Bildungsziele in Zeiten von Resilienz

Die notwendige Anpassung unseres Denkens und Handelns an die Folgen unseres derzeitigen Konsumverhaltens fordert ein Überdenken der Bildungsziele.

Dieser Beitrag wurde am 29. Juli 2021, am Earth Overshoot Day verfasst, also an dem Tag, an dem der ganze Planet alle Ressourcen verbraucht hat, die ihm für das gesamte Jahr zur Verfügung stehen. Luxemburg hatte seinen nationalen Overshoot Day bereits am 15. Februar erreicht.1

Analyse des Ist-Zustandes

Viele Mitbürger sehen die dramatischen Folgen nicht, die unser Ressourcenverbrauch weltweit mit sich bringt, oder sie interessieren sich nicht dafür. Vielleicht liegt es zum Teil daran, dass unserem Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell ein stetes Wachstum des Einzelbesitzes zu Grunde liegt. Das führt dann zu Auswüchsen wie dem Weltraumtourismus der Superreichen. Aber auch Otto Normalverbraucher möchte sich immer mehr leisten können. Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem funktioniert nur optimal, wenn jeder von uns maximal verbraucht. Es hat uns zu Egoisten gemacht, die nur auf ihr eigenes Wohl bedacht sind.

Wohin diese Entwicklung führt, vor der schon 1972 der Club of Rome in seinem Bericht Die Grenzen des Wachstums warnte, sehen wir immer deutlicher an den Folgen des Klimawandels.2 Die rezenten Unwetterkatastrophen, die sich vor unserer Haustür und an vielen Orten weltweit abgespielt haben, veranlassen auch die skeptischsten Meteorologen dazu, sich einzugestehen, dass der Klimawandel Realität ist. In seinem neuen Bericht mahnt der Weltklimarat zum sofortigen Handeln.3 Gefährlich ist, dass es immer wieder bestimmte Gruppen von Menschen gibt, die den wissenschaftlichen Erkenntnissen keinen Glauben schenken und den Klimawandel als eine natürliche Entwicklung ansehen, auf die die menschlichen Aktivitäten keinen Einfluss haben. Zurzeit erleben wir ein ähnliches Phänomen in Bezug auf die Coronakrise. Auch hier gibt es Leute, die lieber abstrusen Verschwörungstheorien aus dem Internet glauben, als die wissenschaftlichen Erkenntnisse wahrzunehmen. 

Erklärungsversuch

Man könnte glauben, dass die Ursache solchen Denkens und Handelns bei vielen Leuten das Fehlen des nötigen Wissens sei. Das stimmt nur zum Teil. Alle Verhaltenswissenschaftler sind sich einig, dass Wissen allein nicht unser Verhalten bestimmt.

Im Laufe der Evolution hat der Mensch gelernt, dass im struggle for life persönliche Vorteile sein Überleben sichern. Das ist auch heute noch tief in uns verankert und geradezu im Einklang mit dem egoistischen Konsumverhalten unserer Gesellschaft. Die ersten Menschen erkannten und entdeckten oft durch Zufall immer neue Zusammenhänge. Heutzutage bekommen wir alles fertig zu kaufen und machen uns über das Entstehen eines Produkts keine Gedanken mehr. Das führt dazu, dass wir verlernen, Ursachen und deren Wirkung zu erkennen und zu hinterfragen. Uns kümmert nicht, wie das Produkt, das wir konsumieren, hergestellt wurde, und schon gar nicht, was mit dem dadurch verursachten Müll geschieht. Es ist eine große Leistung unseres Gehirns, logisch linear zu denken, das heißt den richtigen Zusammenhang herzustellen zwischen einer Ursache und deren Auswirkung. Das muss gelernt und geübt werden.

Die komplexen Zusammenhänge in der Natur zeigen uns, dass eine bestimmte Ursache auch mehrere Folgen haben kann und vor allem, dass ein bestimmtes Phänomen oft durch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren entsteht. Der Klimawandel ist ein aktuelles Beispiel. Die Ökologie lehrt uns, dass die Natur in Systemen aufgebaut ist, das heißt vieles miteinander verzahnt ist und selbst die kleinste Änderung eines Elementes eines Systems das ganze System verändern kann.

