„Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Partizipation ist deutlich beschnitten worden“

Interview mit Charel Schmit, seit Januar 2021 Ombudsmann für Kinder und Jugendliche (OKaJu), über die Wahrung der Kinderrechte in der Pandemie

Wir befinden uns seit einem Jahr in der SARS-CoV-2-Pandemie. Im Rückblick lassen sich vier große Zeiträume identifizieren: der erste umfassende Lockdown, anschließend eine Zeit der Lockerungen bis in den Herbst hinein, gefolgt von einer Phase erster Einschränkungen besonders in der Gastronomie ab November sowie dem vierten Zeitraum über den Winter, der mit deutlich stärkeren Einschränkungen und Schließungen zum Beispiel im formalen und non-formalen Bildungssektor verbunden war. Diese Zeit hat die ganze Gesellschaft geprägt. Aber wenn wir sie bezogen auf Kinder und Jugendliche Revue passieren lassen, zu welchem Zeitpunkt waren die Rechte von Kindern und Jugendlichen am meisten berührt?

Charel Schmit: Die Rechte von Kindern und Jugendlichen waren sicherlich in allen vier Phasen berührt. In allen Phasen der Pandemie ging es beispielsweise darum, Bewegungs- und Freiheitsrechte einzuschränken. Das hat unmittelbar Auswirkungen auf weitere Bereiche: Kinder und Jugendliche wollen ihre Umwelt und ihr soziales Umfeld entdecken. Mit Freunden zusammen zu sein, ist ja mehr als nur Zeitvertreib. Gemeinschaft ist notwendig für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit und der seelischen Gesundheit: Kinder und Jugendliche können so von Belastungen im Alltag abschalten, Druck abbauen, Selbstwirksamkeit erleben und sich entfalten. Face-to-face-Kontakte sind dabei unersetzlich. Sie können nur bedingt durch Videokonferenzen oder Kommunikation in sozialen Medien wettgemacht werden. Dazu gehört auch Schritt für Schritt ein Bewusstsein für Freiheiten zu entwickeln. Damit Kinder mit Freiheiten umgehen können, müssen sie sie nutzen und austesten können. Das ist seit Beginn der Pandemie nur sehr eingeschränkt möglich.

Aber nicht alle Auswirkungen der Einschränkungen sind negativ zu sehen. Das Recht der Kinder auf Familie und Zeit mit ihren Eltern ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Die Anfangszeit des Lockdowns war noch mit einem Aufatmen verbunden. Mit viel quality time, von der immer die Rede ist, von der man eigentlich gar nicht weiß, was sie bedeutet. Bis man das Frühjahr erlebt, die Vögel zwitschern hört und nicht irgendwo hin hetzen muss. Die Kinder haben es wirklich genossen, mehr Zeit mit ihren Eltern zu verbringen. Das bestätigen auch die Ergebnisse der COVID-KIDS-Studie. Diese Zeit hat den Eltern-Kind-Beziehungen sehr gutgetan.

Die Schließung von Bildungseinrichtungen und die Umstellung auf Homeschooling hat die Rechte der Kinder ebenfalls stark berührt.

Auf jeden Fall. Von jetzt auf gleich hat der Staat Schulen und Maisons Relais schließen müssen. Wer war schon auf Homeschooling und Videounterricht vorbereitet? Der Start war holprig, die Konzepte unausgegoren.

Die Kinder hatten in dieser Situation sehr ungleiche Ausgangschancen. Einige Eltern waren viel besser aufgestellt als andere, um den Kindern bei der häuslichen Bewältigung des Schulstoffes zu helfen. Die Stoffmenge war nicht unerheblich. Auch das hat die Studie COVID-KIDS bestätigt. Die Lehrer haben ihre Schüler in der Anfangsphase mit dem Pensum überfordert, bis sich die Situation irgendwann eingependelt hat. Einige Schüler haben aber bei den vielen Aufgaben den Anschluss verloren, manche wurden während des ersten Lockdowns überhaupt nicht erreicht.

