Gerechte und nachhaltige Entwicklung im Anthropozän?

Seit Beginn des Anthropozäns versuchen Wissenschaft und Politik die ausbeuterische Entwicklung dieser Epoche zu zügeln. 1972 machte der Club of Rome in seinem Buch Die Grenzen des Wachstums darauf aufmerksam, dass die natürlichen Ressourcen endlich sind. In dem 1987 unter dem Vorsitz der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Brundtland erschienenen Bericht Our Common Future der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung wird der Begriff einer nachhaltigen Entwicklung definiert: „Eine nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der jetzigen Generation dient, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.“1 Dabei handelt es sich um ein systemisches Zusammenspiel sozialer, ökonomischer und ökologischer Aspekte. Dieser Bericht diente als Grundlage für die Millenniums-Entwicklungsziele, die auf der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 2000 verabschiedet wurden.2 Bis 2015 waren diese Ziele nur ansatzweise erreicht. Am 25. September 2015 wurden auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung die 17 „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und in der Agenda 2030 beschrieben.3 Diesmal ist der Fokus nicht nur auf die Entwicklungsländer gerichtet, sondern nimmt alle Länder in die Pflicht. Die Aspekte Nachhaltigkeit, Ökologie, Ökonomie und Soziales werden gleichranging behandelt. Zur Implementierung der Nachhaltigkeitsziele hat die Luxemburger Regierung den sogenannten „Plan national pour un développement durable“ verabschiedet.4

Die Idee der nachhaltigen Entwicklung ist hierzulande zurzeit sehr populär. Umweltbewegungen, Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in Schulen und Vereinen sowie der Einfluss der Medien haben das Bewusstsein der Bevölkerung für das Thema geschärft. Seit Entstehen der Jugendbewegung Fridays for Future haben sogar konservative politische Parteien den Klimaschutz für sich entdeckt. Viele Initiativen privater Organisationen und Gemeinden geben engagierten Menschen die Möglichkeit, aktiv zu werden, Projekte im Sinne der nachhaltigen Entwicklung zu realisieren und nicht frustriert in einer „No Future-Stimmung“ zu verharren. Auch wenn solche Projekte die Welt nicht retten, so tragen sie doch bedeutend zur Sensibilisierung der Bevölkerung bei. Allerdings dürfen sie nicht den Anschein erwecken, dass in puncto Nachhaltigkeit genug getan wird oder dass nachhaltige Entwicklung als eine marginale Erscheinung gesehen wird, die verschiedenen alternativen Gruppen vorbehalten ist. Dies wäre ein fataler Trugschluss, denn international scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich das Anthropozän in eine Richtung zu entwickeln droht, die die Lebensbedingungen in Zukunft drastisch verschlechtern kann, wenn nicht gegengesteuert wird. Dies macht sich konkret am Verlust der Biodiversität5 und den unter anderem von den Wissenschaftlern des IPCC6 prognostizierten Konsequenzen des Klimawandels bemerkbar.

Umweltgerechtigkeit

Anfang der 1980er Jahre entstand in den USA die „environmental justice“-Bewegung. Es geht dabei vor allem um die unterschiedliche Umweltbelastung durch verschiedene soziale und ethnische Gruppen und der Orte, an denen sie leben. Heute schließt der Begriff „Umweltgerechtigkeit“ auch die Tatsache mit ein, dass die Folgen unseres ungebremsten Wachstums, wie beispielsweise der Klimawandel, sowohl die Existenz der Einwohner vieler Entwicklungsländer als auch die Lebensbedingungen der kommenden Generationen weltweit gefährden. Eine weniger anthropozentrische Sichtweise spricht von „ökologischer Gerechtigkeit“ und meint damit, dass alle Lebewesen ein Recht auf adäquate Lebensbedingungen haben, die der Mensch nicht durch sein Handeln gefährden darf.

