Die totale Angst

Gregor Schneider in der Konschthal Esch

Es ist erstaunlich und bewundernswert, wie in Esch/Alzette binnen kürzester Zeit eine Institution das Licht der Welt erblickt hat, der man – ohne Hellseher zu sein – ein sehr langes Leben voraussagen kann. Wenn eine Kunsthalle im Süden des Landes mit einer solchen Wucht und Ansage eröffnet, wie die Konschthal Esch es Anfang Oktober mit einer großen Gregor Schneider-Retrospektive getan hat, wenn man als Besucher schon jetzt in jeder Ecke des Gebäudes eines ehemaligen Möbelhauses spürt, welches Potenzial in diesen Räumen steckt, wenn man das zukunftssichere Lächeln der Mitarbeiter*innen sieht und mit dem Team rund um Mastermind Christian Mosar spricht, dann spürt man: Diese Kunsthalle wird auch in Zukunft für Aufsehen sorgen. Aber bleiben wir zunächst in der Gegenwart, in der – und zwar noch bis Januar – die Konschthal ihre Räumlichkeiten fast in Gänze dem Werk des Ausnahmekünstlers Gregor Schneider unter dem Titel Ego-Tunnel gewidmet hat. Was erwartet die Besucher*innen, die Lust darauf haben, sich von Schneider verstören zu lassen?

Mit dem Lift in die Räume

Zunächst einmal ein Lift. Ein kleiner Zettel und der Hinweis einer Mitarbeiterin empfehlen uns, den Ausstellungs-Parcours nicht gemeinsam zu begehen. Schneider-Fans wissen das: Man sollte sich immer allein dem aussetzen, was der Künstler in seinen „Räumen in Räumen“ vorbereitet hat. Jedes Gespräch, jede Ablenkung, jeder Gedanke, der auf die Außenwelt gerichtet wäre, würde den Gewinn, den ein Besuch in Schneider-Räumen verspricht, zunichte machen. Also fahre ich in den ersten Stock. Allein. Der Lift ist steril, riesig, man konnte einmal ganze Inneneinrichtungen darin befördern, man könnte in ihm nun auch einen Sarg transportieren. Denke ich. Das Schöne ist: Es ist mein Gedanke. Niemand gibt ihn mir vor. Kein Audio- und kein echter Guide. Der Raum, der Lift, ist eigentlich nichts als ein Lift. Angekommen im ersten Stock drücke ich die schwere Tür auf und befinde mich in einem Flur. Er ist clean, weiß, steril, fast wie in einem Krankenhaus, und doch zweifellos der Flur eines Mehrfamilienhauses. Vier Türen gehen links und rechts vom Flur ab.

Zu meiner Linken entdecke ich eine Klingel neben der Tür: N. Schmidt. Ich denke an einen Besuch im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK), in dem eine N. Schmidt betitelte Installation des Künstlers einen weißen Raum zeigt, zur linken Seite hin mit geöffneter Tür, aus der herausragend man die Beine eines liegenden, sich nicht bewegenden Mannes sieht. Eine Leiche? Nun, hier in Esch, betrete ich also an einem Freitagnachmittag im Oktober die Wohnung von N. Schmidt. Ob er verwandt ist mit der vermeintlichen Leiche in Frankfurt, ob es sich gar um ein und dieselbe Person handelt, man weiß es nicht, und man soll es nicht wissen. Ich betrete die Wohnung uneingeladen, ich störe vielleicht eine Ruhe. Ich bin ein Eindringling. Ich tue es. Ich kehre ein. Ich komme in eine Art Wohnzimmer. Das Fenster ist abgedunkelt, die Jalousien halb heruntergelassen, zusätzlich verdeckt durch einen Vorhang. Ihm gegenüber steht ein TV-Gerät. Es zeigt den Raum, in dem ich mich befinde. David Lynchs Lost Highway wird als Erinnerung in meinem Kopf aktiviert. Plötzlich erscheint eine Gestalt auf dem Bildschirm. Eine Besucherin? Eine Freundin des Künstlers? Ich selbst? Eine Frau. Im nächsten Raum steht ein Schrank. Er ist leer. Warum? Ist es ein Schlafzimmer? Nichts Privates, nichts, was auf eine Persönlichkeit hinweist, ist hier zu entdecken. Was ist mit Schmidt geschehen? Im nächsten Raum ein Bad. Leichte Kratzer an der Tür, die Toilettenpapierrolle aufgebraucht, aus dem Duschkopf kommen Tropfen. Hat hier eben noch jemand geduscht? Das Gefühl, das mich bei meiner Begehung des ersten Stockwerks begleitet: Angst. Es ist eine doppelte Angst: die Angst, auf andere Besucher zu treffen, und die Angst, allein in diesen Räumen zu sein. Somit: die totale Angst. Schneider konfrontiert uns auf geschickte Art und Weise mit dieser totalen Angst. Weder das eine, allein zu sein, noch das andere, hier jemandem zu begegnen, ist ein schöner Gedanke. Freude vermisst man komplett. Es ist der Horror des Normalen und Gewöhnlichen, der einen hier peinigt. Und komplett auf das eigene Leben verweist. Hier wird nichts externalisiert oder exotisiert, es geht um das Eigene, das Alltägliche, das Bekannte, das Normale, das, was wir nie hinterfragen, weil es immer schon da ist. Aber eine Wohnung ist nie ein Naturgesetz: Sie ist gemacht, mit Licht, aber auch mit viel Dunkelheit. Indes, die Räume im ersten Stock sind relativ hell, die Dunkelheit entsteht im Kopf. 

