Es war einmal ein anthropos?
Auf der Suche nach dem Menschen
Das Wort Anthropozän setzt sich zusammen aus den altgriechischen Begriffen anthropos und kainos, also Mensch und neu, rezent – das neue Zeitalter des Menschen. Der Begriff entspringt naturwissenschaftlichen Debatten, die darauf verweisen, dass die Menschheit zu einer mit den großen Kräften der Natur konkurrierenden geologischen Macht geworden ist. Wenngleich dieser selbstreflexive und ansatzweise selbstkritische Begriff eine vorsichtige Politisierung von bisher neutral geglaubter Naturwissenschaft andeutet, wurde der Begriff in sozialwissenschaftlichen Debatten stark kritisiert. Die Kritik am Begriff „Anthropozän“ hat dazu geführt, dass unzählige Alternativbegriffe vorgeschlagen wurden. Der Facettenreichtum an Termini deutet allerdings auf eine allgemeine Überforderung hin, zu begreifen, wie mensch gleichzeitig einen solch beträchtlichen Einfluss auf das Erdsystem nehmen kann, und dabei gleichzeitig so unfähig erscheint, die Komplexität der Geschehnisse zu erfassen, und so wirkungslos in seinen Versuchen bleibt, ein angemessenes Korrektivverhalten zu entwickeln.1 Die Bemühungen, eine akkurate Bezeichnung für das gegenwärtige Zeitalter festzulegen, sind eng verbunden mit dem Anspruch, Schuld, Verantwortung und Handlungsmacht zuzuweisen: Das Kapitalozän beispielsweise verweist auf kapitalistische Produktionsweisen als Ursache für die sozio-ökologischen Krisen der Gegenwart.2 Das Anthropozän verortet Verantwortung und Schuld im anthropos, dem Menschen. Hinter dieser Abstraktion wirken allerdings sehr konkrete Menschen, Mechanismen und Ideologien, die es explizit zu machen gilt. Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage nach dem anthropos des Anthropozäns. Wer genau ist dieser Mensch, von dem im Anthropozän die Rede ist? Gibt es ihn überhaupt, den Menschen? Und welche problematischen Illusionen birgt ein Begriff, der ihn unhinterfragt voraussetzt?
Eine homogene Menschheit?
Die Voraussetzung einer einheitlichen Entität „Mensch“ totalisiert die Gesamtheit menschlicher Handlungen zu einem homogenen menschlichen Handeln, das kohärente ökologische Auswirkungen hat.3 Der Historiker und Soziologe Jason W. Moore allerdings ermahnt jene, die hoffen, mithilfe des Begriffes Anthropozän den unangenehmen Tatsachen ausweichen zu können, die dadurch eigentlich erst angesprochen werden.4 Die Illusion einer homogenen Menschheit verschleiert nämlich Ungleichheiten, Entfremdung und Gewalt, die den Macht- und Produktionsverhältnissen der Moderne inhärent sind. Auch Andreas Malm und Alf Hornborg vom Department of Human Geography der Lund University argumentieren, dass das Narrativ des anthropos als eines einheitlichen Akteurs des Anthropozäns analytisch falsch sei und ein fehlerhaftes Verständnis gesellschaftlicher und historischer Prozesse mit sich bringe.5 Ausgehend von der Industriellen Revolution als Beginn des Anthropozäns zeigen sie auf, zu welchem Grad der anthropogene Klimawandel auf erheblich ungleichen globalen Handelsbeziehungen fußt: „The rationale for investigating the steam technology at this time was geared to the opportunities provided by the constellation of a largely depopulated New World, Afro- American slavery, the exploitation of British labor in factories and mines, and the global demand for inexpensive cotton cloth“.6