Besinnt man sich auf die Definition der nachhaltigen Entwicklung und hält man sich die Ziele der Agenda 2030 vor Augen, so erkennt man, dass nachhaltige Entwicklung nur mit gleichzeitiger sozialer und ökologischer Gerechtigkeit gelingen kann. Dies wird am Beispiel CO2-Steuer deutlich. Wird eine allgemeine CO2-Steuer ohne entsprechende soziale Abfederung eingeführt, so wird sie vor allem die „kleinen Leute“ und Pendler treffen. Die Wohlhabenden werden dadurch kaum weniger Kilometer mit ihren SUVs bestreiten. Auch bei der geplanten ökologischen Steuerreform darf die soziale Komponente nicht außer Acht gelassen werden.

Umweltgerechtigkeit bezieht sich aber nicht nur auf die sozialen Folgen durch Umweltbelastung oder die Auswirkungen von Gegenmaßnahmen auf sozial schwache Mitglieder unserer hiesigen Gesellschaft. Denken wir zum Beispiel an die europäischen Lebensmittel, die dank Subventionen der EU auf dem afrikanischen Markt günstiger zu erwerben sind als die, die von den Kleinbauern vor Ort angeboten werden und so die afrikanische Landwirtschaft, die zum Teil sowieso durch den Klimawandel geschwächt ist, zusätzlich belasten. Überhaupt sind es vor allem arme und entwicklungsschwache Länder, die die Folgen des Klimawandels am ehesten und am heftigsten zu spüren bekommen, obwohl sie am wenigsten an der Emission von Treibhausgasen beteiligt sind. Der neue Bericht des Club of Rome bemängelt, dass nirgendwo in der Agenda 2030 zugegeben wird, dass unter der Annahme, dass es keine größeren Veränderungen in der Art und Weise gibt, wie Wirtschaft definiert wird, es zu massiven Widersprüchen zwischen den sozio-ökonomischen und den ökologischen Nachhaltigkeitszielen kommt7.

Auch sind wir uns oft dessen nicht bewusst, dass Maßnahmen, die für uns umweltfreundlich erscheinen, anderswo negative Konsequenzen haben können. So habe ich nicht schlecht gestaunt, als eine Quechua-Frau mir erzählte, dass die europäische Nachfrage den Preis von Quinoa in Peru derart hat ansteigen lassen, dass die Armen dort sich dieses Grundnahrungsmittel kaum mehr leisten können. Bioethanol wurde als die Lösung der Klimaproblematik angesehen, da seine Verbrennung weit weniger CO2 produziert als die von Benzin oder Diesel. Allerdings steht der vermehrte Anbau von Mais und Zuckerrohr zu diesem Zweck in Konkurrenz mit der Lebensmittelproduktion, die wiederum großflächig Ackerland beansprucht und dadurch einen sehr hohen Wasserverbrauch zur Folge hat. Außerdem kommt es vermehrt zu Rodungen der Regenwälder.

Zurzeit werden Elektroautos als Alternative zum Verbrennungsmotor sehr stark gefördert. Das Abgasproblem ist zwar damit gelöst (unter der Voraussetzung, dass der Strom für Elektroautos aus erneuerbaren Energiequellen stammt), doch die Belastungen für Mensch und Umwelt bei der Herstellung und der Entsorgung der Batterien und bei der Gewinnung der nötigen Rohstoffe (Lithium, Kobalt…) werden gerne marginalisiert. Zieht man die gesamte ökologische und soziale Gesamtbilanz eines Produktes oder eines Verfahrens, so ist es extrem schwierig, wirklich sinnvolle und nachhaltige Alternativen zu entwickeln, die sowohl für die Umwelt als auch für die Menschen bei der Herstellung, dem Gebrauch und der Entsorgung den Kriterien der Umweltgerechtigkeit entsprechen.

