- Kultur
Die Klasse von 77
Ein Punkrock-Roman (Leseprobe)
Leseprobe (Kapitel 1: Nikolaustag)
Tack. Tock. Tack.
Das war kein Traum. Irgendjemand klopfte an mein Zimmerfenster. Der Nikolaus?
Langsam wurde ich wach. Nein, der Nikolaus konnte es nicht sein, an den glaubte ich ja nicht mehr. Ich setzte mich im Bett auf. Hatte mein Vater wieder die Fenster verwechselt? Oder war er vom Dach gerutscht und baumelte jetzt an der Regenrinne, dabei mit den Stiefeln gegen meine Fensterscheibe stoßend? Dass er in seinem Alter noch den Nikolaus spielte, fand ich mehr als albern. Er war jetzt über dreißig, da begann der Muskelabbau und die Reflexe waren auch nicht mehr die eines jungen Hüpfers. Wegen mir hätte er es nicht machen müssen. Auf welchem Weg die Geschenke mich erreichten, war mir herzlich egal. Hauptsache sie kamen an. Hoffentlich war dem Playmobilpiratenschiff nichts passiert. Aber die Dinger waren echt robust. Hochseetüchtig, wenn man dem Hersteller trauen wollte. Ich knipste die Nachttischlampe an. Normalerweise schlich mein Vater sich auf den Dachboden, wo die Geschenke versteckt waren, stieg dann zur Dachluke raus und seilte sich in Nikolauskluft samt Geschenkesack zum Wohnzimmerfenster im ersten Stock ab. Ich sah auf meinen Radiowecker: 23:32. Das war zu früh. Vor vier Uhr morgens wurde er nie aktiv, da war das Risiko zu groß, dass ich noch wach war und ihm auflauerte, um ihn zu enttarnen. Er kannte meine Abläufe fast so gut, wie ich die seinen.
Wieder Klopfen ans Fenster, dringlicher diesmal. Ich stand auf und ging nachsehen. Unten in unserem Garten stand eine hagere Gestalt im prasselnden Regen und bewarf mein Fenster mit Steinchen. Wie in einem schlechten Kinderbuch. Gähn.
Ralphie, mein bester Freund, konnte es nicht sein, der hatte einen Zweitschlüssel. Und selbst wenn er den Schlüssel verloren hätte: Auf so was Abgeschmacktes, wie Kieselsteinchen gegen mein Fenster schmeißen, wäre er nie verfallen. Er hätte einfach geklingelt. Ralphie war einer, der nicht lang fackelte.
Ich stellte Heinz-Rudolf III., meine Venusfliegenfalle, vom Fenstersims auf den Boden und öffnete das Fenster. Die Gestalt fuchtelte mit den Armen, sie schien einen Buckel zu haben, aber ich konnte alles nur verschwommen erkennen. Vielleicht sollte ich besser meine Brille aufsetzen. Ich ging zurück zum Nachttisch und nahm auch gleich die Stabtaschenlampe aus der Schublade. Wenn schon Kinderbuchklischees, dann richtig.
Im Lichtkegel der Taschenlampe erkannte ich, wer es war: Da zappelte mein Cousin Iggy und machte mir Zeichen, die ich nicht deuten konnte. Der Buck-
el entpuppte sich als Seesack, den er um die Schulter hängen hatte.
„Hallo, alter Knabe“, sagte ich, „so spät noch unterwegs?“
Cousin Iggy legte den Finger auf den Mund und zeigte auf einen Punkt genau unter meinem Fenster. Ah, die Eingangstür. Dann wollte er wohl reinkommen. Um diese Uhrzeit. Wie ungewöhnlich.
Ich lief nach unten und öffnete lautlos die Tür. Iggy schlüpfte herein. Er war tropfnass und noch dünner, als ich ihn in Erinnerung hatte. Cousin Iggy war schon vierzehn und der einzige meiner Cousins, zu dem ich einen Draht hatte. Ein blitzgescheiter Kopf.