Historische Prozesse und Ereignisse werden nicht durch globale Konsensentscheidungen, an denen alle Menschen gleichermaßen beteiligt wären, herbeigeführt. Auch die Folgen historischer Ereignisse betreffen nicht alle Menschen gleichermaßen. Die Aussage, wir säßen alle im selben Boot, ist nicht nur historisch falsch, sondern auch moralisch problematisch. Die Verantwortung für und damit auch die Schuld am Ausmaß der gegenwärtigen humanitären und ökologischen Katastrophen werden zwar auch innerhalb naturwissenschaftlicher Debatten den sogenannten Industrieländern zugeschrieben (Kolonialismus, Industrielle Revolution, Atomwaffen, Konsumsteigerung…), doch ignorieren sie in ihrem Aufruf zu einer globalen Reaktion die ungleich verteilten Mittel und Möglichkeiten, den Folgeerscheinungen von Erderwärmung, Artensterben, Übersäuerung der Ozeane etc. zu begegnen. Anders formuliert sind sie blind für die asymmetrisch verteilten Empfindlichkeiten (vulnerability) und Anpassungsvoraussetzungen (adaptation) gegenüber den Folgen ökologischer Katastrophen.7 Damit gemeint ist das Ausmaß eines Systems – einer Person, einer Gemeinschaft oder eines Ökosystems –, anfällig für Effekte des Klimawandels zu sein, beziehungsweise über Mittel zu verfügen, sich ihnen anpassen oder vor ihnen schützen zu können. Diesbezügliche Forschung am ägyptischen Nildelta hat gezeigt, dass die vorhandenen oder zur Verfügung gestellten Mittel nicht nur extrem beschränkt, sondern auch klar prioritär zur Sicherung von Kapitalströmen eingesetzt werden (um z.B. Touristenhotels vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen). Die Lebensgrundlagen der lokalen Anwohner*innen (z.B. Anbauflächen, die durch Salzwasser-Überschwemmungen unbrauchbar werden) sind in dieser ökonomischen Rechnung sekundär und werden dementsprechend auch vernachlässigt.8 Desmond Tutu zufolge bewegen wir uns sogar auf ein Zeitalter der Adaptationsapartheid zu.9 Wir sehen also, dass die Annahme einer homogen handelnden, betroffenen und verantwortlichen Menschheit nicht haltbar ist.
„Anthropocene“ oder „Manthropocene“?
Es reicht allerdings nicht aus, die ungleichen Handlungsspielräume auf internationaler Ebene zu thematisieren, um die Hierarchien von Verantwortung nachzuvollziehen. Um die Anhäufung von Katastrophen zu verstehen, welche unter dem Begriff Anthropozän versammelt sind, müssen wir auch versuchen nachzuvollziehen, wie Ungleichheiten innerhalb kapitalistischer Gesellschaften zu ihrer Entstehung beigetragen haben, wie z.B. Geschlechterungleichheiten oder die Auffassung des Menschen als allen anderen Spezies übergeordnet. Bereits ein Blick auf die Zusammensetzung der Anthropocene Working Group, welche als Bestandteil der International Commission on Stratigraphy damit beauftragt ist, sich mit der Entstehungsgeschichte des Anthropozäns auseinander zu setzen und sich um die Formalisierung des Begriffs als offizieller Name des gegenwärtigen Zeitalters zu kümmern, lässt ahnen, dass Geschlechterungleichheiten eine Rolle spielen: Unter den 36 Mitgliedern befinden sich nur fünf Frauen10. Die Anthropologin Anna Tsing zählt die „heroischen“ geschichtlichen Unterwerfungen von Menschen und Umwelten – von Mega-Staudämmen bis hin zu Massenumsiedlungen –, welche Anteil am anthropogenen Klimawandel haben, zu den fragwürdigen Errungenschaften im Werdegang des modern Man. Dabei hebt sie die Man-ness kolonialer Eroberungen und entstehender Wissenschaften besonders hervor.11 Das Subjekt, welches sich im Zentrum der europäischen kapitalistischen und kolonialen Expansion befand, war ein stark rassistisch und geschlechtlich konstruiertes anthropos: „,His‘ marginalised, colonialised ‚others‘ were rendered susceptible to acts and forms of domination legitimated by assumptions concerning (white) masculine superiority and mastery: the indigenous – in short – was complexly feminised – along with nature itself“12.