Ich verlasse die Wohnung, bin wieder im Flur, hole den Lift und fahre in den zweiten Stock. Und dort: Die gleichen (oder sind es dieselben?) Räume wie im ersten Stockwerk. Das Wohnzimmer, das Zimmer mit leerem Schrank, diesmal erblicke ich eine Pflanze (tot? lebendig?) hinter einer leicht transparenten Jalousie, das Bad, diesmal läuft das Wasser in der Dusche. Ansonsten alles identisch. Ich erinnere mich an die Ruhrtriennale 2014. Gregor Schneider hatte einiges vor. Eine Installation, die als zu kritische (oder verstörende, so der offizielle Wortlaut) Intervention zur damals vier Jahre alten Love Parade-Katastrophe in Duisburg, bei der 21 Menschen ums Leben gekommen waren, interpretiert wurde, wurde vom Duisburger Oberbürgermeister Sören Link (SPD) spontan abgesagt. Seine Raum-Installation „Neuerburgstraße 21“ aber in einer Halle im Kölner Stadtteil Kalk konnte neben einer weiteren Arbeit stattfinden. In Kalk ging man gefühlt endlos durch die immer gleichen Flure und Badezimmer, immer wieder, immer wieder. Während manche auf der Suche nach dem Kriminalfall waren, der sich in diesen Räumen abgespielt haben könnte, mögen andere an die Sinnlosigkeit des Daseins gedacht haben angesichts der immer gleichen Räume, die für unser aller Leben stehen könnten: morgens rein ins Bad, durch den Flur ins Leben, und zurück. Tag aus, Tag ein, die Wiederholung als Leitmotiv des Lebens. Der Horror kann in der Wiederholung bestehen. Ein typisches Leben in einer typischen Wohnung mit den typischen Abläufen zu leben, kann zum Albtraum werden. Daran denke ich, als ich den Lift ins dritte Stockwerk nehme und mache mich bereit für die nächste Wiederholung.

Mit dem Lift hoch in die Unterwelt

Aber Schneider (wahrscheinlich in kongenialer Zusammenarbeit mit seinem Escher Kurator Christian Mosar) irritiert erneut: Im Dachgeschoss, sozusagen, sind Kellerräume eingebaut: Verschläge, ein Zimmer, in dem nur eine sehr kleine Matratze liegt, ein Kühlraum, der, wenn man ihn betritt, die Kühlung aktiviert. Es ist kalt. In anderen Räumen dieser Ausstellung riecht es. Die Räume sprechen nicht nur visuell zu den Besucher*innen, sie berühren alle Sinne. Im Zimmer mit der Matratze denke ich: Was ist denn so schlimm an diesem Raum? Dieser Raum ist unschuldig. Es ist doch nur ein Raum mit einer Matratze. Und doch, an ihm zeigt sich mustergültig, was für so viele Räume Schneiders zutrifft: Die an sich harmlosen Räume erhalten eine Bedrohlichkeit, die allein aus der Projektion entsteht. Die Tiefkühl-Kammer oder eben das Zimmer mit Kindermatratze sind an sich genommen unschuldig, erst durch unser filmisches, literarisches und historisches Wissen erhalten diese Räume einen Grusel, den sie uns mit voller Wucht zurückspielen. Dass ich an entführte Kinder denke, gibt nicht der Raum mir vor, es ist mein Weltwissen, das mit diesem Raum in ein unheilvolles Gespräch tritt. Dass ein Raum eine solche Macht haben kann, das liegt sicherlich auch daran, dass wir als Menschen immer in Räumen leben: vor der Geburt im Raum des Mutterleibs, später in den Räumen unserer Kindheit und Jugend, dann im Raum des Todes, dem Sarg. Auf diesen Aspekt hat auch Schneider selbst anlässlich der Vernissage zur Escher Ausstellung am 3. Oktober in einem Gespräch hingewiesen. 