Besonders Kinder aus sozioökonomisch schwachen oder bildungsfernen Familien hatten dadurch einen schlechten Start in diese Zeit. Familien ohne Breitbandanschluss ans Internet waren ziemlich aufgeschmissen. Die Zahl der digitalen Endgeräte beschränkt sich in manchen Haushalten auf das Smartphone der Eltern. Und wie geht das, wenn man vier Kinder im Homeschooling, aber nur zwei Smartphones zur Verfügung hat?

Da ist eine akute Krise auf ein grundsätzliches Problem des Systems getroffen: Bildungsabschlüsse sind in Luxemburg viel zu sehr abhängig vom familiären Hintergrund. Der Bildungsbericht von 2018 beschreibt das sehr eindrücklich. Die Unterschiede zwischen Kindern mit verschiedenen Ausgangsbedingungen haben sich besonders in dieser ersten Zeit der Pandemie nochmals deutlich verstärkt. Gleichzeitig kann ich aber auch anerkennen, dass hier eine Phase der kollektiven Mobilisierung stattgefunden hat. Eine Zeit der Erkenntnis, dass sich eine Gesellschaft angesichts einer bestimmten Bedrohung sehr schnell umstellen kann. Seit Jahrzehnten sprechen wir über Bildungsreformen, verhandeln zwischen Gewerkschaften und Ministerium, um Kleinigkeiten im Bildungswesen verändern zu können.

Und dann haben wir es angesichts der kollektiven Bedrohung geschafft, den gesamten Schulbetrieb auf vielen Ebenen umzustellen: Gemeinden, die sich um den Umbau der Klassenräume sowie die Kennzeichnung von Wegen und Zugangsbereichen der Schulgebäude kümmern mussten. Direktionen, die entsprechende Schulpläne ausarbeiten mussten, bis hin zum Ministerium, das ausreichend Personal rekrutieren musste. Es ist sicherlich als eine extrem positive Erfahrung zu nennen, dass unsere Gesellschaft, wenn es sein muss, sehr schnell und flexibel Prioritäten und Systeme ändern kann.

Wie beurteilen Sie im Hinblick auf die Rechte von Kindern und Jugendlichen die zweite Phase der Pandemie, die von Lockerungen und wiedergewonnenen Freiheiten geprägt war?

Der Sommer war eine Art Auszeit, eine Zeit der Erholung, des Verdrängens, aber auch der Ungewissheit. Es dürfte die Zeit gewesen sein, in der die Kinder- und Jugendrechte am wenigsten gelitten haben. Die geplanten Urlaubs- und Familienzeiten haben zu einer zwischenzeitlichen Normalität geführt.

Ich denke aber auch an Kinder, die in Trennungs- oder Scheidungsverhältnissen aufwachsen und die aufgrund von COVID-19 auf Urlaub mit dem Vater oder der Mutter verzichten mussten. Das war für die Beziehung dieser Elternteile und ihrer Kinder abträglich. Bezogen auf das Umgangsrecht mit beiden Elternteilen gab es also auch Momente, in denen eingespielte Gewohnheiten auf Kosten der Kinder verloren gegangen sind. Grundsätzlich war der Sommer aber eine Zeit, in der viel mehr möglich war als in den übrigen bisherigen Phasen der Pandemie.

Zum Beispiel im Herbst, als die Infektionszahlen sprungartig in die Höhe geschnellt sind?

Ja, im Herbst haben viele Menschen sich vorgemacht, dass eine Art Normalität eingekehrt sei. Bis es schließlich zu den Hiobsbotschaften kam, dass die Infektionszahlen steigen, sich neue Varianten entwickelt haben und dass es bei den Impfstofflieferungen zu Verzögerungen kommen wird. Damit ist auch die Hoffnung verblasst, dass der Ausnahmezustand bald vorbei ist.

Dass man Weihnachten oder Silvester einmal anders feiert als sonst, ist verkraftbar, es ist nicht im Bereich des Unzumutbaren. Das Problem für Kinder und Jugendliche sind nicht die vereinzelten, punktuellen Einschränkungen. Es geht mehr um langfristige Einschnitte, die ihnen in den letzten zwölf Monaten zu schaffen gemacht haben.

