Der Augen-Blick
... am Ende einer vollendeten Diskriminierung
Es war vor einigen Jahren, die Mitte des letzten Jahrhunderts war schon eine Dekade vorbei, ich zählte elf Lenze und erlebte mein erstes echtes Palindromjahr. Mein Großvater schlug mir eine gemeinsame Schiffsreise vor. Zu meiner Überraschung stellte sie sich als Segeltörn heraus. Ich lernte Fische zu fangen und zu essen und auf den Wänden zu laufen. Von Venedig aus segelten wir wochenlang, über die griechischen Inseln, Türkei, Zypern, bis wir nach einer Ewigkeit in Haifa ankamen. Unsere Ladung wurde gelöscht, wir besuchten Freunde. Irgendwann mal kamen wir nach Tel Aviv. Auf der zentralen Verkehrsachse konferierte mein Opa in einem kleinen Hotel. Und ich versuchte, mir mit den typischen Zwergenerkundungen einen Überblick in der Umgebung zu verschaffen. Dabei stieß ich ein paar Meter weiter auf ein kleines Kaufhaus mit diesem und jenem. Ich war fasziniert. Weniger vom Laden oder dem vielen Staub oder der Hitze, nein, von einer Person, die vor dem Geschäft auf dem Bürgersteig saß. Ein alter Mann auf einem Schemel, mitten in der Sonne, bekleidet mit einer Art Schlafanzug, schwarz-weiße Streifen und einer lustigen Kappe, dito schwarz-weiß, barfuß. All das erinnerte mich an unseren Bäcker zuhause, nur dass seine Schlafanzughose ein Pepita-Muster hatte, sein Hemd weiß war und seine Kappe keine Nummer trug. Eigenartig.
Da saß er nun. Neben ihm lagen zugeschnittene Hosenbeine, Ärmel und Bünde. Er nähte alles zusammen, faltete die fertigen Teile ordentlich und stapelte sie. Er arbeitete ohne Pause. Zügig, in sich gekehrt, lautlos.
Später erzählte ich meinem Großvater davon und fragte ihn, was der alte Mann da auf der Straße macht.
„Er näht Kleidung.“
„Solche Kleidung kenn ich nicht.“
„Früher gab es die millionenfach, heute wird sie nicht mehr gebraucht.“
„Wieso näht er sie dann?“
„Weil er nichts anders mehr kann.“
Darüber musste ich erstmal nachdenken.
Am nächsten Morgen brachte ich einen Klapphocker mit und setzte mich neben ihn. Er rückte weg. Es war sehr heiß. Mir tropfte der Schweiß von der Nase. Nach wenigen Minuten hatte ich Durst. An jeder Ecke gab es frisch gepressten Orangensaft, ich trank ein Glas und nahm noch zwei mit. Eins stellt ich neben ihn. Er würdigte es keinen Blickes. Ich versuchte ein kleines Gespräch. Keine Reaktion. Ich wollte ihm etwas helfen, rechtes Hosenbein zu linkem Hosenbein, aber er rückte weg. Der Ladenbesitzer brachte mir einen Sonnenschirm. Ich wollte ihn mit dem alten Mann teilen. Er rückte weg. Eine Verkäuferin versuchte eine Erklärung:
„Er meint es nicht böse. Er sieht dich nicht. Er hört dich nicht. Er weiß nicht, wo er ist. Sein Leben ist nur noch, was er tut.“
Beim Abendessen erzählte ich alles meinem Großvater. Er fragte mich: „Also was hast Du gesehen?“
„Einen Mann aus Stein, der sich aber bewegt.“
Die beiden nächsten Tage verliefen wie zuvor. Nur dass die Leute aus den Nachbargeschäften nun auch das neue Gespann kannten und viele Passanten mich freundlich betrachteten. Dann setzte ich meine Hartnäckigkeit ein – meine Mutter hätte Sturkopf gesagt. Ich las ihm etwas vor, sang ein Lied, erzählte eine Geschichte – und dann, nach unendlich langen Tagen, geriet plötzlich etwas in ihm in Bewegung. Er straffte sich, nahm die letzte verbliebene Kraft zusammen und schaute kurz auf und mir direkt in die Augen, senkte seinen Blick, räumte seine Sachen zusammen und ging.
Diesen Augen-Blick werde ich niemals vergessen, er griff direkt in mich hinein. Er war Perspektivwechsel und Erkenntnis zugleich. Wenn man in der Badewanne sitzt, den Stöpsel zieht und das Wasser wegrauschen sieht, wechselt es im letzten Moment die Richtung; nicht grundlos. Ich fühlte mich, als säße ich unter der Wanne, mitten im Strudel. Ich sah absolute Hoffnungslosigkeit, unendliche Angst, tiefste Trauer, abgrundtiefe Erniedrigung, erbarmungslosen Schmerz, zerstörenden Hunger, irreparabel gebrochenen Willen. Das letztmögliche, beatmete Ende einer vollendeten Diskriminierung, ohne Erlösung.
Am nächsten Morgen kaufte mein Opa zwei Jacken, eine für mich, eine für sich. Ich verabschiedete mich von dem alten Mann, aber es gab keinen zweiten Augenblick. Er nahm mich nicht noch einmal wahr. Als ich einige Jahre später wieder dort war, konnte ich ihn nicht mehr finden.
Ende der wahren Geschichte
Epilog
Diese Geschichte erzählt das Ende einer vollendeten, gelungenen, bis in die Gegenwart hineinwirkenden Tod und Verderben bringenden Diskriminierung. Wie ist es dazu gekommen? Wie ist es weitergegangen? Auch das sind Fragen, die man stellen muss. Oder diese hier:
Wie findet Diskriminierung heute statt? Auf einer Diskriminierungsskala von 0-100 befindet man sich immer an einem bestimmten Wert, der sich in Empfinden und Bewertung umwandeln lässt und uns beinah täglich mit der erbarmungslosen Frage konfrontiert: Ab wann greifen wir ein? Ab wann tun wir etwas dagegen? Ab wann sind wir nicht mehr bereit, auch nur eine Träne zu tolerieren, die aus Gründen angewandter Diskriminierung vergossen wird?
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
