Die Bibliothek als Porträt

Eine komplett kritikfreie Würdigung der neuen Nationalbibliothek

Alberto Manguel, Autor zahlreicher Bücher über die Welt der Bibliotheken, der Bücher und des Lesens und gleichzeitig Leiter der argentinischen Nationalbibliothek, beschreibt in Die Bibliothek bei Nacht die „Bibliothek als Porträt“. Das kann das Porträt einer Person sein, es kann aber auch das Porträt eines Kollektivs sein. Unter dieser Perspektive sagt eine Nationalbibliothek natürlich sehr viel aus über Zustand und Selbstbild eines Landes.

Alles ist erleuchtet

Wenn man die neue Nationalbibliothek betritt, die seit letztem Herbst ihre Türen für die Besucher*innen geöffnet hat, und wenn man dann an Manguels Diktum von der Bibliothek als Porträt denkt, muss man sich Luxemburg unweigerlich als ein offenes und wunderschönes Land vorstellen. Eine offene und einladende Architektur von Bolles + Wilson zeichnet den Bau im Inneren und von außen aus. Der neue Ort ist sozusagen das Bauwerk gewordene Gegenteil der alten Nationalbibliothek am Boulevard Roosevelt. Alles ist erleuchtet, das Sonnenlicht strahlt durch die Fenster hinein, und man hofft, diese Erleuchtung möge sich auch auf einen selbst übertragen. Der Platz vor der Nationalbibliothek an der Avenue J. F. Kennedy, an der die Tram hält, soll als zur Bibliothek dazugehörig wahrgenommen werden. Die Bibliothek, das ist Teil des Konzepts, öffnet sich den Bürger*innen, öffnet sich der Stadt. Noch aus dem obersten Stockwerk kann man über eine Balustrade hinab ins Erdgeschoss und bis auf den Vorplatz schauen.

Alles, was hätte schief gehen können, wurde vermieden. Man hätte sich vorstellen können, dass eine dem Zeitgeist geschuldete Eventisierung das Buch in der neuen Nationalbibliothek in den Hintergrund rückt. Man hätte sich vorstellen können, dass – ähnlich wie bei Museum-Shops – die Kommerzialisierung Einzug in die Welt der Bücher gehalten hätte. Man hätte sich vorstellen können, dass die Gastronomie die Oberhand gewonnen hätte. All das ist nicht eingetreten. Im Zentrum steht das Buch. Und wie!

Bücher als Gebrauchsgegenstände

Die luxemburgische Nationalbibliothek hat sich von einem Tresen, an dem man vorbestellte Bücher abholt und möglichst schnell wieder gehen will, zu einem Marktplatz des Wissens entwickelt. Hier sind Bücher, so wie von Brecht und Enzensberger gefordert, echte Gebrauchsgegenstände. Sie stehen hier nicht, um bewundert zu werden, sie warten darauf, in die Hand genommen zu werden. Der direkte Zugang zu ihnen ist von 30.000 in der alten auf 205.000 Bücher in der neuen Nationalbibliothek gestiegen.

Aber nicht nur die freie Zugänglichkeit, auch die Architektur scheint die Menschen anzuziehen. Von Anfang bis Ende 2019 (Neueröffnung war im September) ist die Zahl der eingeschriebenen Nutzer*innen um 50 Prozent gestiegen. Die neue Nationalbibliothek ist eben – im Gegensatz zur alten – passgenau auf die Bedürfnisse an eine moderne, funktionale und einladende Bibliothek ausgerichtet worden. Sie ist sonnenlichtdurchflutet, sie bietet mit ihren zahlreichen Arbeitsplätzen und reservierbaren Arbeitsräumen, Carrells genannt, Rückzugs- und Dialog-Orte, Orte der Stille und Orte des Gesprächs. Und wer Hunger bekommt vom vielen Studieren und Stöbern, geht ins Restaurant, das man im Erdgeschoss eingerichtet hat. Wer sich ablenken will von der Literatur, kann Klavier spielen, CDs hören oder DVDs schauen. Die Nationalbibliothek ist tatsächlich zu einem Ort geworden, der so oft gefordert und so selten realisiert wird: zu einem Ort der Begegnung.

Auch Bücher begegnen sich hier auf schönste Weise. Die Luxemburgensia stehen nun nicht mehr als Sonderfall gesammelt, sondern sind thematisch eingereiht. Luxemburgisches Theater steht neben deutschem Theater, luxemburgische Geografie neben französischer. Eine schöne internationale Mischung, die der Bedeutung des Gegenstandes mehr Beachtung schenkt als der Herkunft. Die Zeitschriften sind alle beieinander, nur die wissenschaftlichen Fachperiodika sind nun thematisch eingereiht.

Die Leistung, solch einen Ort geschaffen zu haben, kann man wohl mit Fug und Recht der Direktorin Monique Kieffer zuschreiben, für die sich, wie es scheint, partout kein*e Nachfolger*in finden lässt. Ihr und ihrem Team ist es zu verdanken, dass die luxemburgische Literatur (und nicht nur die) einen Ort gefunden hat, an dem sie gelesen werden kann. Dass sie sich persönlich wie eine Löwenmutter für ihr Neugeborenes einsetzt, konnten wir erleben, als Kieffer uns vor einigen Wochen eine dreistündige Führung durch die neuen Räume gab. Immer wieder blieb sie dabei stehen und erklärte den auffallend jungen Benutzer*innen, ob diese wollten oder nicht, die automatische Rückgabemaschine oder das Suchprogramm a-z.lu.
Bei aller Kritikfreude, die uns bei forum eigen ist, kann man sich vor diesem Ort nur verneigen, einem Ort, der sammelt (was und wie lesen Sie im Text von Yorick Schmit auf der kommenden Seite), der versammelt (Menschen) und der anregt (den Austausch). Wenn nun auch noch das Veranstaltungsprogramm ausgeweitet wird, dann hat der Kirchberg endlich ein kulturelles Zentrum, das dem Publikum und insbesondere den Jugendlichen weit offensteht.

Post scriptum

Nur ein paar Nörgler und Grantler scheinen unzufrieden zu sein. „Ceci n’est pas une boîte de la Bibliothèque nationale!“, steht am Tag unseres Bibliotheksbesuchs in schwarzen Kapitalen auf dem Briefkasten des Institut Grand-Ducal, dem kleinen Nachbar der neuen Nationalbibliothek. Das Institut mit einer Eingangstür, hinter der man einen Stromverteilerkasten oder die Hintertreppe eines Parkhauses vermutet, scheint mit dem Andrang, mit dem sich die Nationalbibliothek konfrontiert sieht, auch so seine liebe Mühe zu haben. Aktionistische Kunst von Richtung22? Wohl kaum. Surrealistische Spielerei von Lucien Kayser? Vielleicht. Wie auch immer, selbst eine Briefkastenschmiererei wirkt im Angesicht des Neubaus noch wie eine künstlerische Intervention.

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