Systemisches Denken ist uns nicht angeboren. Für unsere Vorfahren war es auch nicht überlebenswichtig. Für unsere Nachkommen aber wird es das sein. Hinzu kommt, dass das Verhalten der Systeme nicht immer klar ersichtlich ist. So kann der Klimawandel zu vermehrten Überschwemmungen, aber auch zu verheerenden Dürreperioden oder zum Auftauen des Permafrosts führen, dessen Konsequenzen wir heute kaum absehen können. Die Zukunft wird uns also vermehrt Unsicherheiten bescheren. Emotional mit Unsicherheiten umzugehen, ist uns ebenfalls nicht in die Wiege gelegt. Da neigen wir schnell dazu, die Wirklichkeit zu verdrängen oder sogenannten Querdenkern nachzulaufen.

Notwendige Anpassung unseres Verhaltens 

Resilienz ist die „Fähigkeit eines Systems Störungen zu absorbieren und sich in Phasen der Veränderung so neu zu orientieren, dass wesentliche Strukturen und Funktionen erhalten bleiben.“4 Angewandt auf unsere Gesellschaft kann man Resilienz als Prozess definieren, bei dem Personen auf Herausforderungen und Veränderungen mit Anpassung ihres Verhaltens reagieren. Einerseits gilt es, unser Handeln an den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung zu orientieren5, andererseits unser Verhalten an die Veränderungen, die jetzt schon zu spüren sind und sich in Zukunft noch verstärken werden, anzupassen.

Die Erfolgsgeschichte der Menschheit ist nicht nur darauf begründet, dass sie gelernt hat, Ursachen und Wirkung zu erkennen und so Gelerntes zu wiederholen und zu nutzen. Sie ist auch dadurch gelungen, dass die Menschen sich untereinander verständigten, Erfahrungen austauschten und in Gruppen gemeinsame Interessen verfolgten.6 Das passt nicht so recht zu unserer von Individualismus geprägten Gesellschaft, ist aber für die Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft unerlässlich. Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, Freude am gemeinsamen Gelingen müssen den weitverbreiteten Egoismus, die Gier des Einzelnen, ersetzen. Der einzelne Mensch muss sich nicht nur als Individuum fühlen, dessen einziges Ziel sein eigenes Wohlergehen ist, sondern als ein Teil einer Gesellschaft, also quasi als Element eines größeren Systems. Dabei genügt es in unserer Welt nicht, sich auf das nahe Umfeld zu beschränken, sondern sich als Teil des globalen Systems zu verstehen. Global denken und lokal handeln will in diesem Zusammenhang sagen, dass man sich der Konsequenzen unseres Verhaltens und Handeln nicht nur bei uns selbst, sondern gegebenenfalls auch der Auswirkung dessen in fernen Ländern bewusst sein muss.

Einer derartigen Transition hin zu einem nachhaltigen Denken und Verhalten muss eine Werteskala zugrunde liegen, auf die sich die Gesellschaft einigt. Werte wie Respekt, Altruismus, aber auch Engagement für das Gemeinwohl gehören dazu. Um nachhaltiges Denken und Verhalten der kommenden Generation zu vermitteln, sollten die Bildungsziele überdacht werden.7

Nachhaltige Bildungsziele

Die Begriffe Bildung und Bildungsziele werden unterschiedlich definiert. Klafki spricht von „Bildung als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung“.8 Das übergeordnete Ziel von Bildung soll sein, die jungen Menschen fit zu machen für die Zukunft. Bildungsziele legen fest, was Bildung bei den einzelnen Schülern erreichen soll. 

Ohne auf die berufsspezifischen Bildungs- oder Ausbildungsziele einzugehen, kann man feststellen, dass auch hier der Wandel begonnen hat. Schule und Wirtschaft überlegen sich, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten in Zukunft gebraucht werden. Informatik hat in fast allen Bereichen Einzug gehalten, selbst in den meisten manuellen Berufen. In Zukunft wird es immer häufiger der Fall sein, dass ein bestimmter Mensch nicht sein Leben lang den gleichen Beruf ausübt. Das bedeutet, dass zusätzlich zu den eigentlichen Ausbildungszielen auch die Entwicklung von Eigenschaften wie Flexibilität und Teamfähigkeit zur beruflichen Ausbildung gehören. 

Schule bereitet die Jugendlichen nicht nur auf Berufe vor, sondern hat vor allem die Aufgabe, aus ihnen mündige Bürger zu machen, die nicht nur fähig sind, in der Zukunft zu leben, sondern sie aktiv mitzugestalten. Daher sollten sich die für die Lehrpläne Verantwortlichen fragen, inwiefern die Lernziele der einzelnen Fächer den Anforderungen der Zukunft entsprechen.

