- Geschichte, Gesellschaft, Wissenschaft
Der neueste Geist des Kapitalismus?
Gewerkschaften im Zeitalter von Digitalisierung und Robotisierung
1999 veröffentlichten die französischen Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello ihre Studie über den „neuen Geist des Kapitalismus“1, in der sie insbesondere anhand einer Untersuchung von Fachliteratur zu Betriebsführung und Managementmethoden illustrieren, wie Werte des antiautoritären Flügels der 1968er-Bewegung in den 1970ern und 1980ern zunehmend Bestandteile des unternehmerischen bzw. „managerialen“ Diskurses wurden: Autonomie, Eigeninitiative, Selbstorganisation, Kritik an starren Hierarchien (darunter die „Gewerkschaftsbürokratien“ und Parteiapparate), am geregelten Tagesablauf (Stichwort „métro, boulot, dodo“), an einer langfristigen Karriere- und Lebensplanung…
Das als Rebellion gegen das Establishment gesetzte „Vivre sans temps mort, jouir sans entraves“ wäre demnach zu einem neuen Ordnungsprinzip in der Unternehmensführung geworden, geeignet nicht nur gegen veraltete, „patriarchale“ Managementformen, sondern auch gegen „strukturkonservative“ Gewerkschaften und ein „starres“ Arbeitsrecht. Aus der Kapitalismuskritik erwuchsen nach Boltanski und Chiapello also Argumente, die für eine Erneuerung und Stärkung des Kapitalismus nutzbar wurden. Ähnlich argumentiert der amerikanische Marxist Loren Goldner, dass die poststrukturalistischen und postmodernen Philosophen (Foucault, Derrida, Lyotard…) die passende Ideologie für die Reagan- und Thatcher-Jahre bereithielten.2
Rifkins Visionen
Mittlerweile scheinen die Neuerungen der 1970er und 1980er selbst schon wieder Geschichte zu sein; nunmehr steht angeblich (und wahlweise) die „dritte industrielle Revolution“ oder die „Industrie 4.0“ vor der Tür. Als Prophet und Verkünder dieser neuen „Revolution“ hat sich das luxemburgische Wirtschaftsministerium, in Zusammenarbeit mit der Handelskammer, Jeremy Rifkin ins Haus geholt, um Luxemburg dementsprechend für die Zukunft neu aufzustellen. Der amerikanische Soziologe Rifkin, dessen politische Wurzeln in der Friedens- und Umweltbewegung der frühen 1970er zu verorten sind, ist in den letzten Jahrzehnten vor allem durch steile Thesen aufgefallen, sei es zum „Ende der Arbeit“3, zur „empathische[n] Zivilisation“4 oder neuerdings zur „Null-Grenzkosten-Gesellschaft“5 . Allen diesen Büchern ist gemein, dass darin breit aufgestellte Zukunftsvisionen gesponnen werden, die ökologische Belange mit technologischen Entwicklungen verbinden und als Resultat durchgehend eine Überwindung des Kapitalismus, wie wir ihn in den letzen zwei Jahrhunderten kannten, annehmen. Ebenso schildern sie allesamt die Entwicklung hin zu einer postkapitalistischen, ökologischen und „empathischen“ Gesellschaft.
In der neuesten Fassung dieser Vision, d.h. in seinem jüngsten Werk, zielt Rifkin insbesondere auf die weltweite Vernetzung, die nahezu kostenfreie Bereitstellung von Daten und Software, die Rifkin als „cooperative commons“ (also in etwa „kooperative Allmende“) definiert hat. Durch diese Entwicklung würden die Grenzkosten auf nahezu null reduziert werden, eine Ökonomie des Tausches („sharing economy“) und der Kooperation entstünde. In Verbindung mit der Vision des „Endes der Arbeit“ scheint tatsächlich die marxsche Vision eines Kommunismus bestätigt zu werden, in der „[j]eder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeiten hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun; morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“6 – wenn man so will, ein technoökologischer Kommunismus ohne den Umweg über eine „proletarische Revolution“, gewaltsame Enteignungen und Parteidiktatur.
