Die sexuelle Revolution und ihre Nachkommen
In unserer Gesellschaft ist Pornographie allgegenwärtig. Doch die notwendige Debatte darüber fehlt.
Als ich beschlossen hatte, diesen Artikel über Pornographie zu schreiben, erntete ich des Öfteren Gelächter von Bekannten, denen ich von meinem Vorhaben erzählte. Ich habe schnell erkannt, dass die meisten das Thema einerseits als belustigend empfinden, andererseits wohl auch als etwas beschämend — jeder Mensch mit Internetzugang hat wohl mindestens schon einmal auf Pornographie „zurückgegriffen“, gibt es aber nur ungern in der Öffentlichkeit zu. Manche Infografiken, denen ich auf meiner Suche begegnet bin, weisen ausdrücklich darauf hin, dass Internetseiten mit pornographischem Inhalt jeden Monat mehr Andrang haben als Twitter, Amazon und Netflix zusammen.
Da es sich allerdings aus verständlichen Gründen als nicht besonders einfach erweist, ernstzunehmende internationale Studien, geschweige denn zuverlässige Statistiken zu diesem Thema zu finden, scheint es mir klüger zu sein, davon auszugehen, dass eine hohe Anzahl von Erwachsenen und Jugendlichen sich regelmäßig Filme pornographischer Natur anschaut. Es sei noch kurz angemerkt, dass sich bei der Internetsuche nach Studien über den Konsum von Pornographie eine Flut von Seiten offenbart, die den Nutzer zur Abstinenz, meist im direkten Zusammenhang mit göttlicher Erlösung, überreden will. (Der Bundesstaat Utah soll innerhalb der USA auf Platz 1 des Porno-Konsums liegen.) Ebenfalls erwähnenswert scheint mir der Titel eines Artikels, der in der Berner Zeitung erschienen ist: „Menschen schauen sich gerne süße Tierchen und Porno an“.
Nicht vorenthalten möchte ich dem Leser jedoch (wieso „jedoch“?) eine Zusammenarbeit zwischen L’essentiel und Pornhub1 — eines der größten Portale für Sex-Filme mit 1,5 Milliarden Besuchern jeden Monat, die den Pornographiekonsum Luxemburgs erkunden will. Schon bei der beliebtesten Kategorie weichen die Luxemburger keineswegs von der Norm ab: „Teen“ steht auch dort auf Platz 1. Hierbei handelt es sich um die populärste Kategorie weltweit. Ebenfalls in der Top 10 der am häufigsten besuchten Kategorien sind: „Reality“, „Gay“, „Milf“, „Big Tits“, „Anal“, „Big Dick“, „Mature“, „Lesbian“ und „Ebony“. Interessant wird es bei den Suchbegriffen. Im Gegensatz zu anderen Ländern interessieren sich Luxemburger recht wenig für ihre eigene Pornographie-Heimat: „Luxemburg“ liegt bei den Suchbegriffen erst auf Platz 14. Platz 1 und 2 der Suchbegriffe werden jeweils von „Deutschland“ und „Frankreich“ belegt. In Luxemburg sollen 21 Prozent der Pornhub-Nutzer weiblich sein, weltweit liegt der Durchschnitt bei 23 Prozent.
Im Internetzeitalter und nach der sexuellen Revolution ist es also jederzeit und allerorts möglich, sich kostenlose und schier endlos variierende Pornographie anzuschauen. Die Medienwissenschaften haben ähnlich wie andere wissenschaftliche Disziplinen das Thema bis vor wenigen Jahren weitgehend gemieden. Erst seit 2013 erscheint mit Porn Studies eine wissenschaftliche Zeitschrift, die sich exklusiv mit Pornographie auseinandersetzt — herausgegeben vom renommierten Verlag Taylor & Francis. Die Medienwissenschaftlerinnen und Herausgeberinnen Feona Attwood und Clarissa Smith weisen auf die Möglichkeiten hin, die das Internet der Pornoindustrie eröffnet hat: „The increasing accessibility provided by various media technologies has opened up the market for pornography, and as a consequence amateur porn has proliferated, alongside a growing range of independent and alternative productions, while pornographies of all kinds have become accessible to a wider range of audiences.”2 Nathaniel Burke, Autor des Essays Positionality and Pornography, berichtet, dass Freunde ihn davor gewarnt hätten, sich akademisch mit Pornographie zu beschäftigen: „I have been told „You don’t want to be the ‘porn guy’ and you will have to deal with the content issue of your work’.“
Einerseits ist Pornographie ein fester Bestandteil unseres Lebens. Selbst wenn man nur nach einem Kuchenrezept im Internet sucht, kann es vorkommen, dass man ungewollt osteuropäische Frauen in „deiner Gegend!“ findet, direkt neben der Anleitung zum Carrot Cake. Andererseits ist das Thema nicht nur akademisch verpönt. Es zeugt auch von der scheinheiligen Dichotomie, die zum Vorschein kommt, wenn es um die Darstellung von Sex in diversen Medien geht. Tatsächlich glauben viele Teenager bereits mit 14 Jahren zu verstehen, wie Sex „funktioniert“. Schließlich haben sie ja Zugang zum entsprechenden „Lehrmaterial“ rund um die Uhr. Der Sexualkundeunterricht dient währenddessen dazu, den Reproduktionsapparat zu erklären und anhand von Gurken das Benutzen von Kondomen zu demonstrieren. Aber vor allem männliche Jugendliche scheinen heute frühzeitig durch ihren regen Pornokonsum mit einer gewissen Erwartungshaltung an Sex und die damit zusammenhängende Performance heranzugehen. Wer sich an das klassische Triptychon von Pornofilmen gewöhnt hat — Oralsex, Vaginalsex, Analsex — der wird erstaunt sein, wenn der oder die Partner/in die eine oder andere Praktik nicht als attraktiv empfindet. Statt diese Konfusionen und Erwartungen beschämt zu verschweigen, bedarf es ernsthafter Debatten über Sexualität im digitalen Zeitalter.