u r als Ursprung

Seit er 16 ist, spricht Schneider zu Räumen und mit Räumen, indem er sie nicht nur umgestaltet, sondern Räume in sie hineinbaut: Räume in Räume. Seine Eltern hatten ihm, so lässt sich die Legende aus verstreuten Äußerungen nachvollziehen (man weiß bei seinen Stellungnahmen nie, ob er Kunst kreiert oder die „Wahrheit“ sagt), das erste Stockwerk des Familienhauses in der Unterheydener Straße 12 in Mönchengladbach-Rheydt zur Verfügung gestellt, damit er dort seine künstlerische Kraft ausleben konnte. Was er dann aber tat und bis heute tut: Räume in Räume bauen. Böden auf Böden und Decken unter Decken. Erst baute er das komplette Elternhaus um, später baute er dasselbe nach. Am erfolgreichsten und für ihn den Durchbruch bedeutend bei der Kunst-Biennale 2001 in Venedig als Beitrag im deutschen Pavillon. Er erhielt dafür den Goldenen Löwen. Die Referenz auf das Elternhaus, da wo alles seinen Anfang nahm, findet sich wieder in der Bezeichnung des Hauses als u r. „u r“ steht für Unterheydener Straße in Rheydt, aber sicherlich auch für den Ur-Zustand, für den Moment und den Ort, in dem alles begann. Der Ur-Zustand ist der, in dem alle Möglichkeiten offen sind und keine selbst verschuldeten Grenzen existieren. Positiv gedacht. Es ist aber auch der Zustand, in dem die Sünde entsteht und das Unheil seinen Anfang nimmt. Diesen Ur-Zustand baut Schneider immer wieder nach. Zuletzt in Esch.

Im zweiten Teil des Ausstellungs-Parcours geht es abwärts. Vom dritten Geschoss, direkt neben dem als Dachboden ausgewiesenen Keller (von N. Schmidt?) liegend, hinab ins Erdgeschoss. Wir sehen Fotos, Videos, Skulpturen und weitere Raum-Installationen des Künstlers: ein Badezimmer, ein Schlafzimmer, beide auch zu sehen in einem bereitgestellten Video mit dem Titel: Die Familie Schneider. Aber erneut: Nichts wird vorgegeben, alles, was an Assoziationen im Kopf entsteht, kommt aus ebendiesem Kopf. Am eindeutigsten ist da noch die „High security and isolation cell“, die Schneider-Fans noch aus der 2007 präsentierten Installation Weiße Folter kennen, die im Düsseldorfer K21 präsentiert wurde und die eindeutige Referenzen an Guantanamo aufweist.

Kunst für alle

Erwähnenswert ist auch das Spiel mit Licht und Dunkelheit, das im zweiten Teil der Ausstellung, die eine veritable Retrospektive ist, vorherrschend ist. Es liegen Figuren am Boden, man liest sie als Leichen, aber man sieht sie gerade so. Hat Angst, sich ihnen zu nähern. Auch andere Objekte, die ausgestellt sind, sind kaum zu erkennen und lösen Gedanken über Wahrheit, Zweifel und Wissen aus. Das Spiel mit Schein und Sein, Wahrheit und Fiktion, das der Kunstgeschichte inhärent ist, wird bei Schneider auf die Spitze getrieben. Und so kann es nicht, darf es nicht – noch weniger als es ohnehin der Fall ist bei guter Kunst – bei Schneiders Werken um die Frage nach einer Intention gehen, nach der richtigen Deutung: Jede*r liest etwas anderes hinein. Das macht seine Kunst so zugänglich, weil sie radikal voraussetzungslos gelesen werden kann und jede*r die eigenen Ängste und Obsessionen daran reiben kann. Das kann man mit und ohne Vorbildung tun. Wer das eine oder andere Werk aber anreichert um spezifisches Wissen (etwa bei den im Geburtshaus von Goebbels aufgenommenen Videos), wird noch einmal ganz andere Erfahrungen machen als ein*e Ausstellungsflaneur*in, die*der sich nicht näher mit den Hintergründen von Schneiders Werken beschäftigen möchte. 