Die Kinderrechtskonvention benennt auch das Recht auf Freizeit, Erholung und Kultur. Unter Freizeit fällt zum Beispiel auch der Vereinssport, der jetzt schon sehr lange eingeschränkt ist. Das ist tatsächlich auch ein Kinderrecht, das ganz stark unter der Situation gelitten hat. Viele Angebote wurden geschlossen, weil sie mit der Schule gleichgeschaltet sind. Wenn die Schule schließt, fällt auch die LASEP oder das Musikkonservatorium aus. Auch die Sportvereine hatten und haben lange Phasen, während denen sie nicht arbeiten können.

Das macht sehr viel aus, weil das Gelegenheiten sind, in denen Kinder sich anders erleben können und nicht nur auf ihre Rolle als Schüler reduziert werden. Wir müssen das Kind ja in all seinen Dimensionen sehen, mit seinen Bedürfnissen und seinen altersspezifischen Entwicklungsaufgaben.

Gibt es bezogen auf die Kinderrechte einen Punkt, den Sie über den ganzen Zeitraum gesehen besonders kritisch betrachten?

Man muss sagen, dass es für die Kinder und Jugendlichen wirklich eine ganz große Einschränkung darstellt, dass Gelegenheiten zur Partizipation nicht stattfinden konnten. Eines der tragenden Elemente, das Hauptprinzip, der Grundgedanke der Kinderrechtskonvention ist die Partizipation. Die Beteiligung an wichtigen Entscheidungen, das Hineinwachsen und das Übernehmen einer verantwortungsvollen Rolle in der und für die Gesellschaft. In Sachen Partizipation erleben wir wohl eine „Rolle Rückwärts“, der wir entgegenwirken müssen.

Das beginnt damit, dass die Kinder sich nicht mehr in ihrem Klassenverbund befinden. Klassensprecher können ihre Rolle nicht mehr übernehmen, Schülerkomitees funktionieren nicht oder nur schlecht, Schulfeste, Schulinitiativen, Schulprojekte… Partizipation in der Schule und all die transversalen Themen, die damit zusammenhängen – die den schönsten Teil der Schule ausmachen –, haben im vergangenen Jahr sehr gelitten.

Aus kinderrechtlicher Perspektive ist es sehr wichtig, dass die Möglichkeit zur Beteiligung im Alltag erlebbar ist. Wenn man Partizipation allerdings nicht zuhause in der Familie erfahren kann, dann zumindest in der Schule und in der Maison Relais. In beiden Bildungseinrichtungen werden Partizipation, Gerechtigkeit und gesellschaftliche Solidarität nicht nur vermittelt, sondern gelebt.

Ein Recht, das besonders in Frage gestellt wurde und wird, ist das Recht auf gesundheitliche Entwicklung, das vielfach undifferenziert eingeschränkt wurde. Zum Beispiel war Fußball zu viert möglich, aber Tennis nicht. Sport fördert die körperliche und geistige Immunität. Besonders in den kommenden Monaten muss die Gewichtung neu ausbalanciert werden.

Was heißt das dann, wenn formale und non-formale Bildung über längere Zeiträume geschlossen sind?

Auch wenn man partizipative Webinare, Teams-Sitzungen, Breakout-Groups und Padlets machen kann – all das ist interessant, ersetzt aber nie die analogen Momente der Partizipation, der Rebellion, des sich Organisierens in der Klasse, des sich Mobilisierens für einen anderen Stundenplan, für eine Veränderung im Schulgebäude, für eine Verbesserung im Schulhof und einen anderen Umgang miteinander.

All diese Sachen sind nun schon seit anderthalb Schuljahren auf der Strecke geblieben. Gerade in den Maison Relais, in denen die Ideen der Partizipation, der freien Entwicklung ganz großgeschrieben werden, haben die veränderten Rahmenbedingungen die Möglichkeiten dazu stark zurückgefahren. Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Partizipation ist dadurch deutlich beschnitten worden.

