Am 8. Februar 2021 beschrieb das Luxemburger Wort im Artikel „Die Stadt von morgen mitgestalten“ die Visionen des neu geschaffenen Immobilienunternehmens Nhood, welches sich in Zukunft bei der Planung und Realisierung von neuen, nachhaltigen Vierteln einbringen will, gar zu „Betreuern“ von ganzen Vierteln werden möchte. Dieser Artikel veranlasste die Aménageurs et Urbanistes du Luxembourg (AULa) zu einer Stellungnahme, die das Wort am 17. Februar veröffentlicht hat und die wir hier nachdrucken. Da uns die Intervention der AULa von nicht zu unterschätzender Bedeutung erscheint, haben wir ihrem Präsidenten Lex Faber (urbaniste-aménageur) und ihrem Vorstandsmitglied Christine Muller (architecte-urbaniste) noch ein paar Fragen gestellt.

Laut Nhood müssen Städte intelligenter, nachhaltiger und lebenswerter werden. Es muss in Zukunft anders gebaut werden: weg vom ressourcenintensiven Bauen und hin zum „regenerativen“ Bauen. Diesen Zielen kann man sich als Stadt- und Raumplaner nur anschließen. Allerdings kommen Zweifel auf, wenn das Einkaufszentrum Cloche d’Or als Paradebeispiel für die Entwicklung von zukunftsfähigen und gemeinwohlorientierten Standorten angeführt wird und dann ohne Umwege auf die BREEAM-Zertifizierung des Gebäudes und die Schaffung von 1.600 Arbeitsplätzen als Beweis für die Nachhaltigkeit des Quartiers verwiesen wird. 

Die aktuelle Krise der Innenstädte ist Anlass, deren Rolle zu überdenken und sie über die rein kommerzielle Funktion hinaus wieder zu sozialen und kulturellen Zentren der Stadtgesellschaft zu machen. Einkaufszentren stehen nicht für die Zukunft der Städte, sondern für ihre Vergangenheit. Es zeugt von einer gewissen Ironie, dass Akteure welche mit der Ansiedlung von großflächigen Einzelhandelszentren im Stadt-Umland die Krise der Innenstädte mit verursacht haben, nun als Retter der Urbanität in den Städten auftreten wollen.

Für uns ist das Quartier Cloche d’Or, im kompletten Gegenteil zu den Behauptungen des Artikels, das perfekte Gegenbeispiel zu einem modernen, nachhaltigen Stadtteil und zeigt, dass die Zertifizierung nach internationalen Standards eben doch im Zweifelsfall zu banalem Investoren-Städtebau führt. Es stimmt, der große Park ist noch nicht fertiggestellt und die Tram ist noch nicht da. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass die Körnigkeit des Stadtgefüges das Hauptproblem dieses Viertels darstellt. Die Gestaltung des öffentlichen Raumes orientiert sich an der Maximierung des Verkehrsflusses und bietet keinerlei Aufenthaltsqualität. Selbst wenn es architektonisch einige interessante Objekte gibt, kann von „Stadt“ hier keine Rede sein. „Stadt“ entsteht nicht durch die Summierung von aneinandergereihten, klotzigen Hochpunkten und Solitären, sondern durch das Zusammenspiel von Gebäuden, Funktionen, öffentlichen Räumen und der Aneignung durch die Bewohner, Besucher und sonstigen Nutzer. 

Mit einer Grundfläche von ca. 2,9 ha entspricht der Footprint des Einkaufszentrums Cloche d’Or der Grundfläche des Areals auf dem Plateau Bourbon zwischen Place de Metz, Avenue de la Liberté, Boulevard de la Pétrusse und Rue Dicks. Im Gegensatz zum Areal auf dem Plateau Bourbon, bietet das Areal des centre commercial Cloche d’Or aus der Sicht der Passanten keinerlei Raumsequenzen, keine Durchquerungsmöglichkeiten, keine Fassadenvielfalt und keine Aufenthaltsqualität. Es handelt sich um eine perfekte Innenwelt, die bei Bedarf hermetisch nach außen abgeriegelt werden kann und deren Zugänglichkeit ad libitum geregelt wird. Um „einmal um den Block zu gehen“, braucht ein Fußgänger mindestens 10 Minuten, die angesichts der unbelebten Erdgeschosse und der Abwesenheit von Blickverbindungen eher Langeweile als Wohlsein erzeugen. Entlang des Boulevard Raiffeisen wird durch die ungeschützte Exposition zwischen monotoner Fassade und 35 Meter breitem Verkehrsstrang noch mehr Unbehagen beim Fußgänger erzeugt.