Eine gewisse Ungerechtigkeit besteht auch darin, dass Bio-Produkte leicht teurer sind. Abgesehen davon ist „Bio“ ein vager Begriff. Oft kann der Konsument kaum beurteilen, ob ein Produkt umweltgerecht und unter fairen Bedingungen hergestellt wurde. Vertrauenswürdige Labels können dabei eine große Hilfe sein. Luxembourg for Finance will weltweiter Leader in Sachen ökologische und soziale Investments sein. Heute sind mehr als 160 „Green Bonds“ auf den Märkten gelistet, die zur Finanzierung von Projekten ausgegeben werden, die sich positiv auf die Umwelt auswirken. Aber sind sie umweltgerecht? Da die Finanzindustrie der Logik der Kapitalvermehrung folgt, ist die Gefahr des Greenwashings groß8. Auch im Finanzsektor kann die Zertifizierung durch ein kontrolliertes Label wie LUXflag Klarheit verschaffen.

Verhaltensänderung oder Systemänderung?

Neueste Messungen des ökologischen Fußabdrucks der Luxemburger kommen zum Schluss, dass die Menschheit 7,8 Planeten bräuchte, würden alle so leben wie die Menschen hierzulande. Der sogenannte „Overshoot Day“, der Tag, an dem wir alle Ressourcen verbraucht haben, die uns für ein Jahr zur Verfügung stehen, ist für Luxemburg auf den 16. Februar datiert. Damit sind wir Vizeweltmeis­ter – hinter Qatar!9 Es ist also höchste Zeit, dass wir unser Verhalten, ja unsere Lebensweise ändern. Dazu müsste in den Schulen verstärkt Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) angeboten und den sogenannten MINT-Fächern10 ein größerer Stellenwert zukommen. Verhaltenspsychologen sind sich jedoch einig, dass Wissen und Einsicht allein bei den meisten Menschen nicht zu tiefgreifender und anhaltender Verhaltensänderung führen. In seinem neuesten Buch Schluss mit der Ökomoral fordert Michael Kopatz deshalb die Politik auf, intelligente Standards und Limits zu setzen.11 Ein oft zitiertes Beispiel, wie Standards Verhalten ändern können, ist das Rauchverbot in Gaststätten. In einem so kleinen Land wie Luxemburg ist es aber schwierig, im Alleingang Normen oder Standards für Industrie oder Landwirtschaft festzulegen, ohne dabei die Konkurrenzfähigkeit der Betriebe gegenüber dem Ausland aufs Spiel zu setzen. Also müssen strengere Umweltstandards auf europäischer Ebene erlassen werden.

Einige Bewegungen versuchen im Rahmen des bestehenden Wirtschaftssystems Lösungen zu entwickeln, die nicht ausschließlich auf das schlechte Gewissen des Konsumenten setzen. Die Kreislaufwirtschaft schlägt vor, die Produkte so zu konzipieren, dass ihre Komponenten sich kontinuierlich wiederverwerten lassen oder in den biologischen Kreislauf zurückgeführt werden können und so „ökoeffektiv“ sind.12 „Die Gemeinwohl-Ökonomie ist ein Wirtschaftsmodell, das die Extreme Kapitalismus und Sozialismus hinter sich lässt. Nicht das Maximieren des Gewinns ist das Ziel dieses Wirtschaftsmodells, sondern das Steigern des Gemeinwohls.“13 In Luxemburg hat sich die Gemeinde Mertzig der Gemeinwohlökonomie verschrieben. Der Fortschritt einer nachhaltig sich entwickelnden Gesellschaft kann nicht allein an der Steigerung des Bruttosozialproduktes (PIB) gemessen werden. Der Nachhaltigkeitsrat (CSDD) hat gemeinsam mit dem Wirtschafts- und Sozialrat (CES) ein Indikatorensystem entwickelt, um das Wohlbefinden der Bürger zu messen.14

Kollektive Neubesinnung oder unumkehrbare Entwicklung des Anthropozäns?