Und wenn wir an das Recht auf Bildung denken, da dürfen wir auch die Langzeitperspektive nicht aus dem Blick verlieren, vor allem im Hinblick auf Bildungsungleichheiten, die sich in den vergangenen zwölf Monaten zusätzlich verstärkt haben. Ich denke dabei zum Beispiel auch an diejenigen Jugendlichen, die im vergangenen Jahr keine Lehrstellen finden konnten, weil Betriebe (z. B. im Horesca-Bereich) schließen oder auf Kurzarbeit umstellen mussten. Diese Situation ist ja auch heute noch nicht behoben.

Momentan merken wir, dass es vielen Menschen damit schlecht geht.

Das stimmt. Die Phase, in der wir uns derzeit befinden, ist bereits jetzt eine sehr aufreibende und zermürbende Zeit. Eine Zeit, in der sich eine gewisse Verdrossenheit in Teilen der Gesellschaft breitmacht. Eine Zeit auch, in der die Politik erneut gefordert ist, innerhalb kürzester Zeit schwierige Entscheidungen zu treffen.

Diese Zeit betrifft auch Menschen, die überängstlich sind. Die sich aufgrund von bestimmten Vorerkrankungen, chronischen Krankheitsbildern oder auch psychischen Leiden jetzt noch viel weniger nach draußen trauen. Auch Eltern die überängstlich agieren, deren Kinder keinen Kontakt mit Gleichaltrigen haben oder haben dürfen.

Das alles tut den Kindern und Jugendlichen nicht gut. Aus diesem Grund ist auch die Situation in der Jugendpsychiatrie derzeit sehr angespannt. Man hört von fünfzigprozentiger Überbelegung, langen Wartelisten und Situationen, die eine große seelische Not widerspiegeln. Selbstmordgedanken von Kindern und Jugendlichen – dafür gibt es viele Belege aus Studien in ganz Europa – haben in außergewöhnlich hohem Maß zugenommen.

Das sollte uns große Sorge bereiten! Kinder haben ein Recht auf körperliche und psychische Gesundheit, und die derzeitigen Einschränkungen verursachen hier offensichtliche, ungesunde Entwicklungen. In diesem Zusammenhang war es auch wichtig, dass die Chamber das Thema Suizid auf die Agenda gesetzt hat. Es war sicherlich der richtige Zeitpunkt, um zu zeigen, dass sich jede Fraktion parteiübergreifend dazu äußern und damit aktiv auseinandersetzen konnte. Die langfristigen Auswirkungen des „digitalen Tsunamis“ sind noch nicht abzusehen. Hier besteht ebenfalls Handlungsbedarf – von der Prävention bis zur Therapie für Internetsüchtige.

Können den Familien hier nicht besondere Hilfen angeboten werden?

Ganz bestimmt, es ist eine sehr wichtige Frage, wie es den Eltern und damit auch den Kindern in den Familien geht. Wie stark die emotional belastende Situation sich auf die Beziehungen in den Familien auswirkt. Und natürlich auch, wie wir den Familien zur Seite stehen können, die sich mit der Situation überfordert fühlen.

Die ambulante Begleitung der Familien ist dabei unglaublich wichtig. Wenn es Kindern und Jugendlichen in ihren Familien nicht gut geht, können die ambulanten sozialarbeiterischen Dienste ganz viel Unterstützung leisten. Durch ihre Arbeit in den Familien können sie auch das Problem häuslicher Gewalt im Blick behalten, und den Eltern entsprechende präventive Angebote zukommen lassen.

Im psychiatrischen Bereich wäre es an der Zeit zu überlegen, wie psychiatrische und psychotherapeutische Betreuung in größerem Stil ambulant angeboten werden kann. Ich hoffe also auf Initiativen, die eine stationäre Jugendpsychiatrie durch den breiten Zugang zu Kinder- und Jugendpsychiatern bzw. -psychotherapeuten entlasten.

Wie hat sich die Situation von Familien entwickelt, die sich schon vor Beginn der Pandemie in schwierigen Situationen befunden haben?