Mit solchen Thesen und Zukunftsvisionen fristet Rifkin nun keineswegs ein Randdasein als linker Akademiker; er hat es ganz im Gegenteil zum Berater diverser Regierungen (auf seiner Internetseite7 werden u.a. Angela Merkel, Nicolas Sarkozy, José Luis Zapatero und Li Keqiang aufgeführt) und der Europäischen Kommission gebracht. In Luxemburg sind vor allem der ohnehin recht zukunftstechnologiefreudige Wirtschaftsminister Etienne Schneider und, wie bereits erwähnt, die Handelskammer Fans der Rifkinschen Thesen. Ganz unisono ist der Patronatszuspruch zum Projekt Rifkin zwar nicht9 (die Handwerkskammer zeigt sich beispielsweise eher reserviert), jedoch ist die allgemeine Einschätzung doch eher wohlwollend. So schreibt Handelskammerdirektor Carlo Thelen, trotz der Anmerkung einiger Bedenken bezüglich der Anwendbarkeit auf Luxemburg, in einem Blogbeitrag: „ Le prospectiviste Jeremy Rifkin, père de la théorie de la Troisième Révolution Industrielle, laquelle vise à faciliter la transition vers un nouveau modèle économique défini par le couplage des technologies de l’information, des énergies renouvelables et des réseaux de transport intelligents, a trouvé avec le Luxembourg un terreau idéal pour mettre en avant sa vision d’une économie pleinement interconnectée et durable. Le Luxembourg pourrait, à la faveur de ce processus ouvert, devenir un précurseur des idées innovantes lui permettant de relever les grands défis du futur. Ce processus permettrait notamment de valoriser et de compléter une série d’atouts que notre pays développe actuellement à travers sa politique de diversification afin de constituer une base solide pour réaliser ce pas en avant. C’est la première fois qu’un exercice d’une telle envergure est mené au niveau national, avec une figure emblématique de la prospective en la personne de J. Rifkin.“10
Der Präsident der Arbeitnehmerkammer (CSL), Jean-Claude Reding, äußerte sich sehr viel vorsichtiger, auch wenn mittlerweile die CSL auf Einladung des UEL-Präsidenten Michel Wurth am (natürlich) „partizipativen Prozess“ zur dritten indus-
triellen Revolution teilnimmt. In einem Rundfunkbeitrag auf 100,7 erläuterte der ehemalige Gewerkschaftspräsident, die von Rifkin verkündete „sharing economy“ sei nicht unbedingt eine positive Utopie, sondern könnte als Feigenblatt zur Auflösung geregelter Arbeitsverhältnisse herhalten.11
Die schöne neue Welt der Industrie 4.0
Tatsächlich ist die Unternehmerseite nicht zum Rifkinschen Postkapitalismus übergetreten; Rifkins Zukunftsfantasien sind im Gegenteil recht schnell zur Chiffre für einen Generalangriff auf das herkömmliche Arbeitsrecht und das Sozialversicherungssystem geworden, kongenial zusammengefasst in der Formel „Rifkin statt Ponzi“12.