„Wenn du dich vorher angemeldet hättest, dann hätte ich mich gerichtet und meiner Mutter aufgetragen, dir etwas zu kochen.“, begrüßte ich ihn vorwurfsvoll.
„Schon in Ordnung, Kleiner“, flüsterte Cousin Iggy und wuschelte mir durchs Haar.
„Begib dich schon mal in meine Gemächer. Ich komme dann gleich nach,“ sagte ich und deutete auf die Treppe ins erste Stockwerk. Cousin Iggy huschte treppauf. Ich ging in die Küche, nahm eine Flasche Limo und eine Tafel Schokolade aus dem Kühlschrank und eilte auf Zehenspitzen in mein Kinderzimmer. Gäste musste man fürstlich bewirten, egal zu welcher Stunde sie hereinschneiten.
Cousin Iggy saß im Schneidersitz auf dem Boden und rubbelte sich das nasse blonde Haar mit einem T-Shirt trocken. Regenbahnen liefen über seine schwarze Lederjacke und bildeten kleine Pfützen auf dem Boden. Seine Jeans hatten Löcher an den Knien. Im Lichtstrahl der Stabtaschenlampe wirkte sein Gesicht sehr blass.
„Mach das Ding aus“, sagte er und hielt sich die Hand vor die Augen. Ich legte meine Taschenlampe in die Nachttischschublade, dann schloss ich das Fenster und stellte Heinz-Rudolf III. wieder zurück an seinen Platz. Ich drehte die Heizung unter dem Fenstersims ein wenig auf. Heinz-Rudolf III. verkühlte sich immer so leicht. Und Cousin Iggy sah auch aus, als könnte er ein bisschen Wärme vertragen.
Ich ließ mich auf das Bett fallen, dass die Federn krachten: „Was liegt an, werter Gevatter, dass du mich zu dieser unchristlichen Uhrzeit überfällst?“, fragte ich Cousin Iggy.
Der grinste: „Hast du immer noch nicht gelernt, normal zu reden? Aber im Ernst: Ich stecke in Schwierigkeiten.“
In Schwierigkeiten, wie aufregend. Charles Dickens ick hör dir trapsen. Ich beugte mich nach vorn und blickte Cousin Iggy in die Augen: „Ich bin dein Mann. Schwierige Fälle sind mein Spezialgebiet.“
„Kann ich heute Nacht hier bleiben? Ich bin aus dem Internat weggelaufen. Hab’s nicht mehr ausgehalten, bei den Pfaffen.“
Aus. Dem. Internat. Weggelaufen. Wie konnte er nur? Ich hatte mein ganzen Leben lang davon geträumt, in einem Internat zu sein, wild und frei, auf Du und Du mit Burggespenstern, rätselhafte Fälle lösend.
„Bei den Jungs aus meiner Gang werden sie nach mir suchen. Hier wird mich niemand vermuten.“
Ich betrachtete Cousin Iggy ein wenig genauer. Unter dem rechten Auge war ein Bluterguss und seine Lippe war aufgeplatzt, am Mundwinkel klebte getrocknetes Blut. Als er meinen Blick bemerkte, betastete er die Stelle.
„Klar kannst du hierbleiben. Was ist denn passiert?“, fragte ich.
„Das willst du nicht wissen.“, sagte Cousin Iggy und biss ein großes Stück von der Schokoladentafel ab. Er öffnete den Seesack und holte einen Schlafsack heraus. „Ich könnte auf dem Dachboden…“
„Dachboden ist nicht sicher.“, unterbrach ich ihn „Mein Vater spielt Nikolaus…“
„Ach, du Scheiße, das hab ich ganz vergessen…“
Den Nikolaustag vergessen. In was für einer Welt lebte der Mann?
„Dann schlaf ich einfach hier auf dem Boden.“ Cousin Iggy schaufelte Comichefte, Ritterfigürchen, Bücher, Spielzeugpanzer und versteinerte Trilobiten beiseite, rollte den Schlafsack aus und streckte sich darauf aus. „Ist nur für diese eine Nacht“, sagte er. „Morgen früh zieh ich weiter. Ich geh nach London.“
„Nach London“, hauchte ich ehrfürchtig. „Kann ich mit? Mein Englisch ist für einen Neunjährigen ganz passabel.“
„Und was wird dann aus ihm?“ Cousin Iggy deutete auf Heinz-Rudolf III.