In Luxemburg war es schon vor der COVID-Krise so, dass Familien mit Kindern stark unter Druck standen. Dabei besteht immer eine große Gefahr, dass dieser an die Kinder weitergegeben wird.

Erwerbstätige Eltern stehen unter dem Leistungsdruck der luxemburgischen Wirtschaft. Das ist der Druck eines kompetitiven grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes, einer Leistungsgesellschaft, in der die sozialen und ökonomischen Erwartungen sehr hochgesteckt sind. Auch die Mehrsprachigkeit, die nicht jedem in die Wiege gelegt wurde, bleibt für viele Menschen eine zusätzliche Belastung. Hinzu kommt ein enormer Konsumdruck, und auch der Wohnungsmarkt in Luxemburg setzt vielen Familien zu. Es ist ein durchaus exklusiver Wohnungsmarkt, der Menschen auf Kosten von Kindern und kinderreichen Familien ausschließt. Kinder sollen nicht unter diesem Druck leiden müssen. Deshalb hat mein Vorgänger René Schlechter zurecht im Bericht des letzten Jahres die Erwachsenen aufgefordert, ihre Ängste nicht an die Kinder weiterzugeben und sie damit zu überfordern. Der Druck, der bei vielen schon im Kessel war, ist durch die Pandemie nochmals deutlich verstärkt worden.

Der Zeit- und Kraftaufwand von Kinderbetreuung sollte dabei auch nicht vernachlässigt werden. In Luxemburg war es immer schon wichtig, dass die Großeltern neben Schule und Maison Relais dabei geholfen haben, sich um die Kinder zu kümmern. Aufgrund der COVID-Vorsichtsmaßnahmen ist dies in vielen Familien nicht mehr möglich, was zusätzliche Belastungsmomente mit sich gebracht hat.

Wie schnell Menschen dadurch an ihre Grenzen gestoßen sind, werden wir zeitversetzt an der Entwicklung der Zahlen häuslicher Gewalt nachvollziehen können. Diese Zahlen werden regelmäßig erhoben und jährlich veröffentlicht. In der ersten Phase haben sich noch viele Menschen diszipliniert und zurückgehalten, in der aktuellen Phase drohen sich die Spannungen in den Familien auf unterschiedlichste Art und Weise auszudrücken.

Darüber hinaus muss man auch die spezielle Situation von Kindern und Jugendlichen berücksichtigen, die in Heimstrukturen oder Wohngruppen untergebracht sind. Sie waren noch ganz anders davon betroffen. In diesen Fällen hat sich das Zusammenleben oft schwierig gestaltet, dadurch dass sie unterschiedliche Schulen besuchen und unterschiedlich lang von der Quarantäne betroffen waren. Auch sie konnten die Schulen wochenlang nicht besuchen, und der Personalschlüssel ist nicht darauf ausgerichtet, dem Homeschooling gerecht zu werden.

Es ist also wichtig, dass die ambulanten Hilfen für Familien auch in Lockdown-Situationen weiterfunktionieren?

Die Familiendienste gehören mit zu den ersten Angeboten, die im Lockdown wieder hochgefahren wurden. Viel dringender hat sich hier die Frage nach der Zugänglichkeit gestellt. Welche Wege können, beziehungsweise müssen Familien gehen, um diese Unterstützung erhalten zu können? Muss man erst krank werden, um über den Arzt weiterverwiesen zu werden, oder kann man sich rechtzeitig selbst Hilfe holen? Und vor allem: Wo findet man sie?

Wir sollten deshalb darüber nachdenken, ob die offices sociaux der Gemeinden stärker als Anlaufstelle wahrgenommen werden könnten, oder ob dem Office national de l’enfance (ONE) diese Rolle zukommen soll. Derzeit gibt es insgesamt sieben dezentrale Strukturen des ONE. Die sind allerdings noch nicht so aufgestellt, dass sie als öffentliche Anlaufstellen wahrgenommen werden.