Das Schlagwort „Rifkin“ steht bei der UEL für das grundsätzlich Neue; Begriffe wie Digitalisierung, Robotisierung, Individualisierung, neue Technologien wie Blockchain, 3D-Drucker oder selbstfahrende Automobile, neue Unternehmensformen wie Lyft und Uber vermischen und verknüpfen sich zu einem neuen Ganzen, in dem die seit der (ersten) industriellen Revolution vorherrschenden Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber angeblich zunehmend überholt sein werden. Der scheidende Präsident des Industrieverbandes FEDIL, Robert Dennewald, sagt es klar und deutlich: „Der Roboter wird nie krank und kann drei Schichten arbeiten.“13 Er tritt auch keiner Gewerkschaft bei…
Dementsprechend macht sich der große kommende Umbruch auch als weiteres Element der Zukunftsangst spürbar; so behauptet eine Studie von Deloitte, die auch von Michel Wurth anlässlich der bereits erwähnten Sitzung im Rahmen des europäischen Semesters aufgegriffen wurde, 50% (!) der Arbeitsplätze würden aufgrund der technologischen Entwicklungen im Roboterbereich in den nächsten Jahren überflüssig.14 Statt die phantastischen neuen Möglichkeiten und ihre potentiellen Verbesserungen für Lebensqualität, Mobilität, Gesundheit und Zeitmanagement der Menschen hervorzuheben, reiht sich die „Industrie 4.0“ in eine allgemeine Stimmung des Arbeitsplatzverlustes, des sozialen Abstiegs, der Prekarität, der permanent gewordenen Krise15 ein. Der zukunftsorientierte Optimismus der Technophilen verbindet sich paradoxerweise mit einem quasi institutionalisierten Pessimismus, einer Kultur der Angst.
Gewerkschaften in der Industrie 4.0
Was kann nun die Rolle einer Gewerkschaft in diesem Schema sein? Wird sie schlicht überflüssig, ist sie bloß ein Relikt des Fordismus? Oder soll sie die Rolle des Ludditen und Maschinenstürmers übernehmen und den technischen Fortschritt aus Gründen der Arbeitsplatzsicherung bekämpfen?
Zunächst muss unterstrichen werden, dass die im Rahmen der Rifkin-Initiative beschriebenen Entwicklungen keineswegs so neu und disruptiv sind. Sie stellen in Wirklichkeit lediglich eine neue Etappe im ständigen industriellen Fortschreiten hin zu kürzeren und kostengünstigeren Produktionsabläufen und -prozessen dar. Die Avantgarde wird hierbei ohne Zweifel vom primären Sektor verkörpert: War Anfang des letzten Jahrhunderts der größte Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, so ist der Anteil der Landwirtschaft an der gesamtwirtschaftlichen Produktion heute zu vernachlässigen. Nichtsdestotrotz ist die Produktivität der landwirtschaftlichen Betriebe, bis auf die Ebene der Produktion des einzelnen landwirtschaftschaftlichen Nutzviehs, etwa der Milchkuh, hinab, exponential gestiegen.
Auch in der herstellenden Industrie sind Robotisierung und Digitalisierung wohl kaum als neuartiges Phänomen anzusehen; tatsächlich handelt es sich auch hier um einen langwierigen Prozess, der ebenfalls dazu beigetragen hat, die zur Produktion eines Artikels nötige Arbeitszeit massiv zu senken (ohne dass dies sich in einer parallelen Arbeitszeitverkürzung für den Arbeitnehmer ausgedrückt hat).16
Die mit diesen Entwicklungen verbundenen Produktivitätsgewinne haben bisher weitgehend Kompensationen in anderen Sektoren für den erfolgten Abbau überflüssig gewordener Arbeitsplätze ermöglicht. Es ist allerdings nicht absehbar, ob dies auch morgen noch der Fall ist, wenn auch im tertiären Sektor, im Bereich der Dienstleistungen, zunehmend menschliche Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzt werden. Vor allem stellt sich die Frage, welche Perspektiven für nichtqualifizierte Arbeitskräfte in einer solchen Arbeitswelt noch möglich sind.
Dementsprechend ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Gewerkschaften in diesem Zusammenhang, neben der kritischen Analyse der Entwicklungen und ihrer politischen Instrumentalisierung, die Begleitung der Adaptationsprozesse. Zum Beispiel: Würden morgen Lastwagenfahrer aufgrund selbstfahrender LKWs (vielleicht auch in Verbindung mit einer verstärkten Nutzung des Güterverkehrs auf der Schiene aus Gründen des Klimaschutzes) zunehmend obsolet werden, so hätte dies durchaus auch positive Auswirkungen: Man kann davon ausgehen, dass der selbstfahrende LKW im Prinzip zu größerer Sicherheit im Straßenverkehr führen würde als übermüdete und schlecht bezahlte LKW-Fahrer. Nichtsdestotrotz kann man davon ausgehen, dass sich die Betroffenen, trotz miserabler „work-life-balance“ und Arbeitsbedingungen, gegen die Abschaffung ihres Berufsstandes zur Wehr setzen werden, sofern nicht schon heute die Bedingungen für mögliche Alternativen für die Betroffenen geschaffen werden.
