Ich weiß nicht, kann ich was bedeuten,
Obwohl ich lützel bin;
Ein Mädchen mit Eigenheiten,
Das spukt seit meinem Beginn.

Die Tür ist zu und man munkelt,
Denn samstags bleib ich allein;
Das Licht im Schlüsselloch funkelt:
Scheiß drauf! Heut schau ich rein.

Da liegt sie ohne Kleider
Im Bad zur Schönheitskur;
Sie will für sich sein (Weiber!)
Und richtet grad die Frisur.

Sie kämmt mit nem goldenen Schlüssel,
Und singt auch: tralala;
Das ist, vom Kopf bis zur Schüssel,
Bloß meine Melusina.

Ich spitze auf ihre Beine,
Doch whaaaat!? Ist das Mummenschanz?
Dort planschen nämlich gar keine,
Stattdessen ein schuppiger Schwanz!

Da plötzlich flieht sie aus dem Fenster!
Und ich? Werde Stadt-Demiurg;
Seither sieht mancher Gespenster
In Luci-Lin, der Burg.

Heinrich Heine
Lore-Ley

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.

Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar,
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.

Sie kämmt es mit goldenem Kamme,
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.

Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.

Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley getan.

Heinrich Heine, Buch der Lieder (1844),
Frankfurt a. M., S. Fischer, 2008, S. 115-116.

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