Das Quartier Cloche d’Or kann nicht als Vorlage für die Entwicklung von zukunftsfähigen und gemeinwohlorientierten Standorten dienen. Sollte dies der Fall sein, muss davon ausgegangen werden, dass die zukünftigen „nachhaltigen“ Quartiere großräumige, private Enklaven sein werden, in denen Sicherheit und Ordnung genauso in den Nebenkosten einbegriffen sein werden wie der Unterhalt des Aufzuges und die Pflege der Außenanlagen. Eine Grundlage für die Entstehung von Vielfalt, Inklusion und Lebendigkeit ist das nicht.

Die Leitbilder unserer Zeit sind die échelle humaine und die 15-Minuten-Stadt. Das Quartier Cloche d’Or, und vor allem ihr Leuchtturm-Einkaufszentrum, stehen für das Gegenteil. 

forum: Was hat Sie veranlasst, diesen Leserbrief zu schreiben?

Christine Muller: Die Mitglieder der AULa haben sich seit der Gründung der Vereinigung im Jahr 2005 regelmäßig ausgetauscht und einzelne Aktionen initiiert. Allerdings muss ich gestehen, dass das Ziel der AULa, eine kontinuierliche Debatte über Stadtentwicklung, räumliche Entwicklung und die daraus resultierenden sozio-ökonomische Realitäten zu führen, nicht ganz erreicht wurde. Das hat zunächst mit der enormen Arbeitslast der Büros zu tun und den nach wie vor hohen beruflichen Herausforderungen. Aber als Lex Faber und ich vorschlugen, eine Stellungnahme zu dieser publi-reportage zu schreiben, haben alle Mitglieder uns unter dem Motto „enough is enough“ dazu ermutigt. Dazu muss auch gesagt werden, dass der Leserbrief von allen Mitgliedern des Verwaltungsrates vorab gelesen, kommentiert und frei gegeben wurde.

Lex Faber: In Luxemburg ist die öffentlichen Debatte in Bezug auf Stadtentwicklung und Planung tatsächlich ziemlich überschaubar. Es ist schwer zu verstehen, wie Eigenwerbung von Unternehmen quasi unkommentiert als redaktioneller Inhalt in einer Tageszeitung abgedruckt werden kann. Als AULa wollen wir einen Beitrag dazu leisten, einen gesellschaftlichen Diskurs zur Entwicklung von Stadt und Raum zu führen. Daher haben wir gemeinsam diesen Leserbrief verfasst, der für diese einseitige Darstellung einen fachlichen Kontext liefert. Wir haben übrigens unglaublich viele positive Rückmeldungen von ganz unterschiedlichen Akteuren erhalten. Dies bestärkt uns darin, auch in Zukunft stärker für urbanistische Themen einzustehen. Es zeigt auch, dass viele Menschen ein großes Interesse daran haben, konstruktiv und kontrovers zu diskutieren.

Was kann man denn aus der Entwicklung von Quartieren wie der Cloche d’Or für die Zukunft lernen?

C. M.: Das neue Quartier Cloche d’Or umfasst zusammen mit dem bestehenden Gewerbegebiet Cloche d’Or, dem échangeur de Gasperich und dem Gewerbegebiet ZAC Howald eine Fläche von ca. 210 Hektar. Das entspricht dem ganzen Bahnhofsviertel und Teilen von Belair, Hollerich und Bonneweg. Als Stadtplaner muss man sich fragen, ob es gesund ist, Areale dieser Größe sich quasi selbst zu überlassen, oder ob es nicht angebracht wäre, zunächst eine öffentliche Debatte über eine solche Stadterweiterung bzw. einen solchen Stadtumbau zu führen.

L. F.: Es geht uns bestimmt nicht darum, ein einzelnes Projekt anzuprangern oder schlecht zu reden. Vielmehr geht es darum, aus dieser Erfahrung zu lernen und auf die Herausforderungen der Zukunft „besser“ zu reagieren. Dabei ist es offensichtlich, dass unterschiedliche Beteiligte oder Beobachter auch jeweils eine eigene Sicht auf die Dinge haben. Gerade den Austausch zwischen diesen verschiedenen Blickwinkel wollen wir an die Öffentlichkeit bringen.

Was ist der Beitrag des Einzelhandels für die „Stadt der Zukunft“?

