Der Fall Belarus
Die Sorge umeinander und die Zukunft der Demokratie
Die zahlreichen Fotos der belarussischen Proteste im Sommer/Herbst 2020 dienten noch bis vor Kurzem als hoffnungsstiftende Zeichen eines demokratischen Aufbruchs. Zusammen mit der Welle der Black Lives Matter-Proteste in den USA gehörten sie zu den wichtigsten Symbolen der Unzufriedenheit, nicht bloß mit dem Zustand des Wohlfahrtsstaates in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, sondern mit der politischen Ordnung, die hinter den Strukturen dieses Wohlfahrtsstaates verborgen ist. Im belarussischen Fall ging es um die Unzufriedenheit mit Lukaschenkos autoritärem Regime. Zu Beginn der Präsidentschaftswahlen 2020 dauerte seine Herrschaft bereits 26 Jahre, und er wollte – in seinen eigenen Worten – auf keinen Fall „seine Geliebte“, gemeint Belarus, hergeben.
Vielstimmigkeit der belarussischen Revolution 2020
Nicht zufällig wurden Frauen zum Gesicht der belarussischen Revolution, die Anfang August nach den von Lukaschenko manipulierten Präsidentschaftswahlen ihren Ausgang nahm und eine Reaktion auf die von ihm entfesselte Gewalt gegen die mit der Wahlfälschung unzufriedenen friedlichen Bürger*innen war. Diese Frauen repräsentieren das Selbstverständnis der gesamten belarussischen Gesellschaft, die sich gegen die Tyrannei eines gewalttätigen „Familienoberhaupts“ richtet, unter dem die Bevölkerung leidet, aber nicht mehr leiden will. Das revolutionäre Befreiungsstreben lief auf den Versuch hinaus, einen offenen politischen Raum zu gründen, in dem eine Demokratie erst möglich wird.
Dieser Raum entstand – in der Aktion – zunächst im Prozess der Revolution selbst. Die bisher höchst atomisierte belarussische Gesellschaft wandelte sich zu einem Netz immer neuer kollektiver Aktivitäten, die sich auf das ganze Land ausweiteten. Dabei waren alle sozialen Schichten der Gesellschaft involviert: Lehrende und Professor*innen sammelten in Form von Petitionen und offenen, kollektiven Briefen tausende Stimmen gegen die gefälschten Wahlen und die staatliche Gewalt. Durch Feministinnen und Menschen aus der LGBTQIA*-Community entstanden erste Ketten der Solidarisierung, darauf folgten die von Frauen organisierten Märsche. Mehr als drei Monate lang nahmen hunderttausende Menschen an den Wochenendmärschen teil – Sportler*innen, Student*innen, Ärzt*innen, Mitarbeiter*innen von Unternehmen, Künstler*innen, Musiker*innen und viele andere waren dabei. Ältere Personen sowie Menschen mit Behinderung organisierten zusätzliche Märsche. Das Wahlkampfteam, bestehend aus den Oppositionspolitikerinnen Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo, welches im Juli 2020 entstanden war1, gab einen sehr wichtigen Impuls für diesen Prozess der horizontalen, kooperativen und kreativen Solidarisierung. Das Team war eine Koalition von Frauen mit sehr verschiedenenen Hintergründen – aber gemeinsamen Zielen – und mit der Bereitschaft, ihre Verantwortung untereinander und mit der gesamten Gesellschaft horizontal zu teilen.