Die Berücksichtigung eines immanent maskulin konstruierten anthropos und dessen feminisierten „Anderen“, wodurch dessen Ausbeutung und Unterdrückung legitim wurde, sei fundamental, um die Grundlage des Phänomens Anthropozän nachvollziehen zu können.13 Das Zitat verweist darauf, dass die geschlechtlichen (patriarchalen) Hierarchien, die sich innerhalb europäischer Gesellschaften etabliert hatten, den kolonisierten menschlichen und nicht-menschlichen „Anderen“ aufgezwungen wurden. Demzufolge sei das Anthropozän primär eine Krise menschlicher Hierarchien.14 Eine unkritische Verwendung von Termini, welche ein allgemeines anthropos implizieren – wie beispielsweise das Anthropozän –, bergen das Potenzial, diese hierarchischen Gefälle zu vergessen und dadurch aufrechtzuerhalten. Der Diskurs um den mensch-gemachten Klimawandel läuft dann Gefahr, diejenigen, die am wenigsten an der Entstehung des männlich-patriarchal-kolonialistisch geprägten Klimawandels mitgewirkt haben, unter dem Begriff des Anthropozäns mit den tatsächlich Hauptverantwortlichen gleichzusetzen – in der Verantwortung für die Verursachung und in der Verantwortung für die Lösung der Probleme. Wichtig hierbei ist noch anzumerken, dass durch meinen Beitrag nicht das dichotome Bild des „Täter-Nordwestens“ und „Opfer-Südens“ gezeichnet werden soll. Auch in nicht-kapitalistischen Gesellschaften gab und gibt es Ungleichheiten und problematische Praktiken, nationale (männliche) Eliten in kolonisierten Ländern haben vielerorts mit den Kolonialherren kooperiert und von kolonialer Herrschaft profitiert.15 Es soll vielmehr darum gehen, die Komplexität der Geschichte des anthropogenen Klimawandels ernst zu nehmen, um nicht dem Glauben zu verfallen, dass eindimensionale Lösungsvorschläge wie eine CO2-Steuer, Konsumverzicht oder Geoengineering tatsächlich den Lauf der Geschichte zum Positiven hin radikal verändern könnten.
Wir sind nie (nur) Mensch gewesen
Der eurozentristischen, maskulinen Prägung des anthropos fügen verschiedene Autor*innen noch seine inhärent menschliche Exklusivität hinzu (Anthropozentrismus). Die Auffassung, menschliches Handeln sei zur dominanten klimatischen Einflussnahme geworden, porträtiert „den Menschen“ als abgespalten handelnden Einzelgänger. Das Erstaunliche dabei ist, dass das Anthropozän per definitionem darauf verweist, dass die radikale Trennung zwischen Mensch und Natur endgültig obsolet geworden ist. Dennoch handelt es sich um ein Konzept, welches sich exklusiv auf den Menschen bezieht. Trotz der Versuche, die Einsicht über die Verwobenheit des Menschen mit seinen Umwelten in naturwissenschaftliche Studien zu integrieren, verbleibt das Konstrukt „Mensch“ das Epizentrum der Betrachtungen. Michel Foucaults Prophezeiung über den Tod des Menschen scheint sich nicht erfüllt zu haben: „der Mensch“ als verdinglichte Figur steht nicht kurz vor seinem Vergehen, sondern bleibt ein hartnäckiger Bestandteil gegenwärtigen Denkens.16 Was aber ist mit der Aussage gemeint, dass wir nie (nur) Mensch gewesen sind? Angelehnt ist diese Aussage an Bruno Latours bekanntes Plädoyer, dass wir noch nie modern gewesen seien.17 Das Postulat, wir seien ebenso wenig (nur) Mensch wie modern gewesen, kritisiert die Auffassung, dass „Mensch“ als abgespaltene Entität existiere oder je existiert habe. Die Geschichte der Menschheit ist folglich die Geschichte eines konstanten „Miteinander-Werdens“ (becoming-with) zwischen unterschiedlichen Seinsformen.18 Menschliche Subjekte sind nicht über einen beständigen und autonomen „menschlichen“ Wesenskern definiert, sondern über die verschiedenen Netzwerke, in die sie involviert sind19: „[…] anthropos appears as an unstable assemblage of manifold inner and outer forces of which he or she is constituted, as an always already artificial product of relations“20
Kritisch betrachtet, beschreibt das Anthropozän eine Konstellation, in der der Mensch von sich und seinen Umwelten entfremdet lebt, denkt und handelt. Es ist ein Verweis auf ein Selbstverständnis, welches das eigene Sein und das Sein nicht-menschlicher Akteur*innen partikularisiert und getrennt voneinander verstehen will. Um anthropos aus seiner einsamen Einheitlichkeit zu befreien und wieder in Relation zu setzen, schlägt die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway statt des Anthropocene den Begriff Chthulucene vor. Das griechische chthonios bedeutet „von, in, oder unter der Erde und den Meeren“21, auf einen Ort verweisend, der ein gemeinsames Leben und Sterben in „Ver-Antwortung“ (response-ability)22 vorschlägt. Das Chthulucene wird der Definition des Menschen als ein Amalgam heterogener Beziehungsgewebe gerechter, indem es versucht, das Handlungs- und Einflussspektrum auf die verschiedenen, andersartigen Mitgestalter*innen der Geschehnisse zu verteilen.