C. M.: Zunächst mal geht es um die physische und psychische Gesundheit der Stadtbewohner. Wenn ich in meinem direkten Umfeld meinen täglichen Bedarf decken kann, zu Fuß oder mit dem Fahrrad, aktiviere ich meinen ganzen Organismus, und meine Erlebnisdichte ist um einiges höher als wenn ich ein car-based life führe. Ich messe mein persönliches Glück an der Intensität meiner täglichen Bewegung und an den Gelegenheiten, jemanden zu grüßen, ein nettes Gespräch zu führen, oder jemanden in eine Diskussion zu verwickeln. Damit bin ich nicht allein. Ich denke, das ist ein ganz natürliches Bedürfnis, und die Pandemie zeigt, wie zerstörerisch die Abwesenheit solcher Gelegenheiten ist. 

L. F.: Die Revitalisierung der Innenstädte bleibt eines der wichtigsten stadtplanerischen Themen für die Zeit nach der Pandemie. Die Bedeutung des Handels bei der Planung von neuen Quartieren nimmt ab, und wir brauchen integrierte Ansätze, um lebenswerte und belebte Quartierszentren zu entwickeln. Dies wurde bereits von vielen Akteuren erkannt und in einigen Projekten reflektiert, die zurzeit in Planung sind. Konzepte wie die 15-Minuten-­Stadt drücken aus, was uns als Planern schon lange am Herzen liegt: funktionale Mischung, proximité und attraktive, fußgänger- und fahrradfreundliche öffentliche Räume. Was noch fehlt, ist eine Diskussion auf regionaler und nationaler Ebene: Wie wollen wir, dass sich unsere Zentren entwickeln? Bedarf es dafür nicht auch eines Diskurses und auch einer Steuerung auf nationaler Ebene?

Wie sehen Sie die Rolle von Stadtplaner*innen bei der Schaffung von neuen Quartieren?

C. M.: Ich übe diesen Beruf jetzt seit 35 Jahren aus. Die luttes urbaines der 1970er und 80er Jahre in Brüssel haben mich geprägt, und ich stelle mit Erstaunen fest, dass die Mechanismen noch immer dieselben sind: entgegengesetzte Interesse prallen mit ziemlicher Brutalität aufeinander. Der Schock hinterlässt ein Trauma, an dem dann rumtherapiert wird; damit geht kostbare Zeit und Energie für die Sache an sich verloren.

L. F.: Als Stadtplaner beschäftigen wir uns vor allem mit dem Gemeinwohl und dem Zusammenleben in den neuen Quartieren. Das ist ein kreativer Beruf, welcher allerdings auf Methodik und Prozessen beruht. Durch die Abwägung sektoraler Interessen und der Positionen beteiligter Akteure schaffen wir Konzepte, die nicht nur kurzzeitige Kompromisse widerspiegeln, sondern robuste Quartiere für die Zukunft. Unsere Rolle ist daher jene eines kreativen Moderators, welcher auf Grundlage städte­baulicher Qualitäten und der Vielfalt an Ansprüchen ein Gesamtkonzept schafft.

Was sind die Ziele der Vereinigung AULa?

C. M.: Raum-und Stadtplaner haben es in Luxemburg schwer. Das hat historische Gründe. In einer Festungsstadt haben die Belange der Sicherheit und der Logistik oberste Priorität. Das Militär trägt die Verantwortung für das Überleben der Bevölkerung im Falle einer Attacke. Es ist demnach ziemlich logisch, dass soziologische, ästhetische und umweltrelevante Aspekte immer wieder an den Rand gedrückt werden. Wir haben uns zusammengeschlossen, um nicht länger unsichtbar zu sein.

L. F.: Ich sehe die AULa vor diesem Hintergrund als Zusammenschluss von Gleichgesinnten aus dem Bereich der Stadt- und Raumentwicklung. Ziel ist es nicht, unsere Interessen als Berufsgruppe zu vertreten, sondern gemeinsam an den Herausforderungen von Stadt und Raum zu arbeiten, zu diskutieren und sich auszutauschen. Den eingangs angesprochen öffentlichen Diskurs zu stadtpolitischen Themen wollen wir fördern und um eine fachliche Stimme erweitern. In den kommenden Monaten wollen wir verstärkt in der Öffentlichkeit auftreten und den Diskurs zum Thema des Gemeinwohls in Stadt- und Raumentwicklung anregen.

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