulische Vermittlung des Französischen). Weiterhin legt Kartheiser im Gespräch den strategischen (identitäre Themen im Diskurs legitimieren) und taktischen (ideologisch verwandte Kräfte bündeln) Horizont seiner Partei offen.
Luxemburg und der Populismus
Auch wenn diese Positionen der ADR grundsätzlich keine Neuigkeit darstellen, so illustrieren sie doch sehr anschaulich die luxemburgische Variante einer kulturkonservativen ideologischen Rahmung politischen Handelns, die spätestens im Wahlkampf bei fast allen Parteien (wieder) Teil der politischen Agenda geworden ist.5
Wie offensichtlich dabei populistische Positionen bereits in den politischen Mainstream eingesickert sind, ließ sich gut an einem „face à face“ zwischen den Spitzenkandidaten von CSV und déi gréng beobachten, in dem sowohl Claude Wiseler als auch Felix Braz offen für identitäre Themen als Teil ihres politischen Programms eintraten.6
Dabei scheinen sich vor allem zwei übergeordnete Tendenzen abzuzeichnen: Zum einen findet sich in vielen Bereichen des öffentlichen Diskurses eine starke Rückbesinnung auf traditionelle kulturelle Formen, sei es eine romantisierte (und damit hypothetische) Vergangenheit, in der die Dinge „noch in Ordnung“ waren, oder die Aufbereitung und Ausstellung von kulturellen Zeugnissen (zu touris-tischen und kommerziellen Zwecken) mit dem Ziel einer kulturellen Legitimation von Geschichte und Nation – man denke hier beispielsweise an die Initiative zur Schaffung einer Nationalgalerie für luxemburgische Kunst oder das Buhei rund um die diesjährige Präsenz auf der Frankfurter Buchmesse.7 Zum anderen zeigt sich ein deutliches Bemühen um gestaltende soziokulturelle Bezugssysteme, etwa ein nationales Narrativ der eigenen (oder angeeigneten) gesellschaftlichen Praxis, mittels dessen man sich gegenüber der Umwelt abgrenzen und als eigenständig sichtbar machen kann. Gesucht wird eine große Erzählung, die nach innen integrierend („Identität“) und nach außen identifizierend („Marke“) wirkt. Dies lässt sich an der politischen Identitätsarbeit und Sprachenpolitik ebenso ablesen wie an der aggressiven Positionierung Luxemburgs als Wirtschaftsstandort („Space Mining“) und seinem ideologischen Pendant, dem Nation Branding („Let’s make it happen“).8
Selbstbehauptung zwischen Geschichtsarbeit und nationalem Narrativ
In beiden Tendenzen können wir unterschiedliche Aspekte des Wunsches nach kultureller Selbstbehauptung erkennen, also nach Orientierung in einer komplexen Lebenswelt durch einen gemeinsamen Grund (das kulturelle Erbe) und eine klare Abgrenzung nach außen (die Idee einer Nation oder eines Volkes). Wirksam werden hier einerseits das kulturkonservative Motiv einer Selbstverankerung (in der und durch die geteilte Vergangenheit), also der Suche nach identitären Ankerpunkten in einer unübersichtlich gewordenen Welt, sowie andererseits das kulturprogressive Motiv einer Selbstvergewisserung (in dem und durch das nationale Narrativ), also der Arbeit an ideologischen Deutungsrahmen für die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Zwischen diesen beiden Polen, historischer Grundierung einerseits („Mir wëlle bleiwe wat mir sinn“) und ideologischer Rahmung andererseits („Let’s make it happen“), zwischen Geschichte und Narrativ lässt sich die luxemburgische Variante des derzeitigen identitären Populismus in einem ersten Anlauf ansiedeln.
Auffällig an diesem Populismus ist, dass kulturelle Selbstverankerung und Selbstvergewisserung hier zumeist in eins fallen: Geschichtsarbeit ist zugleich Ideologiearbeit und Sprachenpolitik zugleich Vergangenheitsbewältigung. Auch deshalb ufert die Identitätsdebatte derzeit so aus, weil es keine klare Trennung zwischen den historischen Grundlagen einer luxemburgischen Identität und ihrer Fortschreibung in die Zukunft gibt. Auch deshalb können populistische Politiker*innen eine romantisierte Vergangenheit als Vision für die Zukunft anpreisen. In Bezug auf die Mittel und Mechaniken identitärer Politik ähnelt der luxemburgische Populismus damit denen, die derzeit die politischen Diskurse in vielen Ländern Europas und darüber hinaus prägen; Unterschiede zeigen sich dagegen in Bezug auf die spezifischen Themen („Mehrsprachigkeit“) und gesellschaftlichen Strukturen („Multikulturalität“), die ihn zur Entfaltung bringen.
