Die verlierbaren Lebenden und die unverlierbaren Toten

Der trauernde Soldat in der Figurengruppe „Gëlle Fra“

Das Denkmal der „Gëlle Fra“ auf der Place de la Constitution hat eine bewegte Geschichte, die fast das ganze 20. Jahrhundert umfasst. Sie beginnt mit der Gestaltung eines Monuments mit drei Figuren durch den Künstler Claus Cito. Angefertigt in 1921/1922 in dessen Atelier in Bascharage, wurde sie 1922/1923 als ursprüngliche Erinnerung an die 3000 luxemburgischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg auf Seite der Entente im Kampf gegen die deutschen Besatzer gefallen sind, errichtet. Nach dem Abriss des Denkmals im Oktober 1940 durch die Nazis erfolgt nach der Befreiung 1944 der Wiederaufbau des Sockels. 1950 werden zunächst die beiden Bronzefiguren wiedergefunden, 1955 die „Gëlle Fra“ in stark beschädigtem Zustand, die dann wiederum verloren geht und 1980 unter der Tribüne des Stadions Josy Barthel unter abenteuerlichen Umständen „gefunden“ wird. Seit 1985 erinnert die wieder vollständig aufgebaute Figurengruppe „Gëlle Fra“ an die luxemburgischen gefallenen Soldaten der beiden Weltkriege und des Koreakrieges. 

Dass die „Gëlle Fra“ 2010 noch einmal von ihrem Sockel geholt wird, um auf der Weltausstellung in Shanghai der Luxemburger Wirtschaft Beistand zu leisten, darf als ein Akt unstatthafter Vereinnahmung von Erinnerungskultur und Totengedenken betrachtet werden. 2001 ist das Denkmal schon einmal, allerdings auf eine ganz andere Weise, nachhaltig in Bewegung geraten: in den Köpfen der Betrachter. Hat doch die kroatische Künstlerin Sanja Iveković mit ihrer schwangeren Replik „Lady Rosa of Luxembourg“ der „Gëlle Fra“ ein anderes Frauenbild – in 200 Meter Entfernung – an die Seite gestellt. Aus einer der griechischen Göttin Nike und der Jungfrau Maria ähnlichen Gestalt wird eine Frau aus Fleisch und Blut, stark und verletzlich zugleich. Die Szene der drei Figuren der „Gëlle Fra“ wird aufgebrochen: Eine über den Soldaten schwebende Göttin wird zu einer den Kriegsgewalten ausgesetzten schwangeren Frau.  

Eine andere bewegte Geschichte der „Gëlle Fra“ mag in den Gedanken ihres Schöpfers Claus Cito gespielt haben: Cito war enger Freund des deutschen Malers August Macke, mit dem er 1906 zusammen in Düsseldorf wohnte. 1908 fertigte Cito in seinem Atelier in Bascharage eine heute verschollene Büste von seinem Besucher August Macke an1. Macke fiel als Soldat der deutschen Armee im September 1914 in Frankreich. Bei der Betrachtung des trauernden Soldaten in der Figurengruppe stellt sich mir eine Frage. Wird Cito während seiner Arbeit an dem Denkmal für Gefallene des Ersten Weltkriegs nicht auch oft an Macke, seinen Freund aus des Feindes Armee, gedacht haben?

Wer dem trauernden Mann, der Schild, Helm und Schwert zur Seite gelegt hat und in sich gekehrt neben dem Toten sitzt, ins Gesicht schaut, kann Anteil haben an einer Urszene menschlicher Existenz: um einen anderen Menschen trauern, sich einem Verlust stellen, sich der eigenen Endlichkeit – und Sinnlosigkeit manchen Tuns – bewusst werden. Dieses Gesicht in seiner abgewandten Fremdheit übt auf mich eine starke Anziehung aus. Der Trauernde sitzt, als sei er „zugrunde gegangen“. Ob er je wieder aufstehen wird? Ich vergesse die Rastlosigkeit um mich herum auf der immer noch zu einem Parkplatz degradierten Place de la Constitution. Wie andere, die schon Totenwache gehalten haben, kommen mir Erinnerungen an Abschiede von mir wichtigen und lieben Menschen. Und an nicht gelungene Abschiede.

Das Denkmal der „Gëlle Fra“ für die Toten dreier Kriege, so verstehe ich es heute in Zeiten von wachsender Fremdenfeindlichkeit und bedrohlicher Nationalismen, ist ein Denkmal für „unsere“ und – ja, und – zugleich alle anderen Opfer von Hass, Gewalt und Krieg. So wie es der katholische Theologe Johann Baptist Metz deutlich formuliert: „Das Gedenken des Leidens wird zur Basis einer universellen Verantwortung, wenn es immer auch die Leiden der Anderen, die Leiden der Fremden und – biblisch – sogar die Leiden der Feinde in Betracht zieht und bei der Beurteilung der je eigenen Leidensgeschichte nicht vergißt“2. Dies leistet in meinen Augen Claus Cito mit seiner Darstellung der „Gëlle Fra“. 

 

1 Lotti Braun-Breck, Ons Stad, Nr. 60/1999 S. 22-27 

2 Johann Baptist Metz, Im Eingedenken fremden Leids, in: J.B. Metz u.a.: Gottesrede, Hamburg, LIT Verlag, 1996, S. 13f


Winfried Heidrich ist katholischer Theologe, Klinik­seelsorger und  Kunst­therapeut.

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