Die Macht lokaler Öffentlichkeiten

Einführung ins Dossier

Als Jürgen Habermas 1962 – weniger als 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – seine Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit veröffentlichte, ging es ihm um die Konzeption eines Politikverständnisses, das geeignet sein könnte, erneute Tendenzen des Totalitarismus zu verhindern und Demokratie zu sichern. Er stellte ein Konzept von Öffentlichkeit ins Zentrum, mit dem Politik als öffentliche Angelegenheit begriffen werden sollte, die alle Bürger*innen eines Staates gleichermaßen angehe und von diesen diskutiert, kontrolliert und entschieden werden müsse. Diese Öffentlichkeit, verstanden als herrschaftsfreie Sphäre der Meinungsäußerung und Willensbildung, weder durch den Markt noch durch die Politik dominiert, leitete er ab aus den Zusammenschlüssen räsonierender Bürger in englischen, französischen und deutschen Salons, Kaffeehäusern und Tischgesellschaften, die sich ab dem 17. Jahrhundert herausbildeten. Im Zuge der Indus­trialisierung und der Herausbildung der modernen Staaten aber sei es, so seine Diagnose, zu einem zunehmend großen Einfluss von Politik und Wirtschaft auf die öffentliche Sphäre gekommen, und die aufkommenden Massenmedien hätten, so Habermas 1962, nicht emanzipatorisch, sondern gefährlich gewirkt. Er befürchtete, ganz im Sinne der kulturtheoretischen Annahmen seiner Lehrer Adorno und Horkheimer, die Transformation von räsonierenden zu nur noch kulturkonsumierenden Bürgern, sah das demokratiesichernde Moment der Öffentlichkeit in Gefahr.

Das ist Kulturkritik von gestern. Selbst Habermas hatte diese medienkritische Zuspitzung 1990, anlässlich eines Vorwortes einer Neuausgabe zu seinem Epochenwerk, zurückgenommen. „Kurzum, meine Diagnose einer geradlinigen Entwicklung vom politisch aktiven zum privatistischen, ‚vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum‘ greift zu kurz.1 Überhaupt: Die Stärke der Zivilgesellschaft, für die der Philosoph 1962 noch keinen Begriff hatte, hebt er nun, 28 Jahre nach Erscheinen der Originalausgabe, hervor und misst ihr einen direkten oder impliziten Einfluss auf die öffentlichen Debatten bei.2 Zahlreiche Studien sind seitdem erschienen, die den Zusammenhang von Öffentlichkeit und ihren Medien im Spannungsfeld von Politik und Zivilgesellschaft untersucht haben. Und die Zeit ist fortgeschritten und mit ihr die technologischen Entwicklungen.

Zu viel Information?

Es ist interessant, sich diese Debatte zwischen Habermas 1962 und Habermas 1990 erneut in Erinnerung zu rufen, wenn man über den heutigen Zusammenhang von Öffentlichkeit und Medienlandschaft nachdenkt. In forum haben zuletzt Oliver Kohns (April 2019)3 und Antje von Ungern-Sternberg (Januar 2020)4 – der eine pessimistischer, die andere zuversichtlicher – dies systematisch getan. Die Auflagenzahlen im Print-Journalismus gehen zurück, die sozialen Medien sind für viele Menschen zur ersten Informationsquelle geworden. Die These scheint mir evident, dass sich der freie Zugang der Menschen zum Wissen vervielfacht, damit aber auch partikularisiert hat. Bitte lesen Sie diese Zeilen nicht als wütende Abrechnung eines mittelalten Mannes mit Facebook und Co. (die erstens nichts bringt und von denen es zweitens schon genug gibt). Ganz nüchtern und beobachtend möchte ich nur festhalten, und dazu muss man weder Kommunikationswissenschaften noch Philosophie studiert haben, dass der Tag noch immer 24 Stunden hat und die Selektionsfunktion, die den Tageszeitungen in der Ära ihrer Hochzeit zukam, verloren gegangen ist. Sieht man von den freilich noch immer existierenden, aber ständig weniger rezipierten journalistischen Formaten ab, sind die einzigen Filter, mit denen das überbordende Weltwissen heute selektiert wird, die Algorithmen und die individuellen Präferenzen ihrer Endnutzer*innen. Immer weniger, auch das eine ganz nüchterne Beschreibung, kann man annehmen, dass ein Gegenüber am Vormittag die gleichen Informationen verarbeitet hat wie man selbst. Die ganz logische Folge daraus aber ist die, dass ein geteiltes Set an Informationen verlorengeht, ein Set, das Grundbedingung für eine Debatte über die Dinge, die uns alle angehen, über die res publicae, ist. Und aus dieser Perspektive wird es schwierig, von nationaler oder gar übernationaler funktionierender Öffentlichkeit zu sprechen. Ein Blick also auf kleinere Einheiten, auf das Lokale, kann lohnend sein, wenn man auf der Suche nach intakten Öffentlichkeitsstrukturen ist.