Ausgehend von diesem Befund lässt sich nun weiter nach den sozialpsychologischen Grundlagen fragen, die historische Selbstverankerung und ideologische Selbstvergewisserung bedingen und fördern. Dieser Denkfigur ruht natürlich etwas Spekulatives auf; dennoch, so scheint es, lassen sich beide Formen der Selbstbehauptung auf gewisse Grundmuster gesellschaftlicher Praxis zurückführen, die unsere moderne Lebenswelt prägen. In einem früheren Text (forum Nr. 383) habe ich bereits auf den Zusammenhang zwischen populistischen Strömungen und sozialer Statusangst hingewiesen und diesen als Grundproblem moderner Gesellschaften gedeutet, Orientierung in einer unübersichtlichen Lebenswelt zu schaffen.
In diesem Sinne lassen sich auch die eingangs erwähnten Kernthemen populistischer Rhetorik (vermeintliche Überfremdung, kulturelle Identität, romantisierte Vergangenheit, nationale Abgrenzung) als Ausdrucksformen einer Politik lesen, die einfache Antworten auf komplexe gesellschaftliche Herausforderungen verspricht und damit solchen Menschen ein entlastendes Orientierungsangebot macht, die angesichts der Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeit zunehmend überfordert sind. Einfach gesagt: Populismus verfängt, weil er Menschen Scheinlösungen (z.B. nationale Abgrenzung) für konstruierte Probleme (z.B. vermeintliche Überfremdung) anbietet und so von tatsächlichen Sorgen (z.B. soziale Statusangst) ablenkt, indem er sie auf entlastende Konzepte (z.B. kollektive Identität) überträgt.
Tiefenpsychologie und Politik
Um nun für eine weiterführende Analyse des luxemburgischen Populismus einen geeigneten Rahmen zu finden, bietet es sich an, auf eine Typologie zurückzugreifen, wie sie der Psychoanalytiker Fritz Riemann in seinem bekannten Werk Grundformen der Angst entwickelt hat, um verschiedene Persönlichkeitstypen in ihrer je spezifischen (angstinduzierten) Auseinandersetzung mit der Lebenswelt zu beschreiben.9 Riemann unterscheidet hier zunächst zwischen schizoiden und depressiven Persönlichkeiten, also solchen, die nach Ich-Abgrenzung und Unabhängigkeit streben, und solchen, die Abhängigkeit suchen und damit Ich-Werdung und Selbständigkeit vermeiden. Die zweite Achse der Unterscheidung differenziert demgegenüber zwanghafte und hysterische Persönlichkeiten, nämlich dahingehend, ob sie Veränderung meiden, um Dauer und Sicherheit im Leben herzustellen, oder aber Risiko und Veränderung suchen, um neue Erfahrungen zu machen. Zwar ist die Riemannsche Systematik – die ich hier stark vereinfacht skizziert habe – auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale (und vor allem ihre Pathologie) angelegt, dennoch lässt sie sich für eine sozialpsychologische Hinsicht auf den politischen Diskurs nutzbar machen.
In Bezug auf die Selbstverankerung Luxemburgs in der Historie ließe sich nun im Sinne Riemanns argumentieren, dass sowohl die romantisierende Beschwörung einer hypothetischen Vergangenheit als auch das Präparieren kultureller Zeugnisse für Markt und Tourismus Ausdruck einer depressiven und zwanghaften Grundeinstellung zur Vergangenheit und ihrer Legitimationsfunktion für Konzepte wie Volk und Nation sind, kurz: Man idealisiert die Vergangenheit, um sie als Entlastung für die Gegenwart zu aktivieren. Selbstverankerung in diesem Sinne sucht nach fester Orientierung in einer Vergangenheit, die als geteilte Geschichte einer Gemeinschaft die Grundlage einer kollektiven Identität liefert. In dieser Lesart wären Geschichtsarbeit und Kultur-Vermarktung Mittel zur Selbstverankerung einer kulturellen Identität Luxemburgs durch die Vergangenheit.
Hinsichtlich der ideologischen Rahmung Luxemburgs kann man demgegenüber davon ausgehen, dass sich im Streben nach einem nationalen Narrativ zwischen Nation Branding und ökonomischer Vision Aspekte einer schizoiden und hysterischen Grundeinstellung gegenüber der Zukunft und ihrer Bedeutung für die Selbst- und Fremdwahrnehmung Luxemburgs spiegeln, oder einfacher: Man gestaltet die Zukunft, um sie als Rechtfertigung für die Gegenwart zu benutzen. Selbstvergewisserung in diesem Sinne sucht nach ideologischen Entwürfen in einer Zukunft, die als abgrenzendes Charakteristikum den soziokulturellen Deutungsrahmen einer Gemeinschaft für Eigen- wie Fremdwahrnehmung darstellen. Demzufolge wären Nation Branding und Space Mining Mittel zur Selbstvergewisserung einer kulturellen Identität Luxemburgs durch die Zukunft.