Das Potenzial zur doppelten Lesart – einer radikal voraussetzungslosen auf der einen, einer voraussetzungsvollen auf der anderen Seite – war auch der Grund, dass Mosar und sein Team sich dachten, Schneider wäre der ideale Eröffnungskünstler für die neu gegründete Konschthal Esch. Mitarbeiter, Direktionsassistent und abgeordnete Lehrkraft Charles Wennig sagte uns im Gespräch, dass es gerade dieser anti-elitäre Zugang sei, den man sich für die Konschthal wünsche. Große Kunst zu zeigen, die gleichzeitig nicht abschrecke, weil sie zu viel voraussetze. Die Rechnung ist aufgegangen. 

Dass man Schneider begeistern konnte, in der zweitgrößten Stadt (immerhin) eines sehr kleinen Landes (das dann doch) so eine immense Ausstellung zu realisieren, liegt natürlich auch am Ort, am Raum. Ein ehemaliges Möbelhaus: Das muss Gregor Schneider gereizt haben. Orte, in denen Gegenstände für Räume angeboten wurden, zu nutzen, um Räume in ebendiese Räume zu bauen. Eigentlich der dream come true für einen Gregor Schneider. Als er die Räumlichkeiten das erste Mal gesehen hat, gab es noch zahlreiche falsche Wände im ehemaligen Möbelhaus. Ein herrlicher Gedanke, finde ich, dass hier ein Raum-Künstler die Möglichkeit hatte, falsche Wände durch falsche Wände zu ersetzen. Jedenfalls war er auf Anhieb, so erzählte uns Konschthal-Mitarbeiter Wennig nach dem Besuch, begeistert von der Escher Idee. Schneiders persönlicher Assistent war sechs Monate vor Ort, um die Um- und Aufbauarbeiten zu koordinieren. 

Konschthal 2022

Aber was passiert, wenn die Ausstellung im Januar wieder abgebaut wird? Viel, sagt Wennig. Neben einer großen Ausstellung des in Esch geborenen Künstlers Filip Markiewicz wird es u. a. eine des litauischen Konzeptkünstlers Daimantas Narcevičius geben. Außerdem wird sich die schon jetzt große Konschthal noch weiter ausdehnen: Eine angrenzende Garage soll bespielt, eine Terrasse eingerichtet werden. Und wenn alles gut geht und Corona irgendwann wieder ein Bier und kein Virus ist, dann kann die Konschthal zu einem wahrhaftigen sozialen Treffpunkt werden. Das schöne Träumen fällt im Übrigen besonders leicht, wenn man an einem Oktober­nachmittag aus den Albträumen eines Gregor Schneider wieder ins Sonnenlicht des Luxemburger Südens hinaustritt und sich darauf freut, in nicht all zu ferner Zukunft die Konschthal als Treffpunkt und sozialen Ort zu besuchen, an dem man sich über schöne und böse Träume über die Welt von heute und morgen wird austauschen können. Das Fundament ist gelegt, nun gilt es, das Niveau zu halten. Mosar und sein Team haben die Latte mit Gregor Schneider sehr hochgelegt.  

 

Außerdem derzeit in der Konschthal Esch:

Neben der Gregor Schneider-Ausstellung können Sie in der Konschthal derzeit die luxemburgischen Beiträge der diesjährigen Rencontres de la photographie d’Arles entdecken. Kuratiert von Michèle Walerich und Danielle Igniti sind hier Arbeiten von Daniel Reuter und Lisa Kohl zu sehen. Im „Project Room“ zeigt die Konschthal Arbeiten von Martine Feipel & Jean Bechameil, Niels Ackermann sowie Sébastien Gobert, kuratiert von Christian Mosar. Beide Ausstellungen sind wie die von Gregor Schneider noch bis zum 9. Januar 2022 zu sehen.

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