Auf der Suche nach der kleinsten Einheit

Historisch gesehen war es der Marktplatz in der Antike, die agora, wo die Dinge des gemeinsamen Lebens diskutiert wurden. Dort sind sich die Bürger körperlich, von Angesicht zu Angesicht, begegnet. Und auch heute noch lassen sich in einer kleinen Gemeinde viel eher direkte Interaktionen zwischen den Bürger*innen sowie zwischen Politik und Zivilgesellschaft herstellen als auf nationaler Ebene (siehe dazu auch einige der Antworten auf unsere 3 Fragen an die Gemeindepolitik). Probleme, die es in den Gemeinden zu lösen gilt, können viel konkreter angegangen werden. Lösungen können schneller gefunden und zeitnah umgesetzt werden. Chancen zur echten zivilgesellschaftlichen Partizipation lassen sich viel eher einlösen als auf einer höheren Ebene. Ein Verein oder eine Bürger*inneninitiative kann viel eher Gehör finden bei lokalen als bei nationalen Autoritäten. Natürlich gibt es auch hier zahlreiche Beispiele, wo das nicht funktioniert, man denke nur an die Pseudo-Partizipation bei der Neugestaltung des Wohnviertels rund um das alte Stadion in der Hauptstadt. Aber tendenziell, Dudelange und das dortige Modell der Bürger*innenbeteiligung, das wir vor zwei Monaten vorgestellt haben, ist nur ein Beispiel, hat echte Partizipation auf lokaler Ebene beste Zukunftsaussichten.

Dass die neuen digitalen Möglichkeiten dabei auch Chance und nicht nur Gefahr sein können, zeigen Alexa Keinert von der FU Berlin und Renate Fischer von der Universität Zürich, die gemeinsam in einem Forschungsprojekt zu lokalen Öffentlichkeiten und Digitalisierung arbeiten, in unserem Dossier. Ausgehend von einer „Krise eines Idealbildes von Öffentlichkeit“ stellen sie fest, dass sich die Voraussetzungen für Öffentlichkeit radikal geändert hätten: Globalisierung, Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaften, technologische Innovationen und veränderte Kommunikationsmodi seien zu berücksichtigen, wenn über Öffentlichkeit diskutiert würde. Sie beschreiben eine durch Digitalisierung und neue Kommunikationswege zwischen Politiker*innen und Bürger*innen gewachsene Hoffnung auf „mehr Partizipation und Transparenz im demokratischen Prozess, steigendes Vertrauen in die lokale Politik sowie die Stärkung der lokalen Gemeinschaft“. Aus dieser Perspektive gewinnt die Digitalisierung sogar eine demokratiefördernde Macht.

Indes, Demokratie muss erlernt werden. Und zwar im direkten Austausch von Mensch zu Mensch. Dazu gehört es auszuhalten, dass es Menschen mit anderen Meinungen, Positionen und Lebensstilen gibt. Kommt es zu Konfrontationen, müssen Gemeinschaften verhandeln und sich Regeln geben. Das beginnt in der Familie, setzt sich in der Schule fort und geht weiter über Dorf zu Stadt zu Land zu Staatenbund. Die Gemeinden haben aufgrund relativer Kleinheit dabei die große Chance, etwas gegen Politikverdrossenheit und gesellschaftliche Zersplitterung zu tun. Ihnen kann es gelingen, wenn sie ihren Job ernst nehmen, die Menschen, für die sie da sind, einzubinden in Entscheidungsprozesse und das zu befördern, was im Großen so oft scheitert: das gemeinsame Aushandeln von Einzelinteressen zum Wohle aller. Die kleine Einheit, das Lokale, bietet sich besonders an, da hier die res publicae sinnlich erfahrbar sind.