Zu einem sehr wichtigen Teil der Proteste gehörten die Aktivitäten in den Nachbarschaften, also in den Höfen von Hochhäusern, insbesondere in Minsk, aber auch in anderen belarussischen Städten. Der belarussische Dichter Dmitri Strozew bezeichnete diese Aktivitäten und die auf dieser Basis entstandenen Gemeinschaften als „Hof-Republiken“. Noch vor Kurzem seien die Schlafrayons der belarussischen Städte Orte der Entfremdung gewesen. „Doch plötzlich trafen die Menschen am 9. August vor den Wahllokalen ihre ‚unbekannten‘ Nachbarn und erkannten in ihnen Gleichgesinnte, die in dieselbe ‚politische Farbe‘ gekleidet waren, mit weißen Armreifen am Handgelenk, die ebenso wie sie ihre Wahlzettel zur Ziehharmonika falteten. Sie stellten fest, dass sie alle ihre Stimme für Tichanowskaja abgeben – für ein Land zum Leben, ein Land ohne Lukaschenko. Die Staatsmacht hat der Gesellschaft die vertikale repräsentative Demokratie verweigert. Dies gab den Anstoß für die spontane Entstehung einer horizontalen, direkten Demokratie in den Höfen, Toreingängen und Treppenhäusern von Belarus.“2
Aus dieser neu wahrgenommenen Gemeinschaftlichkeit der belarussischen Proteste im Jahr 2020 folgten nicht nur die Forderungen nach freien Wahlen und einem Ende der willkürlichen Gewalt des Staates, sondern auch ein neuer, kreativer Umgang mit neueren Internettechnologien. Mehr als tausend „Hof-Republiken“ gründeten ihre eigenen Telegram-Kanäle, mehrere Internetplattformen wurden lanciert, um Geld für Gewaltopfer zu sammeln und juristische, medizinische sowie psychologische Hilfe anzubieten. Informations-Telegram-Kanäle, wie z. B. NEXTA, veröffentlichten Tag und Nacht zahllose Berichte über die Ereignisse in Belarus, sodass laut Social-Media-Forscher Gregory Asmolov ein „horizontaler watchdog“ entstand, der den Protest allgegenwärtig, vielstimmig, kreativ und von unerschöpflicher Energie erscheinen ließ und so der allgemeinen Aktivierung der belarussischen Gesellschaft diente.3
Sorge-Infrastrukturen und Schwesterlichkeit
Seit den ersten Tagen der belarussischen Revolution sind die Praktiken der aufrichtigen und empathischen Sorge umeinander zu den Kennzeichen der Revoltierenden geworden. Der Grund war vor allem die massive und brutale staatliche Gewalt – in den ersten drei Tagen nach den Präsidentschaftswahlen am 9. August 2020 kam es zu Protesten im ganzen Land: Die Miliz, der OMON und die Truppen des Innenministeriums setzten Tränengas, Wasserwerfer, Schockgranaten und Gummigeschosse gegen die friedlichen Demonstrant*innen ein. Mehr als 6.000 Menschen wurden in den ersten drei Nächten festgenommen. Zwei Menschen starben, einer in Minsk, einer in Brest. Tausende wurden gezielt misshandelt. In einem am 29. Oktober 2020 veröffentlichten OSZE-Bericht heißt es, Gewalt und Folter seien so systematisch und gegen so eine große Zahl von Menschen angewendet worden, „dass dies eindeutig davon zeugt, dass ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt“.4
Die Empörung gegen die staatliche Gewalt und gleichzeitig das Verständnis für die eigene Vulnerabilität waren Ursache für die kollektiven und kooperativen Handlungen, in deren Zentrum Aufmerksamkeit und Sorge umeinander standen. Diese Dimension des kollektiven Handelns wurde von einer weiteren, für die belarussische protestierende Gesellschaft wichtigen Erfahrung verstärkt, nämlich der Erfahrung der gegenseitigen Unterstützung bei Festnahmen oder im Gefängnis, die von Feministinnen als „Schwesterlichkeit“ bezeichnet wird. Seit den Wahlen im August 2020 haben mehr als 40.000 Belarus*innen diese Erfahrung gemacht, gegen 4.000 von ihnen wurden Strafverfahren eingeleitet.