In unserer multikulturellen Gesellschaft ist der Sprachenunterricht vor große Herausforderungen gestellt. Sein Ziel soll es vor allem sein, die Kommunikation unter den Menschen zu ermöglichen. Eine wesentliche Aufgabe der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) besteht darin, den Schülern logisches Denken, also den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung zu vermitteln. Sowohl der Klimawandel als auch die Pandemie haben gezeigt, wie wichtig ein kritischer Umgang mit den sozialen Medien ist. Unter anderem der Informatikunterricht (aber nicht nur er) kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Statistiken und Prognosen richtig lesen zu können, gehört genauso in den Mathematikunterricht wie das Erlernen systemischen Denkens. Neben dem Vermitteln von nötigem Basiswissen, zu dem auch Produktionsprozesse unserer Konsumgüter sowie die Stoffkreisläufe gehören, sollen die Naturwissenschaften den Schülern den direkten Kontakt mit der Natur ermöglichen. Sie sollen im Idealfall lernen, die Natur zu bestaunen, Neues zu entdecken, sich an den Schönheiten der Natur zu erfreuen. Das gehört genauso zum Biologieunterricht wie die reine Wissensvermittlung. Ökosysteme eignen sich besonders gut zum generellen Verstehen der Funktionsweise von Systemen.

In allen MINT-Fächern sollte das Erlernen und Üben von systemischem Denken eine zentrale Rolle spielen. So können zum Beispiel die Auswirkungen unseres Konsumverhaltens und unseres Ressourcenverbrauchs auf das Klima, auf die Natur, aber auch auf die Lebensbedingungen von Menschen in fernen Ländern thematisiert werden. Systemisches Denken lernen ist aber nicht nur auf die MINT-Fächer beschränkt, sondern sollte sich als fächerübergreifend verstehen. 

Wenn Resilienz gelingen soll, darf Bildung sich nicht auf reine Wissensvermittlung oder das Trainieren von logischem und systemischem Denken beschränken.9 

Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, Freude am gemeinsamen Gelingen müssen den Egoismus des Einzelnen ersetzen. Er sollte lernen, sich nicht nur als Individuum zu fühlen, sondern als ein Teil der Gesellschaft, also quasi als Element eines größeren Systems. In den Großfamilien unserer Vorfahren lernten die Kinder noch in einer Gemeinschaft zu leben. Heute muss diesen Aspekt die Schule übernehmen. Gruppenarbeiten und interdisziplinäre Projekte sind besonders gut geeignet, um diesen Zielen näher zu kommen. Dabei lernt der Schüler gleichzeitig sich zu engagieren, aber auch seine eigenen Wünsche etwas zurückzustellen und Genügsamkeit, also Suffizienz zu üben. Zur Resilienz gehört ebenfalls der Umgang mit Unsicherheiten. Auch hierzu können viele Fächer etwas beitragen. Der Kunstunterricht kann den Schülern die Möglichkeit bieten, ihre Ängste, Wünsche und Träume künstlerisch auszudrücken und zu verarbeiten. Unsicherheiten bezüglich der Zukunft verkraften, heißt auch, das zu schätzen, was man in der Gegenwart hat, sich an dem Schönen zu erfreuen und selbst Schönes zu schaffen.

Diese nachhaltigen Bildungsziele entwickeln beim jungen Menschen Kompetenzen, die ihm erlauben werden, mit den Veränderungen seiner Umwelt im weitesten Sinne fertig zu werden. Der Erwerb dieser Kompetenzen ist nicht an bestimmte Jahrgangsstufen gebunden, sondern sollte spiralförmig von der Vorschule bis zur Berufsausbildung oder Universität kontinuierlich aufgebaut werden. Wenn dann auch noch die Eltern an diesem Prozess mitwirken, werden die jungen Leute fit für ihre unsichere Zukunft sein.  

  1. https://www.overshootday.org/newsroom/country-overshoot-days (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 9. August 2021 aufgerufen).
  2. https://www.clubofrome.org/about-us 
  3. https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg1 
  4. Lexikon der Nachhaltigkeit:
    https://www.nachhaltigkeit.info 
  5. https://sdgs.un.org/goals 
  6. Yuval Noah Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, München, Pantheon Verlag, 2015.
  7. https://csdd.public.lu/content/dam/csdd/fr/scenarios/szenario_2030_zusammenfassung.html 
  8. Wolfgang Klafki, Eine Didaktik für das 21. Jahrhundert, Weinheim, Beltz, 2007, S. 19-25.
  9. 31 Vorschläge für eine Politik der Resilienz, in: forum 396 (Juni 2020), S. 70-73.

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