Chancen

Einige schöne Beispiele für Initiativen auf lokaler Ebene finden Sie diesen Monat in unserem Dossier. In Luxemburg arbeiten zahlreiche Vereine, Initiativen und Strukturen daran, über Öffentlichkeit soziale Kohäsion zu stiften, wo sie auf einer nationalen Ebene zunehmend auseinanderbricht (zu sozialen Spaltungen vgl. auch das Dossier in forum 370). Kohäsion kann über die Mitwirkung bei der Feuerwehr, die Mitgestaltung kirchlichen Gemeindelebens oder das Engagement für ein Gemengebuet gestiftet werden. In unserem Dossier haben wir verschiedene andere Möglichkeiten versammelt.

Serge Simon vom Lokalsender Medernach, Radio R.O.M., berichtet über die Bedeutung der Lokalradios. Er zeigt, dass Lokalradios nicht nur über lokale Ereignisse berichten, sondern diese auch anstoßen oder mitorganisieren. Das Radio wird so zu einem wichtigen Faktor lokaler Integration. Die Bedeutung des direkten Austausches, der ehrenamtlichen Initiative und des menschlichen Miteinanders zur Gestaltung eines guten Zusammenlebens zeigen die Beiträge von Philippe Eschenauer über Initiativen der ASTI und von Brigitte Ley über die luxemburgischen Jugendstrukturen. Die Erfolgsgeschichten, die in beiden Artikeln zur Sprache kommen, sind eigentlich Beweis dafür, dass in Luxemburg die lokal initialisierte ehrenamtliche Arbeit funktioniert. Es sind Achsen, die von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind, wenn es um die Einbindung von Migrant*innen (ASTI) und Jugendlichen (Jugendstrukturen) geht. Im Gespräch mit Pit Ludwig, dem Vorsitzenden des Syndicat d’initiative Eich-Dommeldange-Weimerskirch schließlich hat Pierre Lorang die bedeutende Rolle der Syndikate erkundet: „Man versteht sich als Stimme der örtlichen Bevölkerung, als Bindeglied zu den Politikern auf dem Knuedler und den Mitarbeitern der kommunalen Verwaltungsdienste“, resümiert Lorang die Bedeutung dieser Vermittler, die auf Stadtteilebene Erstaunliches leisten.

Luxemburg als Sonderfall

Auf der Ebene der Politik ist Luxemburg natürlich insoweit ein Sonderfall, als dass es zwischen Gemeindepolitiker*innen und Landespolitiker*innen zu zahlreichen personellen Verflechtungen kommt. Das berührt vorderhand das Problem der Doppelmandate. Ein*e Abgeordnete*r, die*der gleichzeitig Bürgermeister*in ist, stellt bei uns beileibe keine Ausnahme dar (momentan gibt es 14 Bürgermeister*innen, die gleichzeitig als Abgeordnete in der Chamber sitzen), führt aber nicht nur zu zeitlichen, sondern auch zu Konflikten in Bezug auf verschiedene Interessen. Wie sechs Gemeindepolitiker*innen, von denen drei zudem Abgeordnete in der Chamber sind, über diese Frage denken, welche Unterschiede sie in Bezug auf Kompetenzen in der Landes- und Gemeindepolitik sehen und was sie zur Verödung der ländlichen Gemeinden sagen, können Sie in unseren 3 Fragen an die Gemeindepolitik lesen.
Der lokale Raum