Es ist daher sehr wichtig, dass die Dezentralisierung des ONE massiv vorangetrieben und ausgebaut wird, sodass zusammen mit den regionalen Schulstrukturen, den SePAS und den kommunalen Sozialämtern ein réseau social de proximité entsteht. Vielleicht können wir hier aus der Krise lernen, um interinstitutionelle Gräben zu überwinden und neue Wege in der Zusammenarbeit einzuschlagen.

Wohin können sich Kinder wenden, die einen akuten Hilfebedarf haben?

Ein wichtiges Element wäre die Einrichtung von Notfalltelefonnummern im Kontext vom Kinderschutz. Es gibt hier im Land viele Dienste, die telefonisch kontaktierbar sind. Allerdings haben wir im Kinderschutz nicht das, was Frankreich hat: eine Nummer 119, die rund um die Uhr erreichbar ist, wenn es Kindern wirklich schlecht geht. Ein Dienst, der nach telefonischem Kontakt auch die entsprechenden Prozeduren einleiten darf. Ich finde es unerlässlich, dass in Luxemburg so ein Notfalltelefon für Kinder eingerichtet wird. Mit einem 24-Studen-Dienst, der jederzeit intervenieren kann, wenn eine bestimmte Situation vorliegt, auch um die Polizei bei einer ganzen Reihe von Interventionen zu entlasten.

Momentan stehen bei sozialen Notfällen Erste-Hilfe-Dienste und die Polizei an vorderster Front, weil die Öffnungszeiten von sozialen Diensten ganz anders getaktet sind. Es ist aber nicht in Ordnung, dass Polizisten die Rolle des Sozialarbeiters übernehmen müssen, nur weil die sozialen Dienste nicht rund um die Uhr organisiert sind. Ich glaube, dass so ein 24-Stunden-Dienst im Bereich des Kinderschutzes und der Jugendhilfe möglich und auch notwendig ist. Das ist kein Vorwurf an die Polizei! Wir brauchen endlich eine brigade mobile sociale mit entsprechend ausgebildeten Professionellen. Einen Dienst, der bereit ist, auch diese soziale Arbeit im Interesse der Kinder und Jugendlichen zu machen.

Dies ist eine schwierige und herausfordernde Arbeit, die eine fundierte sozialarbeiterische Ausbildung benötigt. Eine Kindesabnahme im Namen des Jugendgerichtes zum Beispiel gehört in die Hand von Sozialarbeitern und nicht in die der Polizei. Wir bringen es im Bereich der häuslichen Gewalt mit dem Service d’assistance aux victimes de violence domestique fertig, einen Dienst zu haben, der 24/7 verfügbar ist und Opfer von häuslicher Gewalt betreut. Wieso soll das nicht auch im Bereich des Kinderschutzes möglich sein?

Müsste dann nicht auch definiert werden, wie im Rahmen von staatlichen Interventionen die Rechte von Kindern und Jugendlichen gewahrt bleiben?

Der Grundgedanke der Konvention ist, dass die Rechte interdependent sind. Sie hängen voneinander ab und lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Man muss in allen Situationen und Entscheidungen das Für und Wider abwägen. In so komplexen Situationen kann nicht ausschließlich das Recht auf Schutz im Vordergrund stehen. Dadurch würden andere Rechte vernachlässigt. Es geht hier um eine kontinuierliche Abwägung, die wir als Gesellschaft treffen müssen.

Wir haben durch die Pandemie gemerkt, wie schwierig diese Abwägung zwischen unterschiedlichen Rechten ist. Wir haben zum Beispiel erlebt, wie im Namen der Gesundheit Freiheitsrechte aufgegeben werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Generation eine erhöhte Sensibilität für die wechselseitige Abhängigkeit von Rechten entwickelt.

Ich würde gerne nochmals die Frage der Chancengleichheit und der Bildungsgerechtigkeit ansprechen. Hier scheinen mir ganz wichtige Rechte der Kinder grundsätzlich berührt.