Ein anderes Feld für die Gewerkschaften ist die Organisation vermeintlich neuer Formen der „Selbstständigkeit“, die häufig als Folge von Digitalisierung beschrieben werden, obwohl eigentlich kein zwangsläufiger Bezug zwischen beidem besteht. Sofern diese „Selbstständigen“ sich weiter in hierarchischen Abhängigkeitsverhältnissen innerhalb von vorgeschriebenen Arbeitszeiten und -bedingungen bewegen oder an Weisungen eines Mutterunternehmens gebunden sind, handelt es sich eigentlich bloß um umdefinierte Arbeitnehmer, um Scheinselbstständige im eigentlichen Sinn des Wortes. Dementsprechend macht es Sinn, auch diese Lohnabhängigen gewerkschaftlich zu organisieren und eine Anpassung ihrer Arbeits- und Arbeitschutzbedingungen an die „normalen“ Arbeitnehmer einzufordern.17
Schließlich wird auch das Thema der Arbeitszeit eine noch zunehmendere Rolle spielen. In der Tat sollte es zu einem Arbeitsplatzabbau in den von Deloitte prognostizierten Ausmaßen kommen18,so wird die Verteilung der Arbeit und damit auch der Arbeitszeit, wie auch der Verfügbarkeit über die eigene Lebenszeit, eine zentrale Rolle in der gewerkschaftlichen Aktion zukommen. Es sei darauf hingewiesen, dass der Unternehmer und Zukunftsforscher Jack Straw, Koautor des Bestsellers iDisrupted19, der auf Einladung vom Arbeitsminister am 19. Februar in Luxemburg weilte, anlässlich eines Rundtischgesprächs mit Regierungs-, Patronats- und Gewerkschaftsvertretern ebenfalls der Meinung war, dass die durch neue Technologien ermöglichten massiven Produktivitätsgewinne eine ebenso massive Kürzung der durchschnittlichen Arbeitszeit mit sich ziehen solle. Eine solche Arbeitszeitverringerung solle dementsprechend auch nicht zu einem spürbaren Wohlstandsverlust führen, sondern im Gegenteil ein deutliches Mehr an Freizeit und Lebensqualität für alle Bürger mit sich bringen. Dies sei eine wesentliche Bedingung für die Akzeptanz dieser Prozesse durch die breite Masse der Bevölkerung.
Die Unternehmervertreter taten sich mit einer solchen Aussage schwer, verkünden sie doch eher, dass es notwendig sei, die Arbeitszeiten noch zu erhöhen. Zudem empfinden sie die gewerkschaftliche Forderung einer sechsten bezahlten Urlaubswoche als geradezu utopisch. Zwar sprechen auch sie sich für die viel beschworene bessere Verbindung zwischen Arbeit und Privatleben aus (etwa in der Vereinbarung zwischen UEL und Regierung vom 14. Januar 2015), jedoch scheint damit in der Praxis oft eher die Aufhebung der Trennung von Arbeit und Privatleben gemeint zu sein. Unvorsehbare Arbeitszeitplanung, ständige Verfügbarkeit und Erreichbarkeit werden in immer mehr Sektoren zum Alltag und gestalten die Organisierung des Privat- und Familienlebens zunehmend schwieriger, mit Auswirkungen zum Beispiel auf das Vereinsleben. Hier scheinen es die Unternehmer zu sein, die den „Rifkin-Zug“ verpasst haben und weiter einem Gesellschaftsmodell anhängen, in welchem der Beruf und die Arbeit alle anderen Bereiche der Lebensgestaltung überschattet und bestimmt.
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