Schwesterlichkeit im Gefängnis bedeutet, dass die Frauen in den Gemeinschaftszellen ihre Vulnerabilität in neue Kontexte und Ressourcen der gemeinsamen Résistance überführt haben. Ohne die Kontrolle über die Situation oder ihr eigenes Leben zu haben, teilten sie Gefühle, Wissen, Fähigkeiten – und alles, was sie besaßen: Bücher, Essen, Hygieneartikel und Wäsche. Während meiner 15-tägigen Haft im Oktober 2020 hielt ich Vorlesungen zu den Themen Menschenwürde, Unterdrückungspraktiken und Befreiungsstrategien, Solidarität und Empathie. Eine der Frauen in meiner Zelle veranstaltete Workouts für die gesamte Gruppe, eine andere führte Seminare über weibliche Erfahrungen und Feminismus durch. Und wenn es notwendig war, dann machten wir uns Mut oder beruhigten einander.
Die Berichte über diese Gefängnispraktiken inspirierten die belarussische Gesellschaft nochmals auf der Suche nach weiteren Formen der fürsorglichen Solidarisierung. Sie haben Lukaschenkos Regime aber auch gezeigt, dass die im Sommer 2020 entstandenen Vernetzungen nachhaltige politische Strukturen entwickeln.
Belarussische Résistance und der russische Krieg in der Ukraine
Das Jahr 2021 war in Belarus von den massiven Reaktionen des Lukaschenko-Regimes auf den Aufstand der Gesellschaft geprägt. Die Zahl der politischen Gefangenen hat sich seit August 2020 vervierfacht und liegt heute (Stand: 17. April 2022) bei 1.129. Maria Kolesnikova wurde zu elf Jahren im Lager verurteilt, viele andere Aktivist*innen haben noch längere Haftstrafen erhalten. Mehr als 650 NGOs wurden geschlossen, hunderttausende Menschen sind aus Belarus (auch in die Ukraine) geflohen. Bis heute kommt es fast täglich zu Festnahmen, Durchsuchungen und Gerichtsurteilen. Die Repressionen, die gegen die internationalen Menschenrechte verstoßen, hören nicht auf: Bürger*innen werden entlassen und auf unterschiedliche Art und Weise verfolgt, nur, weil sie frei ihre Meinung äußern. Menschen werden weggesperrt, weil sie eine Kerze am Todestag eines Protestierenden anzünden oder eine Tätowierung als Zeichen politischen Protests tragen.
Nach Putins Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 und Lukaschenkos Unterstützung des Kremls auf informationeller, diplomatischer und ebenfalls militärischer Ebene durch die Bewilligung der Nutzung des Territoriums von Belarus als Angriffsfläche auf die Ukraine ist eine weitere Grundlage für die Festnahme von Belaruss*innen entstanden. Wegen der Antikriegsproteste wurden am 26/27. Februar mehr als 900 von ihnen festgenommen.
Verfolgt, brutal festgenommen und ins Gefängnis geworfen werden Menschen, die Widerstand gegen die russische Armee auf belarussischem Territorium leisten. Bahnarbeiter*innen unterbrechen ständig die Schienenverbindungen zwischen Belarus und der Ukraine. Tausende Menschen füttern die entsprechenden Telegram-Kanäle mit Informationen über Truppenverschiebungen, startende russische Kampfflugzeuge und anderen Informationen über russische Soldaten. Die Hackergruppe Cyber Partisans ist ebenfalls sehr aktiv: Es gelang ihr sogar, für eine gewisse Zeit den Verkehr lahmzulegen.
Das alles zeigt, dass die belarussische Gesellschaft nicht mit Lukaschenko assoziiert werden möchte und dass sich ihr Kampf gegen Lukaschenko in den Kampf gegen Putin, d. h. gegen beide autoritäre Regimes, verwandelt hat.5 Das deutet auch darauf hin, dass eine tiefe politische Krise in Belarus noch nicht überwunden ist und dass Lukaschenko seine politische Legitimität nicht zurückerlangt hat.