Was die Bildungsgerechtigkeit anbelangt, spielen sozioökonomische Faktoren eine große Rolle. Ein ganz einfaches Beispiel dafür ist die bezahlte Hausaufgabenhilfe: Was für die einen möglich ist, ist für andere ein unerreichbarer Luxus. Obwohl diese Unterstützung im Luxemburger Schulsystem notwendig ist. Kinder, die zuhause keine Begleitung bekommen können oder die keine qualifizierte Hausaufgabenunterstützung in einer Maison Relais bekommen, bleiben auf der Strecke.

Das ist ein Fehler des Systems. Es war immer schon so in Luxemburg, dass diejenigen, die sich Hausaufgabenunterstützung leisten konnten, bevorteilt waren. Da wir diese Situation nicht als integralen Bestandteil der Schule begriffen haben, haben wir diese Bildungsungleichheiten zementiert. Wir können es uns als Land nicht leisten, darauf zu setzen, dass Prozesse von Integration und Bildung sich über viele Generationen erstrecken. Wir müssen das System so gestalten, dass Kinder mit gleichen Talenten, Begabungen und Potenzialen auch die gleichen Chancen auf einen guten Abschluss haben. Das hinzubekommen ist eine Herausforderung, die wir als Gesellschaft annehmen sollten.

Daran anknüpfend stellt sich noch die Frage, wie wir im Sommer 2021, nach anderthalb Jahren COVID-19, mit der formalen Zertifizierung von Schulabschlüssen umgehen sollen.

Wir sollten auf jeden Fall nicht zulassen, dass sich durch die schwierige Situation für die Schüler Karrierewege für immer verschließen. Deshalb müssen wir uns überlegen, wie sich dieser Rückstand aufholen lässt. Das soll nicht bedeuten, dass man in den Sommerferien unterrichten soll. Ich glaube aber, dass wir jenen, die drohen auf der Strecke zu bleiben, in den kommenden Jahren mehr Möglichkeiten bieten müssen, ihren Abschluss nachzuholen.

Ich denke auch, dass wir das Programm des zweiten Bildungsweges, der Möglichkeit des Nachholens, der Modularisierung mit Hinblick auf die Hochschulzugangsberechtigung stärker in den Blick nehmen sollten. Schließlich haben alle Generationen ein Anrecht auf eine faire Perspektive für ihren Bildungsweg und unseren Arbeitsmarkt. Wir können es uns nicht leisten, dass durch die Pandemie drei Jahrgänge verloren gingen, weil sie entsprechende Bildungsabschlüsse nicht machen konnten, die sie brauchen, um studieren zu können.

Die Frage ist deshalb auch, ob es eine Lockerung der Anforderungen im Sekundarabschluss geben sollte. Das Abschlussexamen ist in der Vergangenheit dadurch relativiert worden, dass es weniger Gewicht haben wird als die Leistungen während des Schuljahres. Das ist durchaus positiv zu bewerten. Mündliche Prüfungen konnten nicht so vorbereitet werden wie die Jahre zuvor.

Ich glaube, dass man sich alle Optionen offenlassen sollte, um den Bildungserfolg dieser Generation nicht zu verpfänden. Es geht nicht darum, einen Freifahrtschein auszustellen, ohne dass dafür Leistung erbracht werden müsste. Es geht darum, den widrigen Umständen Rechnung zu tragen und Zukunftsperspektiven nicht zu gefährden.

Wie können Kinder und Jugendlich bei dieser Diskussion beteiligt werden?

Auf nationaler Ebene können wir als OKaJu sicherlich Denkanstöße geben, damit Beteiligung möglich wird. Tatsächlich ist es so, dass Kinder und Jugendliche in der nationalen Bildungsdiskussion selten systematisch beteiligt werden.

Wer spricht, wenn im öffentlichen Raum über Schule gesprochen wird? Der Minister, die Lehrergewerkschaften und eventuell noch einige Fraktionsvertreter. Elternvertreter hören wir selten, Kinder- und Jugendvertreter noch viel seltener. Es ist eine Frage der Diskurshoheit.