Stichwort Verödung. Im Gegensatz zur Netzöffentlichkeit ist lokale Öffentlichkeit an einen konkreten geographischen Raum gebunden. Nicht nur für Schlagzeilen, sondern für landesweiten Unmut und nun auch politischen Protest sorgte im Februar die Ankündigung der Spuerkeess, bis Ende März elf ihrer Filialen zu schließen. Diese Entscheidung ist ein weiteres Teilchen in dem Prozess der zunehmenden Schließung von Banken- und Postfilialen sowie Polizeistationen. Nun aber schlagen die Gemeindepolitiker*innen Alarm. Am 28. Februar gaben die Bürgermeister*innen von Roeser, Fels, Kopstal, Rümelingen, Mertert, Winseler und Colmar-Berg auf einer Pressekonferenz bekannt, dass sie diese Entscheidung nicht einfach so hinnehmen wollten. In einem gemeinsam unterzeichneten Brief fordern sie nun den Premierminister zum Handeln auf. Und handeln kann er, da die Banque et Caisse d’Epargne de l’Etat zu 100 Prozent in staatlicher Hand ist. Fünf Mitglieder des Verwaltungsrates der Spuerkeess werden von der Regierung gestellt. Tatsächlich ist der Aspekt der attraktiven Gemeinden, in denen man, um ein Merkel-Wort aufzugreifen, gut und gerne lebt, von nicht zu unterschätzender Bedeutung für eine funktionierende lokale Öffentlichkeit. Wo die Infrastrukturen (medizinischer, administrativer oder städtebaulicher Art) zerfallen, ziehen die Menschen weg. Wer es sich leisten kann, in die größeren Städte, wer nicht, in die nächst gelegene kleinere Ortschaft oder ins Ausland.

Was tun?

Wollen wir die lokalen Öffentlichkeiten schützen, weil wir sie als unabdingbare Bestandteile einer Demokratie begreifen, muss einiges getan werden. Von Seiten der Politik müssen die Bürger*innen als wertvolle Ressource begriffen werden. Sie dürfen nicht als Störfaktor oder bloße Wähler*innen gesehen werden, sondern als Expert*innen der Umgebung, in der sie leben. Sie sind es, die wissen, was sie brauchen, sie sind es, die wissen, was stört. Sie sitzen morgens im Bus oder im Auto, sie holen ihre Kontoauszüge von der Bank und bringen ihre Kinder zur Schule. Die Expertise der lokalen Expert*innen, derjenigen, die die Straßen, Viertel, Dörfer und Städte bewohnen, müssen immer wieder und zunehmend einbezogen werden in Diskussionen darüber, wie sie leben wollen. Der kürzlich beschlossenen Neugestaltung des Zentrums in Leudelingen etwa ging eine intensive Bürgerbeteiligung voraus. Der Masterplan, der bis 2031 umgesetzt werden soll, ist radikal von den Interessen der Bürger*innen her gedacht. Ein schönes Beispiel, wie sie funktionieren kann, die Aushandlung einer lokalen Öffentlichkeit.

Das Lokale als Schule der Nation

Letztendlich kann die lokale Öffentlichkeit Schule werden für nationale Öffentlichkeit. Durch gelebte Demokratie in den Familien und in den Jugendhäusern, in den Vereinen und Versammlungen in einem Dorf oder einer Stadt, lernen schon junge Menschen (und reifere auch), sich damit auseinanderzusetzen, dass sie nicht allein sind in der Welt, dass die Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens mehr sind als die Summe ihrer Teile. Dass wir aushandeln und Konsens finden, dass wir Kompromisse eingehen müssen. Dass wir aber auch für unsere Interessen kämpfen müssen. Und für die Interessen derjenigen, die (noch) nicht präsent sind in unseren Öffentlichkeiten, aber in unseren Gemeinden leben. Es geht darum, im Lokalen einzuüben, was sich auf nationaler Ebene fortsetzen muss: Gemeinsam Probleme zu identifizieren, Lösungsvorschläge zu diskutieren und zu Umsetzungen zu kommen, die den sozialen Zusammenhalt stärken und gelingendes Leben ermöglichen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

  1. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1990, S. 30.
  2. Ebd., S. 46.
  3. Oliver Kohns, „Krise der Öffentlichkeit. Einige Überlegungen zur Situation der Medien in der Gegenwart“, in: forum 394, April 2019, S. 11-13.
  4. Antje von Ungern-Sternberg, „Zwischen Freiheit und Regulierungsbedarf. Demokratische Meinungsbildung im digitalen Zeitalter“, in: forum 402, Januar 2020, S. 49-52.

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