Die zwei Seiten der Transparenz

Das Glashaus von Bert Theis auf dem Kirchberg

Auf dem Kirchberg, inmitten bewachter Hochhäuser ohne Zutritt für Unbefugte, steht ein kleines Glashaus, durchsichtig und aus der Ferne unscheinbar. Umgeben von bedeutsamer Architektur, zeigt es auf subversive Weise die Undurchsichtigkeit der großen Häuser für Finanzen, Verwaltung, Handel, Politik und Kultur. Ein Glaspavillon als Kritik struktureller Intransparenz. In seiner eigenwilligen Fünfeckform, eingefasst in Buchstaben aus Metall, kann sich das Glashaus zwischen dem erhabenen Oval der Philharmonie und der traurigen Leere des Schuman Gebäudes gut behaupten. European Pentagon, Safe and Sorry Pavilion heißt das Glashaus. Es ist eine Skulptur des luxemburgischen Künstlers Bert Theis (1952-2016) aus dem Jahr 2005. 

Über die Treppe zur Philharmonie erreiche ich den Pavillon, der auf einem großen Holzpodest wie auf einem Floß steht. Eine Kante des Podestes schließt mit der zum Boulevard führenden Treppe ab. Meine Assoziation (Glas)Zelt, Floß, Treppe setzt die Skulptur in Bewegung, als sei sie nur vorläufig da und in der Lage, ihren Standort wieder zu verlassen. Das Bild einer beweglichen, ungebundenen Skulptur, frei und zerbrechlich, kommt mir in den Sinn, wenn ich in einem Faltblatt des MUDAM – anlässlich der Retrospektive des Werkes von Bert Theis 2019 – ein Zitat des Künstlers lese: „Ein europäisches Pentagon in verkleinertem Maßstab, das – durchsichtig und fragil – aus den Worten ‚safe‘ und ‚sorry‘ konstruiert ist, ist eine offensichtliche Aufforderung, über die internationale politische Situation nachzudenken.“ Es sind die Buchstaben der Wörter „safe“ und „sorry“, die die metallene Fassung der Glasskulptur bilden. Sie verweisen auf die englische Redewendung „better safe than sorry“.

© Philippe Reuter / forum

Für was kann das Transparente und Zerbrechliche dieses gläsernen Zeltes stehen? Für welche Sicht auf Politik, Handel, Finanzen, die sie umgeben? Vor dem kleinen Glashaus auf einer Bank sitzend, stelle ich fest, dass mir als Bürger dieses reichen Landes der Durchblick fehlt, wie auf dem Kirchberg Handel betrieben wird. Angesichts der Fülle an Fakten und der Komplexität von Ökonomie verstehe ich vieles nicht, von dem ich selber doch materiell profitiere. Wenn so viel Geld für einige im reichsten BIP-Land der Welt vorhanden ist, wo und wem fehlt es dann hier und woanders? Was ist gerechte Verteilung von Reichtum? Was meint Bert Theis mit „safe“? Was mahnt er mit dieser vielschichtigen Arbeit an? Die Skulptur erinnert mich an den Gedanken der „sozialen Plastik“ von Joseph Beuys, der besagt, dass Kunst Gesellschaft in Frage stellt und in gesellschaftliche Prozesse eingreift.

Über Transparenz nachdenken, heißt immer auch, ihrer Zweideutigkeit gewahr zu werden. Beim Blick ins Innere der Skulptur, leicht verschleiert durch kleine weiße Rasterpunkte in den Scheiben, sehe ich ein fünfeckiges Holzpodest in der Mitte wie eine kleine Bühne, auf der gleich etwas stattfinden könnte: ein Konzert zum Beispiel mit Musikerinnen aus der Philharmonie von nebenan, für die öffentliche Auftritte zu ihrem Beruf gehören. Man könnte auf diese Bühne aber auch Angestellte aus den umliegenden Büros einladen, um im Glashaus spielerisch einen Einblick in ihre Open-Space-Arbeitswelten zu geben. Jedoch spielt in den gläsernen Bürotürmen eine ganz andere Transparenz als in der Musik der Philharmonie. Weist die Transparenz der Musik auf etwas Größeres hin, macht die Transparenz des Handels den Menschen eher klein und durchsichtig. Denn zur Undurchsichtigkeit verzweigter Unternehmen gehört die Durchsichtigkeit und Kontrolle ihrer Mitarbeiter*innen. Wie anstrengend, immer im Blick der Kolleg*innen und unter Kontrolle der Vorgesetzten zu sein. Brauchen Angestellte während ihrer Arbeit keinen Rückzug vor fremden Blicken? Zur Arbeit gehört auch ein Schutzraum für die Einzelnen, damit sie nicht zu gläsernen Menschen zugerichtet werden.

Die kleine hölzerne Bühne, die Bert Theis im Glashaus auf dem Kirchberg errichtet hat, ist eine Anspielung auf die problematische Rückseite notwendiger Transparenz in gesellschaftlichen und politischen Abläufen. Wie oft wird das, was alle betrifft, verborgen gehalten und das Private öffentlich sichtbar gemacht. Seine Skulptur European Pentagon, Safe and Sorry Pavilion zeigt auf anschauliche Art die ambivalenten Seiten von Transparenz.  


Winfried Heidrich ist Theologe, Klinikseelsorger und Kunsttherapeut

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