Die Geschichte als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln
„Politiker gegen Historiker“ titelte das Schweizer Boulevardmagazin Blick, als es um ein Streitgespräch zwischen dem Vizepräsidenten und Charismatiker der rechtsnationalen Schweizer Volkspartei (SVP) Christoph Blocher und dem in Paris lehrenden Schweizer Historiker Thomas Maissen ging. Es war der vorläufige mediale Höhepunkt eines „Historikerstreits“, der seit kurzem in den Feuilletons und Talkshows der Schweiz ausgetragen wird. Als Auslöser gilt das zu Beginn dieses Jahres erschienene Buch Schweizer Heldengeschichten — und was dahinter-
steckt von Thomas Maissen. Darin dekonstruiert der Historiker das Selbstverständnis vom Sonderfall der neutralen Eidgenossenschaft und zielt damit in den Kern des nationalkonservativen Geschichts-
bildes. Maissen entzaubert die Schweizer Nationalgeschichte beruhend auf den Schlachten von Morgarten 1315 und Marignano 1515, Wilhelm Tell und den Bündnisschwur als im Nachhinein konstruierte Mythen. Getreu des Schweizer Werbespruchs: Und wer hat’s erfunden?
Eigentlich ist es verwunderlich, dass Maissens Werk (noch) eine derartige Debatte auslöst. Die Erkenntnis, dass das historische Fundament der europäischen Nationalstaaten auf der Vorstellungswelt von Historikern aus vorwiegend dem 19. Jahrhundert beruht, sollte im Jahre 2015 niemand mehr überraschen —
geschweige denn empören. Ferner meint auch der in Oxford lehrende Historiker Oliver Zimmer in einem Gastbeitrag der Neuen Züricher Zeitung: „Das Dekonstruieren von einst für wahr Gehaltenem ist nicht mehr sehr innovativ.“ Ähnlich sieht es die Berner Historikerin Brigitte Studer, fügt jedoch hinzu, dass „es gar nicht um Geschichtswissenschaft, sondern um Geschichtspolitik“ gehe. Was sie damit meint, wird mit einer Aussage des Chefredakteurs der Weltwoche und SVP-Politikers Roger Köppel deutlich:
„Die letzten dreißig Jahre standen im Zeichen der linken Geschichtsschreibung. Die Schweiz durfte es nicht mehr geben. Es herrschte ein Kulturkampf gegen das überlieferte, plötzlich konservativ genannte Schweizbild, das an den Schulen gelehrt wurde. […] Mythenzertrümmerung hatte Hochkonjunktur. Die Universitäten betrieben Geschichtswissenschaft als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“
Was der konservative Köppel abwertend als „linke Geschichtswissenschaft“ bezeichnet, ist der Versuch, mittels wissenschaftlicher Methodik sicher geglaubte Öberlieferungen in Frage zu stellen und auf Herz und Nieren zu überprüfen. Das Instrument zur Analyse heißt Dekonstruktion und geht auf die französische Philosophie Ende der 1960er zurück. Allerdings erlebte es seinen Durchbruch in der Geschichtswissenschaft erst im vom deutschen Historiker Hans-Ulrich Wehler zum „annu mirabilis“
ernannten Jahr 1983. Die gleichzeitig erschienen Werke Invented Tradition (Hobsbawm/Ranger), Imagined Communities (Anderson) und Nations and Nationalism (Gellner) legten die theoretische Grundlage, welche die Vorstellung von ewigen Nationen ins Wanken brachte. Galten Nationen vorher als essentielle Wahrheit, wurden sie fortan als von Menschen konstruierte Gebilde betrachtet.
Für das konservative Selbstverständnis eines Blocher oder Köppel musste diese Neuerung einem Ikonoklasmus gleichkommen. Denn Konservative wollen nicht nur, dass die Welt so bleibt wie sie ist — sie soll vor allem auch so bleiben, wie sie war. Die Bilder der Vergangenheit wurden jedoch nach und nach mit dem Hammer abgeklopft und zerstört. Oder um es mit Friedrich Nietzsches Worten zu sagen: „Götzen-Dämmerung — auf deutsch: Es geht zu Ende mit der alten Wahrheit.“
Roger Köppel zeigt allerdings mit seiner Aussage in der Weltwoche, dass er diese Form von historischer Wissenschaft nie als solche anerkannte. Er sieht in der Dekonstruktion kein wissenschaftliches, sondern vielmehr ein politisches Instrument. Der Abbau der Nationalgeschichte diene dem Zweck, die Singularität der Schweiz zu relativieren und sie in die Europäische Union zu führen. Anstelle von mehreren nationalen Narrativen soll eine gemeinsame
europäische Erzählung treten.
Dass ein solcher Vorwurf nicht an jedem Historiker vorbei geht, zeigt Konrad H. Jarausch. Dieser hatte vor einigen Jahren vor der „Treitschke-Versuchung” der Geschichtswissenschaft gewarnt. Damit bezieht er sich auf das Wirken von Heinrich von Treitschke, einem überzeugten deutschnationalen Historiker des 19. Jahrhunderts, der die Entstehung des Deutschen Nationalstaats mit der passenden Geschichtserzählung begleitete. Für Historiker wie Jarausch gilt es heute, der Tendenz zu widerstehen, den Prozess der europäischen Integration unkritisch durch die Konstruktion einer europäischen Meistererzählung zu rechtfertigen.
Die Schweizer Debatte um die Mythen der Vergangenheit zeigt, warum viele Historiker nur ungern in den medialen Ring steigen. Zu schnell steht der rufschädigende Vorwurf im Raum, mit der eigenen Forschung politische Anliegen untermauern zu wollen. Das ist letztlich bedauerlich, da die internationale „Karawane der Geschichtswissenschaft“, wie Oliver Zimmer betont, längst über nationale Helden und Mythengeschichten weitergezogen ist und zu anderen Fragestellungen und Herausforderungen der Gegenwart forscht. u
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