In einem zweiten Anlauf lässt sich damit der luxemburgische Identitätsdiskurs zwischen den Polen Selbstverankerung und Selbstvergewisserung situieren: Dem Wunsch nach Aufhebung in einem fest gefügten Bild nationaler Vergangenheit, das sich als kulturelles Erbe ausstellen lässt, steht der Drang nach Abgrenzung durch ideologische Alleinstellung und visionäre Ideen gegenüber, die sich im Sinne eines Markenbilds für ökonomische Zwecke nutzbar machen lassen. Eine solche Analyse stellt natürlich eine Vereinfachung (und zunächst fragwürdige Übertragung tiefenpsychologischer Konzepte auf gesellschaftliche Praxis) dar; dennoch scheint sie in Bezug auf den aktuellen Diskurs plausibel, weil sie sich in Zukunftsentwürfen und Geschichtsarbeit als Facetten einer mit identitären Motiven aufgeladenen Politik spiegelt.
Die Welt als Sinn, Populismus als Zeug
Damit bleibt noch die Frage nach dem im Titel erwähnten Zeug zu klären. Bislang habe ich vor allem über Inhalte (Themen) und Motive (Selbstbehauptung) populistischer Diskurse gesprochen. Ergänzen möchte ich deshalb die Frage nach den Mitteln einer solchen Politik; deshalb das etwas sperrige Wort Zeug. Dabei handelt es sich um ein Konzept aus der Philosophie Martin Heideggers, der in seinem Hauptwerk Sein und Zeit die Welt als einen Verständnishorizont definiert, also ein Gesamt an Sinnzusammenhängen, die sich im praktischen Vollzug des Lebens aufspannen.10 Welt in diesem Sinne ist also die Summe dessen, was ich als handelndes Selbst in der Auseinandersetzung mit meiner Umgebung an Sinn erfahre. Ein Zeug ist in diesem Kontext als ein Gegenstand zu verstehen, der zu einem bestimmten Zweck dienlich ist, etwa ein Hammer, der seine Bestimmung als Hammer allein im Gebrauch erhält (und nicht etwa durch seine Form), also in der Ausführung bestimmter Tätigkeiten, zu denen er eignet. Einfach gesagt: Ein Hammer hat einen praktischen Sinn, weil man mit ihm Nägel in die Wand schlagen kann. Zeuge sind also Mittel zur Herstellung von Sinn im Gebrauch.
Übertragen auf den politischen Diskurs in Luxemburg lässt sich damit abschließend eine dritte Bestim-mung versuchen, die zwischen den Polen Vergangenheit und Zukunft angesiedelt ist und damit letztlich die Gegenwart meint. In dieser Gegenwart suchen die politischen Akteur*innen, tatkräftig unterstützt von Medien und Social Media, ebenso offensichtlich wie händeringend nach geeigneten Mitteln zur Herstellung von gesellschaftlichem Sinn, indem sie eine sinnstiftende Konstruktion der Vergangenheit (das stolz ausgestellte kulturelle Erbe) und ein sinnfälliges Narrativ der Zukunft (die offensiv vorgetragene ökonomische Vision) politisch instrumentalisieren, um das Hier und Jetzt Luxemburgs zu entlasten. Auf diese Weise ersetzt das Reden über Vergangenheit und Zukunft mehr und mehr eine Thematisierung drängender sozialer Fragen der Gegenwart. Dass der Diskurs damit ziemlich weit von den tatsächlichen Sorgen, Erinnerungen und Wünschen der Bevölkerung entfernt ist, trägt sicher zur derzeit beobachtbaren Entfremdung zwischen Bevölkerung und Politik bei und bereitet damit genau jenen populistischen Strömungen weiteren Boden, die er doch eigentlich gerade eindämmen soll.
Quo vadis Identitätspolitik?
Ob nationale Bekenntnisidentitäten als „Leitkulturen“ im Sinne Fukuyamas geeignete Mittel sein können, um die Herausforderungen zu meistern, mit denen die liberalen Demokratien derzeit konfrontiert sind, scheint fragwürdig. Es wäre nicht das erste Mal, dass Fukuyama in seinen Prognosen fehlgeht: So wie er damals den Siegeszug der Demokratie als Staatsform überschätzt hat, könnte er nun ihre Wehrhaftigkeit unterschätzen.