Nur durch einen Paradigmenwechsel, der einen veränderten Lebensstil impliziert, kann das Anthropozän zu einer Epoche werden, die ihre lebensfeindliche Entwicklung stoppt und Umweltgerechtigkeit auch für die kommenden Generationen sicherstellt. Verhaltensänderungen, Änderungen der Strukturen, verschärfte Standards und Neuausrichtung der Wirtschaft sind im vorherrschenden neo-liberalen System nicht einfach. Die Forderung der Jugendbewegung Fridays for Future, nicht das Klima, sondern das System radikal zu ändern, ist also verständlich. In seiner Umweltenzyklika Laudato si15 fordert Papst Franziskus, auch den Aspekt der Gerechtigkeit in die Umweltdiskussion aufzunehmen. Für uns bedeutet das eine andere Sichtweise auf unsere Bedürfnisse. Suffizienz ist eine neue Form der Bedürfnisbefriedigung. Dies setzt einen Wertewandel mit entsprechenden Rahmenbedingungen voraus, infolgedessen die Menschen aus einem geringeren oder gleichbleibenden materiellen Wohlstand einen höheren Nutzen ziehen. Stellt sich ein derartiger kollektiver Paradigmenwechsel angesichts der sich exponentiell häufenden Folgen des Klimawandels jedoch nicht viel zu langsam ein?

„Kollapsologie“ ist eine multidisziplinäre Wissenschaft, die den Zusammenbruch der aktuellen Zivilisation für unausweichlich hält.16 Die Steigerung der „Resilienz“ des Systems könnte einen eventuellen Zusammenbruch abfedern17. Ob die Entwicklung des Anthropozäns unumkehrbar zum Kollaps führt oder eine kollektive Neubesinnung den Kurs noch korrigieren kann, ist schwer vorauszusagen. Eigentlich ist es egal, ob wir die Gesellschaft resilienter machen wollen, um den Kollaps besser zu verkraften oder versuchen wollen, den Kollaps zu vermeiden. Das Rezept ist das gleiche: Wir müssen aufhören, uns selbst zu belügen18, die anthropozentrische, neo-liberale Vision der Welt aufgeben und alternative Lebensstile entwickeln und erproben. Machen wir es dabei wie Docteur Rieux aus La Peste von Albert Camus19: „Krempeln wir die Ärmel hoch und versuchen wir den Schaden zu begrenzen.“

  1. https://sustainabledevelopment.un.org/content/documents/5987our-common-future.pdf (alle Internetseiten, auf die in diesem Beitrag verwiesen wird, wurden zuletzt am 26. November 2019 aufgerufen).
  2. https://research.un.org/en/docs/dev
  3. https://www.undp.org/content/undp/en/home/sustainable-development-goals.html
  4. Plan national pour un développement durable 2019
  5. http://www.livingplanetindex.org/home/index
  6. https://www.ipcc.ch/publication/climate-change-and-biodiversity-2/ https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2019/08/SRCCL-leaflet.pdf
  7. Ernst Ulrich von Weisäcker/Anders Wijkman et al., Wir sind dran, Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus, 2017.
  8. https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13549839.2018.1428792
  9. http://data.footprintnetwork.org/?_ga=2.63259499.516844158.1573660459-1602721825.1573660459#/
  10. MINT-Fächer: Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technologie.
  11. Michael Kopatz, Schluss mit der Ökomoral, München, oekom verlag, 2019.
  12. William McDonough/ Michael Braungart, Cradle to Cradle: Remaking the Way We Make Things, New York, North Point Press, 2002.
  13. Christian Felber, Die Gemeinwohl-Ökonomie. Ein Wirtschaftsmodell mit Zukunft, München, Piper Verlag, 2018.
  14. Jean-Jacques Rommes, „Le bonheur chiffré“, in: forum 400, November 2019, S. 46-49.
  15. Papst Franziskus: Laudato si: die Umwelt-Enzyklika des Papstes, Freiburg i. Br., Herder Verlag, 2015.
  16. Yves Cochet, „L’effondrement, catabolique ou catastrophique ?“, Institut Momentum, 27. Mai 2011.
  17. Karin Paris/Norry Schneider, „Le silence de l’effondrement“, in: Sozialalmanach 2019, Schwéierpunkt: Qualitative Wuesstem, Luxemburg, 2019, S. 143-173, hier S. 165.
  18. Jean-Marc Gancille, Ne plus se mentir, Paris, Rue de l’échiquier, 2019.
  19. Albert Camus, La Peste, Paris, Editions Gallimard, 1947.

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