Belaruss*innen, die in den letzten zwei Jahren wegen der politischen Verfolgungen ins Ausland geflohen sind, setzen ihren Kampf durch Hilfsprojekte sowohl für Kämpfende und Bleibende in der Ukraine als auch für Geflüchtete aus diesem Land fort. So berichtete Razam, die belarussische Diaspora-Gemeinschaft in Berlin, Ende März, dass 893 Erwachsene und 368 Kinder den speziell von Belarus*innen zur Hilfe der Urkainer*innen organisierten Begegnungsort besucht und dort Essen, Kleidung, Medikamente und Anderes entgegengenommen haben. Als weiteres sichtbares Beispiel dient das Free Belarus Center in Warschau, das mehr als 3.500 Menschen aus Kiew und Lwiw nach Polen evakuiert hat.
Aber solche Räume und Gemeinschaften existieren auch in Vilnius und in anderen Städten, in Polen und Georgien. Bekannt ist auch, dass Belaruss*innen, die nach Beginn des Krieges in der Ukraine geblieben sind, sowohl der ukrainischen Armee beigetreten als auch als Freiwillige tätig sind und die humane, horizontale Dimension des Krieges dadurch unterstützen.
Diese „Heldin*innen des Alltags“, wie die Leistungsträger*innen in der ersten Pandemiewelle genannt wurden, haben in dieser Situation, erst während der Revolution in Belarus und nun während des russischen Krieges in der Ukraine, wiederum sichtbar gemacht, was für eine bedeutende Rolle sie für den Kampf um die Demokratie weltweit spielen (und wie vulnerabel ihre Position in den Gesellschaften, auch in den demokratischen, immer noch ist)6, weil, laut der amerikanischen politischen Philosophin Joan Tronto, „das politische Leben letztendlich die Verteilung der Verantwortung für die Sorge umeinander bedeutet, aber auch fordert, dass die Sorgeverhältnisse und die darin engagierten Menschen zum aktuellen politischen Diskurs gehörten“.7
Das bedeutet, dass sich eine wahrhaft demokratische Politik sowohl auf die Praktiken und Institutionen der Sorgearbeit bezieht, als auch von den Sorge-Beziehungen lebt, nämlich von der Sorge der Bürger*innen um die Gerechtigkeit und um die Kontrolle der Staatsverwaltung und Machtausübung. Die für ihre demokratischen Gemeinschaften kämpfenden Ukrainer*innen und Belaruss*innen zeigen, wie fragil diese Gemeinschaften sein können und was für eine kolossale Rolle die internationale Solidarität, d. h. eine die Grenzen überschreitende, empathische Sorge umeinander, dabei spielt, wenn es heißt, Demokratie herzustellen oder auch zu bewahren.
- Swetlana Tichanowskaja wurde als Kandidatin für die Präsidentschaftswahl 2020 zugelassen. Nach der Verhaftung ihres Mannes hatte sie beschlossen, an dessen Stelle zu kandidieren. Maria Kolesnikowa war Mitglied des Wahlkampteams von Viktor Babariko, der bereits im Juni festgenommen wurde, und Veronika Zepkalo war Leiterin des Wahlkampfteams ihres Mannes, Valeri Zepkalo, der nicht zu den Wahlen zugelassen wurde.
- Zitiert aus meinem Buch Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus, Berlin, Suhrkamp Verlag, 2021, S. 138.
- Ebd., S. 156.
- Ebd., S. 57.
- Auch Umfragen zeigten, dass die Mehrheit, d. h. mehr als 90 % der Bevölkerung, den Krieg nicht unterstützt: https://en.belaruspolls.org/wave-8 (letzter Aufruf: 19. April 2022).
- Vgl. dazu Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey (Hg.), Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft, Berlin, Suhrkamp Verlag, 2021.
- Joan C. Tronto, Caring Democracy. Markets, Equality, and Justice, New York, New York University Press, 2013, S. XIII.
Als partizipative Debattenzeitschrift und Diskussionsplattform, treten wir für den freien Zugang zu unseren Veröffentlichungen ein, sind jedoch als Verein ohne Gewinnzweck (ASBL) auf Unterstützung angewiesen.
Sie können uns auf direktem Wege eine kleine Spende über folgenden Code zukommen lassen, für größere Unterstützung, schauen Sie doch gerne in der passenden Rubrik vorbei. Wir freuen uns über Ihre Spende!