Da hatte er nicht unrecht. Meine Mutter fürchtete sich vor der Pflanze und wagte sich nicht in ihre Nähe. Seit ich angefangen hatte, Heinz Rudolf III. mit Fischstäbchen und Rahmspinat zu füttern, war er ganz schön gewachsen.
„Wenn ich erstmal in London bin, kannst du ja nachkommen.“, sagte Iggy.
„Kennst du denn Leute da?“
„Ich hab Adressen. Freunde von Freunden. Ich komm schon unter, keine Sorge.“
„Brauchst du Geld?“ Ich deutete auf mein Sparschwein.
Cousin Iggy zog ein dickes Bündel Geldscheine aus der Jackentasche und wedelte damit vor meinem Gesicht herum.
„Wow, wo hast du die denn her?“
„Frag lieber nicht.“ Iggy stecke das Geld wieder ein. „Bis London wird’s reichen. Und da such ich mir dann Arbeit.“
Uh, Arbeit. Das klang aber gar nicht gut. „Keine Angst, nur vorübergehend“, sagte Iggy. „Wenn ich genug Geld zusammen hab, kauf’ ich mir ‘ne Gitarre und gründe eine Punkband. Hast du schon von Punk gehört?“
Ich schüttelte den Kopf.
Iggy grub eine Kassette aus seinem Seesack und reichte sie mir. „Das ist Punk. Kannste behalten. Als kleines Dankeschön.“
„Ramones – Ramones“, las ich auf dem Kassettendeckel. Gleich zwei Bands, die „Ramones“ hießen. Was es nicht alles gab. Ich verstaute die Kassette unter meinem Kopfkissen.
Cousin Iggy schlüpfte in den Schlafsack und gähnte. Der wollte doch nicht etwa schlafen? Die Nacht hatte gerade erst begonnen. „Was sollen wir spielen?“, fragte ich.
„Bin zu müde zum Spielen.“
„Ich bin aber gar nicht müde“, entgegnete ich.
„Dann lies mir doch was vor. Aber nicht zu laut.“
Ich nahm das Buch über dem ich eingeschlafen war: „Die Schatzinsel.“
„Ist leider nur die deutsche Übersetzung“, sagte ich entschuldigend.
„Macht nix“, murmelte Iggy schlaftrunken, „wenn ich in erstmal in London bin, besorg ich dir das Original.“
Als ich mit vor Aufregung bebender Stimme die krasse Stelle vorlas, wo Long John Silver die Meuterei lostritt, bemerkte ich, dass Cousin Iggy eingeschlafen war. Der Junge musste Nerven wie Drahtseile haben. Ich schaltete das Licht aus. Den Wecker zu stellen war nicht nötig, das Aufwecken würde mein Vater erledigen.
Das Klirren von Glas riss mich aus dem Schlaf. Hatte er also vergessen, das Wohnzimmerfenster offen zu lassen. Oder meine Mutter hatte es nach ihm wieder geschlossen, wegen der gefährlichen Zugluft.
Cousin Iggy war schon auf und packte seine Sachen.
Das hier war ein guter Moment, um unbemerkt zu entkommen. Mein Vater kehrte die Scherben unter den Schrank und baute die Geschenke im Wohnzimmer auf, meine Mutter musste sich schlafend stellen.
„Wir sehen uns“, sagte Iggy und drückte mich kurz.
„Danke für die Musik“, sagte ich.
Cousin Iggy öffnete das Fenster, warf seinen Seesack runter und sprang hinterher. Hui. Das waren mindestens drei Meter. Musste ich auch mal versuchen. Er schulterte den Seesack, winkte mir noch einmal zu, dann lief er die Straße hinunter und verschwand um eine Ecke.
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