Die Debatte um die Namensgebung eines neuen geologischen Zeitalters mag auf viele wie eine unnötige Haarspalterei wirken. Doch in der Benennung steckt immer auch bereits eine Problemanalyse und somit auch immer schon der Keim eines Lösungsansatzes. Das Kapitalozän beispielsweise verortet die Probleme in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und gibt sich somit nicht mit zu simplen Lösungsvorschlägen wie einer CO2 Steuer zufrieden, da diese nicht den Kern der Probleme treffen. Die Erkenntnis darüber, dass Menschen nicht allein agieren, sondern immer in Beziehungen involviert sind, in denen die Handlungskapazitäten unterschiedlich verteilt und von Machtungleichheiten geprägt sind, ist ausschlaggebend dafür, Handlungsmaßnahmen bezüglich klimatischer Veränderungen zu entwickeln, welche nicht bloß eine Wiederholung derjenigen Prozesse sind, die die gegenwärtigen Probleme erst hervorgebracht haben.
- Bruno Latour, „Agnecy at the Time of the Anthropocene“, in: New Literary History 45 (2014), 1, S. 1.
- Christophe Bonneuil/Jean-Baptiste Fressoz, The Shock of the Anthropocene. The Earth, History and Us, London/New York, Verso, 2015, S. 222.
- Ebd., S. 65.
- Jason W. Moore, Capitalism in the Web of Life. Ecology and the Accumulation of Capital, London/New York, Verso, 2015, S. 170-171.
- Andreas Malm/Alf Hornborg, „The Geology of Mankind? A Critique of the Anthropocene Narrative“, in: The Anthropocene Review 1 (2014),1, S. 62.
- Ebd., S. 63-64.
- Andreas Malm, „Sea Wall Politics: Uneven and Combined Protection of the Nile Delta Coastline in the Face of Sea-Level Rise“, in: Critical Sociology 39 (2012), 6, S. 805.
- Ebd., S. 809.
- Ebd., S. 824, zit. aus United Nations Development Programme 2007, S. 166.
- https://www.theguardian.com/commentisfree/2014/oct/20/anthropocene-working-group-science-gender-bias (letzter Aufruf: 11. November 2019).
- Anna Tsing, „A Feminist Approach to the Anthropocene: Earth Stalked By Man“. Vortrag am Barnard College zur Helen Pond McIntyre Lecture, New York, 10. November 2015.
- Anna Grear, „Deconstructing Anthropos: A Critical Legal Reflection on ,Anthropocentric‘ Law and Anthropocene ,Humanity‘“, in: Law Critique 26 (2015), 3, S. 225-249, hier S. 231-232.
- Ebd., S. 235.
- Ebd., S. 227.
- Siehe z.B. Nkiru Nzegwu, „Recovering Igbo Traditions: A Case for Indigenous Women’s Organizations in Development“, in: Martha Nussbaum/Jonathan Glover (Hg.), Women, Culture, and Development: A Study of Human Capabilities, Oxford, Oxford University Press, 1996, S. 444-467.
- Olli Pyyhtinen/Sakari Tamminen, „We Have Never Been Only Human: Foucault and Latour on the Question of the Anthropos“, in: Anthropological Theory 11 (2011), 2, S. 135-152, hier S. 137-138.
- Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M., Suhrkamp Verlag, 2008 (1991), S. 15.
- Donna Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, London, Duke University Press, 2016.
- Pyyhtinen/Tamminen, a.a.O., S. 137.
- Ebd., S. 147, Herv. i. O.
- Haraway, a.a.O., S. 52-53, meine Übersetzung.
- Ebd., S. 2.
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