Ich würde darauf setzen, die partizipative Kultur in den Schulen national stärker zu fördern. Deshalb freue ich mich sehr darüber, dass wir mehr Mittel bekommen, um unter anderem pädagogische Aktivitäten mit Kindern und Jugendlichen organisieren zu können. Das werden wir in Synergie und Partnerschaft mit anderen Akteuren im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit machen müssen.

Könnte es interessant sein, die Initiative eines alternativen Bildungsdësch anzuregen, so wie es die Idee eines alternativen Berichtes über die Kinderrechte in einem Land gibt?

Die Kinderrechtskonvention als internationales Instrument sieht vor, dass es periodische reviews gibt. Das läuft so ab, dass der Staat einen Bericht über die Umsetzung der Konvention in den verschiedenen Bereichen liefert. Auch die Zivilgesellschaft soll unabhängige Berichte machen können, um dieses Bild zu ergänzen und ggf. Nuancen einzubringen. Zudem machen die national monitoring bodies, in diesem Fall u. a auch der OKaJu, einen Bericht. Die Zivilgesellschaft kann dann zusätzliche, alternative Berichte zu dem staatlichen Bericht verfassen. Das ermöglicht es dem Genfer Komitee, auf Basis dieser breiteren Informationslage Empfehlungen auszustellen.

Insofern wäre es interessant, diesen Ansatz auch in Luxemburg auszuprobieren. Man könnte aber natürlich auch fragen, ob das, was der ORK seit 2003 macht, nicht schon ein alternativer Bericht ist? Marianne Rodesch und René Schlechter legen diese wunden Punkte jedes Jahr offen. Ihr Bericht ist im Grunde eine gute Zusammenfassung aller Belange, die Kinder und Jugendliche in Luxemburg betreffen, in dem aber durchaus auch positive Entwicklungen gelobt werden.

Die Frage der Kinderrechte bewegt nicht nur die luxemburgische Gesellschaft – weltweit stellt sich die Frage, wie Kinder und Jugendliche zu ihrem Recht kommen können.

Absolut, Kinderrechte sind Teil des emanzipativen Erbes des 20. Jahrhunderts. Sie sind als eine Sozial­bewegung zu begreifen, die heteroklitisch und nicht uniform ist. Diese Bewegung wird über die Jahrzehnte von den jeweiligen Generationen ganz unterschiedlich interpretiert.

Es ist deshalb sehr wichtig, Kinderrechte nicht auf die Konvention von 1989 zu reduzieren, sondern sie in ihrem mehr als hundertjährigen Entwicklungsprozess – vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute – zu betrachten. Heute stellen sich ganz andere Fragen als im vergangenen Jahrhundert.

1923 hat Save The Children International die erste Deklaration der Kinderrechte hervorgebracht und Lobbyarbeit gemacht, so dass die Société des nations sie 1924 als Genfer Deklaration angenommen hat. Das war nicht das Instrument, dass die Deklaration heute darstellt, es war aber ein wichtiger Schritt.

Es wäre schön, wenn auch Luxemburg 2023/24 zum Anlass nehmen könnte, um über 100 Jahre Kindheit und Kinderrechte in Luxemburg nachzudenken. Bewegungen und Akteure, die sich hier im Land um die Kinderrechtsfrage verdient gemacht haben, könnten diese Gelegenheit für eine historischen Aufarbeitung ihrer Arbeit nutzen. Wir haben letztes Jahr 100 Jahre Allgemeines Wahlrecht gefeiert. Ich würde mich freuen, wenn wir 2023/24 mit vielen gesellschaftlichen Akteuren, Kindern und Jugendlichen sowie Schulen auch 100 Jahre Kinderrechte feiern. Wir würden gerne zeigen, dass das keine neue Idee ist, sondern eine, die bereits viele Generationen bewegt hat.

Es wäre gleichzeitig aber auch die Gelegenheit darüber nachzudenken, welchen Stellenwert Kinderrechte in Luxemburg heute haben, und wie sie im Licht der gesellschaftlichen Realität nach COVID-19 zu interpretieren sind.

 


(Das Interview fand am 9. Februar 2021 statt. Die Fragen stellte T. K.)

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