Richtig ist dennoch, darin stimme ich mit Michel Pauly überein, dass Gemeinschaften verbindende soziokulturelle Narrative brauchen, wenn sie ihren „sozialen Kitt“ erhalten wollen, wie es der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich in einer Rede genannt hat. Den Bedarf an einer solchen großen Erzählung scheint die hiesige Politik jedenfalls erkannt zu haben; davon zeugt eben die Instrumentalisierung von Vergangenheit und Zukunft als diskursives Pflaster für die Wunde Gegenwart.
Wie aber könnte eine solche verbindende Erzählung für Luxemburg aussehen, und wie eine politische Praxis, die sich ihrer annimmt? Zunächst müsste eine solche Politik die Erinnerung an die eigene Vergangenheit wachhalten, ohne sie der Gegenwart als Rollstuhl unterzuschieben, sie müsste die Zukunft im Blick haben, ohne sie der Gegenwart als Tarnkappe überzustülpen. Sodann müsste eine solche – im besten Sinne eigenständige und ersichtliche – Politik im Hier und Jetzt ansetzen, müsste die Sorgen und Nöte der Bevölkerung ernstnehmen, ohne sich in Scheindebatten zu flüchten, sie müsste pragmatische Lösungen für drängende Probleme entwickeln, anstatt Stellvertreterdiskurse vorzuschieben. Darüber hinaus müsste solche Politik verbindliche Bedingungen für gesellschaftliche Partizipation definieren, ohne Zugewanderten eine kulturelle Selbstaufgabe abzuverlangen.
Danach sieht es derzeit nicht aus. Dennoch läge genau hier eine mögliche Keimzelle für eine neue große Erzählung, eine lebendige und gelebte kollektive Identität, die verbindet und trägt. Ein solches Narrativ, das beispielsweise Mehrsprachigkeit als historisch gewachsene, geteilte Basis anerkennt und Multikulturalität als zukunftsweisenden, verbindenden Rahmen setzt, eine Gesellschaft, die diejenigen unterstützt, die Hilfe nötig haben, und denen Solidarität abverlangt, die sie sich leisten können; eine solche pragmatische Identitätspolitik könnte den aktuell beobachtbaren Populismus letztlich überflüssig machen. Man muss hoffen, sich äußern und darum streiten.
1) Im Gegensatz dazu bekannte sich etwa Alexander Gauland von der deutschen AfD in einem Gastbeitrag für die F.A.Z. offen zum Populismus und rechtfertigte ihn als nötiges Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele. Vgl. Gauland, Alexander, „Warum muss es Populismus sein?“ In: F.A.Z. vom 06.10.2018, www.faz.net.
2) Vgl. Fukuyama, Francis, „Gegen Identitätspolitik“. In: Der Spiegel 42/2018, 118–125.
3) Henrik Müller weist in einer Kolumne auf Vergleichbares in der deutschen Migrationsdebatte hin. Vgl. Müller, Henrik, Die große Erregung über das falsche Thema. In: Spiegel Online, 29.07.2018, www.spiegel.de.
4) Interview von Jörg Tschürtz mit Fernand Kartheiser: „Ich bin ein Anhänger von Multikulti, aber…“. In: L’Essentiel vom 05.10.2018, www.lessentiel.lu.
5) Darauf weist Charlotte Wirth bei Reporter in einer Zusammenfassung der luxemburgischen Identitätspolitik in den letzten Jahrzehnten hin. Vgl. Wirth, Charlotte, „Die Debatte, die eigentlich keine ist.“ In: Reporter, 12.10.2018, www.reporter.lu.
6) „Face-à-face“ auf RTL Radio vom 09.10.2018, nachzuhören im RTL Replay, www.rtl.lu.
7) Vgl. hierzu etwa die Ausführungen zur Konstruktion historischer Identität in Groebner, Valentin, Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen, Frankfurt am Main 2018, Kap. 4.
8) Es ist übrigens bezeichnend, dass noch niemandem aufgefallen zu sein scheint, wie einfallslos die neue wirtschaftspolitische Initiative zur Ausbeutung weiterer Himmelskörper daherkommt: Wenn man bedenkt, dass die erste industrielle Welle hierzulande in Bergbau und die zweite in Satellitenfernsehen bestand, braucht es bis zur Zukunftsvision Space Mining nicht mehr allzu viel Phantasie.
9) Vgl. Riemann, Fritz, Grundformen der Angst, 43. Auflage, München 2017. Mittlerweile wurde die Typologie in der Psychologie zwar erweitert, kann aber noch immer als eine der entscheidenden Grundlagen der Persönlichkeitstypologie gelten.
10) Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen 2006.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
