Der ästhetische Wert von Erklärungsversuchen
Interview mit Generalstaatsanwalt Robert Biever zur Bedeutung von Gerüchten und Mutmaßungen bei der Arbeit der Justiz
Herr Biever, Sie haben über 40 Jahre bei der Staatsanwaltschaft in Luxemburg Verantwortung getragen. Gibt es bei dieser Arbeit Raum für Vermutungen?
Robert Biever: Ja, wenn man keine Fakten hat, kommt man nicht umhin, Vermutungen anzustellen. Man muss jeder Piste nachgehen, auch wenn sie noch so abstrus klingt.
Das heißt, dass Sie auch Gerüchten folgen?
R. B.: Ja, und das können auch ganz abwegige Gerüchte sein. Ein berühmtes Beispiel ist die in den 1990er Jahren in Luxemburg zirkulierende Geschichte um die Entführung von Luxemburger Kindern. Damals hieß es, Kinder würden im Disneyland Paris entführt, ihnen würden Nieren entnommen und sie würden später wieder auftauchen. Eine absolut ungeheuerliche und unhaltbare Geschichte, aber es war unsere Aufgabe, auch diesem Gerücht nachzugehen.
Ab wann muss man Gerüchte ernst nehmen?
R. B.: Wenn man eine Geschichte nicht ganz ausschließen kann, ist sie im Bereich des Möglichen. Das klingt nach einer trivialen Antwort, aber wenn eine Möglichkeit besteht, dass etwas sein könnte und die Eventualität sei noch so gering, gilt es die Spur zu verfolgen — vor allem wenn die Gerüchte bereits in der Presse und der Öffentlichkeit kursieren.
Die Justiz arbeitet gerne mit der Frage nach dem cui bono (wem nutzt das Verbrechen?) und sucht hinter den Ereignissen nach einem geheimen Plan und einem Motiv.
R. B.: Das stimmt. Wer macht was und warum, sind für uns zentrale Fragen.
Welche Bedeutung hat demgegenüber der Zufall, der ja dem vorsätzlichen Handeln, der Konspiration usw. als Erklärung gegenübersteht?
R. B.: Den Zufall gibt’s. Aber der Zufall ist keine juristische Kategorie. Wir können den Zufall nicht als gültige Kategorie anerkennen, denn dann gibt es keinen Verantwortlichen mehr. Der Zufall taugt nicht als Verantwortlicher.
Einen Teil Ihrer Karriere haben Sie mit dem Bommeleeër-Prozess verbracht. War dieser Prozess auch ein Versuch, mit Gerüchten aufzuräumen?
R. B.: Das denke ich nicht. Wenn die beiden Angeklagten nicht die Aussagen gemacht hätten, die sie nun mal gemacht haben, wäre es nicht zum Prozess gekommen und das Ganze wäre ein Non-lieu geworden. Und dann hätten alle gesagt, die Affäre wäre vertuscht worden …
Trotzdem konnten einige Gerüchte öffentlich ausgeräumt werden.
R. B.: Tatsächlich führte der Prozess dazu, dass viele Gerüchte öffentlich widerlegt werden konnten. Ohne die beiden Angeklagten Wilmes und Scheer wären diese Anschuldigungen im Raum geblieben.
Also ein Erfolg?
R. B.: Nein. Wir wollten wissen, wer der bzw. die Täter sind. Und wir haben auch immer gesagt, dass die beiden nicht die Haupttäter sind. Der Wille war da, allen Pisten nachzugehen. Aber vielleicht haben wir ja auch etwas verpasst…
Für den Teil der interessierten Öffentlichkeit, der mehr zu politischen Verschwörungstheorien neigt, war die Stay-Behind bzw. Gladio-Piste am attraktivsten.
R. B.: Das stimmt, wir haben diese Pisten auch nie ausgeschlossen. Fakt ist aber, dass diese Spur keiner seriösen Analyse standhielt. Wir haben sie in vielen Ermittlungen verfolgt und sind immer wieder zum gleichen Ergebnis gekommen.
Für einen anderen Teil der Öffentlichkeit war es plausibel, dass ein Bruder des Großherzogs impliziert war.
R. B.: Auch die Theorien über die Implikation von Ben Geiben und Prinz Jean wurden sehr schnell widerlegt, da auch sie der Faktenlage nicht standhielten. Es war natürlich eine wunderbare Erklärung für die Bombenanschläge mit hohem ästhetischen Wert: Der Coming Man von der Gendarmerie, der geschasst wird, und der Prinz, der in Ungnade fällt, nehmen gemeinsam Rache an ihrem eigenen Land. Das musste einfach stimmen…
Sie haben das Ganze immer runtergekocht auf einen Jugendstreich!
R. B.: Nicht ich, sondern einige der Hauptverantwortlichen der Polizei haben es so dargestellt: ein Streich von erwachsenen Jugendlichen.
Das klingt sehr beliebig, fast nach Zufall. Die hätten ja dann auch schnelle Autos
fahren können?
R. B.: Irgendwie ja. „Es war doch ein Spiel“, haben einige tatsächlich gesagt. Im letzten sogenannten Erpresserbrief stand übrigens sogar „you have lost the game“.
Worum geht es in so einem Prozess, dreißig Jahre nach den Handlungen? Die Richterin meinte in einer Anhörung zu einem der Zeugen: „Es geht hier nicht um ihre Erinnerung, es geht um die Wahrheit“? Geht es der Justiz also um die Wahrheit?
R. B.: Jetzt muss ich Sie enttäuschen: Das Gericht ist nur dafür da, um die juristische Wahrheit, die verité judiciaire herauszufinden und die ist nicht immer identisch mit der tatsächlichen Wahrheit. Damit ist die Aufgabe von Staatsanwaltschaft und Gerichten schon gewaltig genug. Das Gericht ist dazu da, um zu beurteilen, ob die Tatbestände, die dem Angeklagten angelastet werden, erwiesen sind. Es geht uns um die Öberführung von Schuldigen und dafür braucht man harte Beweise: Im Zweifel für den Angeklagten.
Um nochmal auf die Gerüchte zurückzukommen. Sie sind selbst Opfer von Gerüchten geworden und haben mit einer denkwürdigen Pressekonferenz reagiert. Welchen Rat würden Sie Menschen geben, die in einer ähnlichen Situation sind?
R. B.: Das hängt von den Umständen ab. Ich war privilegiert und hatte die Möglichkeit in die Öffentlichkeit zu gehen. In anderen Fällen mag es besser sein, ein
Gerücht zu ignorieren.
Werden Gerüchte in Luxemburg als politisches Instrument eingesetzt, um Leute zu destabilisieren?
R. B.: Das Gerücht habe ich auch schon gehört. u
Das Interview fand am 24.6.2015 statt. (Pol Schock/Jürgen Stoldt).
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