Logisch und gesund wäre es, wenn offen und öffentlich über Sex und Erotik — diese Begriffe sind nicht miteinander zu verwechseln — geredet würde. Stattdessen werden in Kino- und Fernsehfilmen Geschlechtsteile zensiert und somit als privat erklärt. In der US-amerikanischen Serie Girls (HBO) ist die Hauptprotagonistin öfters nackt zu sehen. Manche Zuschauer haben im Internet kommentiert, dass es doch eigenartig sei, „ohne Grund“ eine Frau (mit einem durchschnittlichen Körper) nackt zu zeigen. Wenn der weibliche Körper „unerotisiert“ nackt ge- zeigt wird, entsteht schnell allgemeine Verwirrung.
Ein Aufklärungsunterricht über Pornographie an Schulen wäre nötig, um Jugendlichen ein positives Bild der menschlichen Sexualität zu vermitteln und sie nicht ausschließlich und ohne Kommentar auf Youporn alleine zu lassen. Besonders für junge Frauen und Mädchen ist es von ausschlaggebender Bedeutung, selbstbestimmt über ihren Körper zu verfügen und alles was sie nicht mögen, selbstbewusst und angstfrei abzulehnen.
Aber neben der Aufklärung von Kindern und Jugendlichen besteht auch im Erwachsenenalter noch ein großer Bedarf an Debatten über Pornographie. Die Sexualmoral ist keineswegs statisch, sondern in einem permanenten Wandel. Wenn Pornographie im Leben der meisten Erwachsenen in der westlichen Welt eine Rolle spielt, so braucht es einen öffentlichen Diskurs, bei dem auch erwachsene Menschen ihr eigenes Verhalten in dem Bereich hinterfragen können. Nur so kann eine aufgeklärte Gesellschaft lernen, mit den teils zweifelhaften Werten der Pornographie umzugehen, und diese vielleicht positiv beeinflussen. In einer Gesellschaft, in der Frauen de facto gleichgestellt sind, lohnt sich die Frage, warum die meisten erwachsenen Männer sich gerne Pornos anschauen, in denen die Darstellerinnen aussehen wie Schulmädchen und Frauen generell in diesen Filmen weniger als Menschen und eher als wegwerfbare Produkte dargestellt werden. Ich bin nicht der Meinung, dass Pornographie für „abnormales“ sexuelles Verhalten verantwortlich ist. Ich denke eher, dass sie — nicht unähnlich des Traums — unsere Ängste und Wünsche widerspiegelt.
Als Charlotte Roches Feuchtgebiete vor einigen Jahren erschien, wurde deutlich, wie engagiert viele Menschen mitdiskutieren, wenn es um Sex geht — vor allem, wenn es, wie in Roches Romanen, um umstrittenen Sex geht, ganz ähnlich wie bei Fifty Shades of Grey. Dabei handelt es sich um Werke, die wohl eher nicht von ihrer brillanten Feder leben, sondern eher als Porno zum Lesen dienen. Die israelische Soziologin Eva Illouz sieht in Fifty Shades of Grey sogar eine „caricatural version of a gothic romance“ und „a commentary on the deprived condition of love and sexuality, a romantic fantasy, and self-help instructions on how to improve that life“.3
Für manche scheint es vielleicht unangemessen, einem Buch wie diesem einen langen Essay zu widmen — wie Eva Illouz es tat. Aber nur indem man die zeitgenössischen pornographischen Texte (und das beinhaltet auch Filme) interpretiert und zu verstehen versucht, ist es möglich, Verbindungen zu unserem Leben, unseren Bedürfnissen und psychischen wie sozialen Strukturen herzustellen.
1 http://www.lessentiel.lu/de/news/luxemburg/story/14209284, http://www.pornhub.com/insights/pornhub-luxembourg/
2 http://www.theatlantic.com/technology/archive/2014/03/ why-its-time-for-the-journal-of-em-porn-studies-em/284576/
3 http://www.theguardian.com/books/2014/may/27/ fifty-shades-of-grey-self-help-el-james
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